In einem der bekanntesten Theater des Landes lädt der Ex-Grünen-Kanzlerkandidat zu "Habeck live". Zur ersten Ausgabe sind Ex-Verkehrsminister Wissing und Anne Will zu Gast. Den grünen Politik-Aussteiger treiben die ganz großen Fragen um.

Das Bühnenbild im ehrwürdigen Brecht-Theater Berliner Ensemble verspricht Vielschichtigkeit, Komplexität und Tiefgang. Vier riesige verschachtelte Gerüstbauten dienen der am Sonntagabend aufgeführten "Dreigroschenoper" als Kulisse, sind am Nachmittag aber bloßer Hintergrund der neuen Gesprächsreihe "Habeck live". Im locker sitzenden Anzug begrüßt der ehemalige Bundesminister und Grünen-Kanzlerkandidat die Zuschauer im vollbesetzten Saal zu seiner "Sonntagsmatinee". Fast zwei volle Stunden tauscht der Grüne Analysen, Thesen und Meinungen aus mit seinen Gästen, dem ehemaligen Verkehrsminister und Ex-FDP-Mitglied Volker Wissing sowie der früheren Polittalk-Moderatorin Anne Will. Das passt alles sehr gut, auch wenn Habeck nicht weniger ratlos wirkt als vor seinem Ausstieg aus der Politik.

Nicht einmal er selbst dürfte sich im Vorfeld Gedanken gemacht haben, ob Habeck der Rollenwechsel zum Gastgeber und Conferencier gelingt. Schon als Minister in Land und Bund hat Habeck gern und hemdsärmelig Gesprächsrunden moderiert und Mikrofone herumgereicht. Das kann der Grüne erst recht auf einer traditionell linken Theaterbühne wie dem Berliner Ensemble. Vor Publikum laut nachzudenken, liegt dem promovierten Philosophen, Autoren und Politiker im Abklingbecken ohnehin. Das fanden anfangs auch Nicht-Grüne faszinierend, bis es viele dann über hatten. Die Ticketnachfrage aber, so ist zu hören, war dennoch riesig.

Unfähige Ampel oder unregierbare Zeiten?

"Braucht die Demokratie den Notfall?", will Habeck von Wissing und Will wissen. Über die Gesprächsdauer hinweg bleibt unklar, wie das mit dem Notfall gemeint ist. Habeck scheint davon auszugehen, dass demokratisch gewählte Regierungen zuletzt nur noch unter großem äußeren Druck in der Lage gewesen seien, Ergebnisse zu produzieren. Darüber lässt sich streiten. Als Grundlage der Analyse muss vor allem die gemeinsam erlebte Zeit in der Ampelregierung herhalten. Doch weder Habeck noch Wissing gewähren neue Einblicke in das Innenleben dieser dysfunktionalen, letztlich krachend gescheiterten Regierungskoalition.

Dennoch wird ein Dissens zwischen Wissing und Habeck erkennbar in der Frage, woran die erste Dreiparteienregierung auf Bundesebene gescheitert ist. Etwas kryptisch formuliert der Ex-Verkehrsminister: "Wenn man rückblickend beobachtet, wie die einen oder anderen in den Fraktionen, aber auch in den Parteien und in der Regierung agiert haben, wird man vielleicht feststellen, dass nicht alle bedingungslos für den Erfolg gearbeitet haben." Es habe zu vielen in der Ampel an Überzeugung gefehlt, dieses Regierungsprojekt erfolgreich zu machen. Dass Wissing insbesondere die FDP meinen dürfte, ist angesichts seiner zerbrochenen Beziehung zur Partei anzunehmen.

Habeck dagegen ist "das individuelle Versagen von einzelnen Leuten in der Ampel" als Erklärung zu wenig. Wissings Appell ans Verantwortungsgefühl im Stil von "jetzt reißt euch mal zusammen", hält Habeck für "zu wenig". Angesichts der Vielzahl westlicher Demokratien, die ins Straucheln geraten oder schon im Fallen sind, sucht Habeck nach einem breiteren Erklärungsansatz, was zum Überleben der Demokratie zu tun sei. Weit scheint er seit seinem Ausscheiden aus der Politik nicht gekommen zu sein, womit er aber alles andere als allein dasteht. Spannend ist eher Habecks Anspruch an sich selbst, während Wissing jetzt als Unternehmensberater tätig ist.

Wissing optimistisch, Habeck suchend

Die Unterschiedlichkeit der Perspektiven ist auch in anderer Hinsicht interessant: Wissing, der gläubige Christ und langjährige Liberalenpolitiker mit seiner protestantischen Pflicht- und Verantwortungsethik richtet den Blick auf das Individuum. Dem Einzelnen in der Gesellschaft traut er aus einem grundsätzlichen Optimismus heraus viel zu.

Habeck dagegen zeigte sich nach der Bundestagswahl von den vielen Individuen im Land schwer enttäuscht. Unvergessen seine mit einiger Bitterkeit vorgetragene Wahlkampfbilanz: "Das Angebot war top, die Nachfrage war nicht so dolle." In den wenigen öffentlichen Auftritten seither schien der Flensburger sein - nach eigenen, sehr ambitionierten Maßstäben - Scheitern nicht verknust zu haben (norddeutsch für verarbeiten). Da wirkt Habeck an diesem Nachmittag im Theater schon deutlich aufgeräumter. Seine Suche nach den Meta-Gründen für die gesellschaftliche Grundstimmung steht ja noch am Anfang.

Will vermisst die Ernsthaftigkeit

Der zweite Gast, die Podcasterin Anne Will, fühlt sich mit beiden Perspektiven begrenzt wohl. Der exzellenten Journalistin in ihr fällt es schwer, die beiden Herren unter Verweis auf Pech und globale Entwicklungen aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Dass die Ampel derart krachend geplatzt ist und am Ende ihrer Regierungszeit sich eine katastrophale Stimmung im Land breitgemacht hatte, ist ja keine Kleinigkeit. "Ich möchte nicht, dass Sie jetzt endlos lang in Sack und Asche gehen", sagt Will, "aber ich vermisse und vermisste damals auch eine Ernsthaftigkeit des Umgangs mit einer derartigen Krisensituation, in der unser Land und die ganze Welt ist."

Sