Sören Pellmann, 48, leitet mit Heidi Reichinnek die Linke-Fraktion im Bundestag. Seinen Leipziger Wahlkreis gewann er 2017, 2021 und 2025. Im Juli 2025 erlitt er einen Herzinfarkt und stieg im Oktober wieder in die Politik ein.
WELT: Herr Pellmann, im Juli hatten Sie einen Herzinfarkt. Macht Politik krank?
Sören Pellmann: Politik bringt erhöhte Risiken mit sich. Wenn man nicht aufpasst, kann es einen erwischen.
WELT: Wie erlebten Sie diesen Moment?
Pellmann: Ich war mit der Fraktion in Nordrhein-Westfalen. Nur zwei Termine am Tag und Pausen, eigentlich ein entspannter Tag. Abends im Hotel merkte ich Druck im Brustbereich, der Puls ging massiv nach oben. Meine Smartwatch zeigte einen Puls von 159 an. Keine Stunde nach meiner Ankunft in der Klinik lag ich auf der Intensivstation und war schon operiert. Über einen Katheter wurde mir ein Stent in eine Arterie gesetzt. Das war krass. Hätte ich die Anzeichen nicht ernst genommen, hätte ich die Nacht wohl nicht überlebt.
WELT: War Ihnen das sofort klar?
Pellmann: Auf der Intensivstation konnte ich kaum schlafen, da ging mir viel durch den Kopf. Wieso gerade ich? Da hat man plötzlich Angst ums Überleben. Man nimmt sich oft vor, gesünder zu leben, macht es dann aber doch nicht. Mit 48 Jahren hatte ich all das nicht auf dem Zettel. Ich rauche nicht und trinke selten Alkohol. Dennoch gab es, wie ich jetzt deutlich weiß, klare Risikofaktoren: Ungesunde, unregelmäßige Ernährung, zu wenig Bewegung und Stress.
WELT: Ein klassischer Politiker-Alltag: ständige Erreichbarkeit, Termine rund um die Uhr, öffentliche Beobachtung.
Pellmann: In Bundestags-Sitzungswochen hat man locker zehn, elf, zwölf Termine am Tag, keine Pausen, keine Auszeit. Man hetzt von Gespräch zu Termin zur Rede im Parlament. Durch soziale Medien ist das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen, gestiegen.
WELT: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Infarkt?
Pellmann: Ich mache 30 Minuten Mittagspause am Tag. Das bringt spürbare Entspannung. Termine lassen sich nur bedingt reduzieren, aber ich versuche, mich auch mal vertreten zu lassen. Ich starte nicht mehr um 6 Uhr, sondern wenn möglich erst um 8 Uhr. Außerdem gehe ich zwei bis vier Mal die Woche ins Fitnessstudio, esse nur noch einmal die Woche Fleisch. Und ich habe sehr gerne und am liebsten täglich Fleisch gegessen. Dadurch habe schon 22 Kilogramm abgenommen, meine Hosen und Hemden sind mir alle zu groß. Übergewicht und Bluthochdruck sollte man als Risikofakten ernst nehmen. Für viele ist das leider ein Tabu.
WELT: Der SPD-Politiker Kevin Kühnert begründete seinen Ausstieg aus der Spitzenpolitik auch mit psychischer Belastung. Peter Tauber (CDU) überlebte eine stressbedingt ignorierte Darm-Erkrankung nur knapp.
Pellmann: Viele Abgeordnete denken, das betreffe sie nicht. Krankheit ist in der Politik wie in der Gesellschaft ein Tabu, ob psychisch oder organisch, Abhängigkeit erst recht. Als ich wieder eingestiegen bin, erzählten manche, dass sie schon lange Tabletten gegen gewisse Krankheiten nehmen. Darüber redet keiner gerne.
WELT: Weil es heißt: Politiker sollen arbeiten, nicht „jammern“?
Pellmann: Ich habe lange überlegt, ob ich darüber öffentlich spreche. Im Büro gab es andere Meinungen: Du zeigst damit Schwäche, du wirkst nicht belastbar, der politische Gegner könnte das ausnutzen. Bis auf wenige Social-Media-Beiträge gab es nur Zuspruch und Genesungswünsche. Manche wollen sogar Abnehmtipps.
WELT: Ihre Co-Fraktionschefin Heidi Reichinnek teilte kürzlich nach einem Talkshow-Auftritt ein Foto des Masken-Raums. In ihrer Hand: eine Tablette gegen Übelkeit, eine gegen Migräne und eine gegen Kopfschmerzen. Hilft das?
Pellmann: Sie hat in einer Talkshow von ihrer Migräne-Erkrankung gesprochen – und einen heftigen Shitstorm erlebt: Das sei nur gespielt, um abzulenken, dass sie die Zahl, wie viele Menschen in Mietwohnungen leben, nicht wusste. Migräne ist gerade in Schubphasen schrecklich. Das sichtbar zu machen, finde ich wichtig und mutig.
WELT: Kürzlich wurde über die Allgegenwärtigkeit von Alkohol im Politik-Alltag diskutiert – und damit verbundene Gefahren.
Pellmann: Deutschland hat ein extremes Problem mit Alkoholkonsum. Politiker sind ständig umgeben von Alkohol. Man kann in Sitzungswochen von Empfang zu Empfang ziehen und Wein oder Bier trinken. Wenn man bei Abendempfängen ein Glas Wasser oder Saft trinkt, heißt es schnell: Der ist eine Spaßbremse. Oder: Der hat ein Problem mit Alkohol. Ich denke, es gibt eine hohe Dunkelziffer an Politikern, die eine Abhängigkeit entwickeln.
WELT: Sie haben viele junge Neuparlamentarier in der Fraktion. Haben Sie die darauf vorbereitet?
Pellmann: Die machen 46 von 64 unserer Abgeordneten aus. Das sind gestandene junge Erwachsene, ein Lehrer-Ton kommt da nicht so gut. Wir hatten ein Mentoring-Programm mit Ex-Abgeordneten. Da ging es um Kleinigkeiten wie Formulare, Parlamentsabläufe oder Tipps, welche Einladungen zu Abendessen oder Auslandsreisen man annehmen sollte, welche nicht. Und darum, wie man sich als Parlamentarier verhält.
WELT: Jenes Verhalten führte zu einigen Eklats: Junge Abgeordnete trugen Baskenmütze oder Palästina-Pullover im Plenum oder hielten Palästina-Flaggen hoch.
Pellmann: Die Mütze war jugendliche Sturheit, das kommt nicht mehr vor. Protest mit beschrifteten T-Shirts halte ich für unnötig und für einen Verstoß gegen die Geschäftsordnung des Parlaments. Als die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) aber die Regenbogenfahne am Reichstagsgebäude untersagt hat, fand ich es richtig, dass meine Fraktion wie die Grünen dagegen mit bunter Kleidung im Plenum protestiert hat.
WELT: Ihr Fraktionskollege Cem Ince geriet als „Parlamentarischer Beobachter“ auf einer Demonstration in Berlin in eine Auseinandersetzung mit der Polizei. Ince sagt, Polizisten hätten ihn angegriffen – die Polizei wiederum sagt, Ince habe Beamte geschlagen.
Pellmann: Es gibt eine Anzeige der Polizei gegen Ince, eine von Ince gegen die Polizei. Für beide Seiten gilt die Unschuldsvermutung. Ince war erkennbar als Parlamentarier mit roter Weste vor Ort. Grundsätzlich sehen wir eine Zunahme von Polizeigewalt, insbesondere in Berlin. Das auf Demos zu beobachten, finde ich richtig. Wir formulieren als Fraktion derzeit Regeln, welche Demonstration wir begleiten und welche nicht.
WELT: Und wo ist die Grenze?
Pellmann: Zum Jahrestag des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2023 gab es in diesem Jahr eine verbotene Demonstration am Alexanderplatz in Berlin, wo vier Linke-Abgeordnete als Beobachter waren. Im Aufruf wurden Hamas-Terroristen mit Paraglidern gezeigt und gefeiert. Da sollten wir nicht hingehen, weder als Abgeordneter noch als Teilnehmer. Da hätte ich eine Grenze gezogen.
WELT: Diese Grenzen scheinen in Ihrer Fraktion sehr unterschiedlich: Am Donnerstag sprach Ihr Kollege Ferat Koçak im Parlament von der „faschistischen Regierung in Israel“.
Pellmann: Der arabische Knesset-Abgeordnete Ayman Odeh hat in unserer Fraktionssitzung die gleichen Worte gewählt. Ich bin mit solchen wortgewaltigen Beschreibungen zurückhaltender. Die Angriffe auf den Gaza-Streifen und im Westjordanland sind rechtfertigende Indizien, die Regierung Benjamin Netanjahus so zu nennen. Ich würde es dennoch nicht tun.
WELT: Sie sprachen wiederum von Palästinensern, die „Geiseln in israelischer Haft“ seien.
Pellmann: In jedem Fall gibt es noch palästinensische Inhaftierte. Das sind keine Geiseln wie die israelischen Geiseln in Gaza, die als menschliche Schutzschilde gehalten wurden. Das würde ich Israel nicht unterstellen. Die Wortwahl war unglücklich.
WELT: Sie sind in einer chaotischen Woche zurückgekehrt: Die Bundesregierung zankt sich um die Gestaltung eines künftigen Wehrdiensts. Braucht es den?
Pellmann: Es braucht keinen Wehrdienst. Ich habe 1995 bewusst den Kriegsdienst an der Waffe verweigert und Zivildienst gemacht. Unser Land braucht eine Armee, die zur Landesverteidigung gut ausgestattet ist. Einen Zwangsdienst brauchen wir nicht. Auch ein Losverfahren wäre ungerecht und bringt verfassungsrechtliche Bedenken mit sich. Es muss bei Freiwilligkeit bleiben. Schwarz-Rot macht jedenfalls einen katastrophalen Eindruck.
WELT: In der CDU werden Stimmen laut, die ein Ende der „Brandmauer“ zur AfD fordern. Wie bewerten Sie das?
Pellmann: Die AfD ist gesichert rechtsextrem. Und mit Rechtsextremen kann man nicht zusammenarbeiten. Die Union muss ihr Verhältnis klären. Schon vor der Bundestagswahl nahm Friedrich Merz als Oppositionsführer die Stimmen der AfD in Kauf – also von wegen „Brandmauer“. In Kommunalparlamenten ist die längst gefallen, da stimmen AfD und CDU schon jetzt miteinander. Das erlebe ich im Leipziger Stadtrat ständig.
WELT: Merz wird kritisiert, weil er abnehmende Asylzahlen lobte und sagte: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem“ und müsse weiter Abschiebungen vornehmen. Wie sehen Sie das?
Pellmann: Diese Äußerung von Herrn Merz kritisiere ich scharf. Wenn es ein Ausrutscher gewesen sein soll, erwarte ich, dass sich der Bundeskanzler dafür entschuldigt. Andernfalls schadet er damit bewusst unserer Demokratie. Er befeuert damit nur den täglichen Rassismus gegen Andersdenkende und anders aussehende Menschen.
WELT: Eine andere Interpretation: Merz spricht ein Problem mit Kriminalität im öffentlichen Raum an. Nicht zuletzt Frauen berichten von Sorge um ihre Sicherheit.
Pellmann: Wir müssen Sorgen und Ängste ernst nehmen. Die tatsächlichen Zahlen bestätigen diese Sorgen nicht. Vielmehr ist dies ein durchschaubares Ablenkungsmanöver des Kanzlers vor den wirklichen Problemen in unserem Land: Kinderarmut, Arbeitslosigkeit oder Mietwucher.
Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Er berichtet zudem regelmäßig über Antisemitismus, Strafprozesse und Kriminalität.
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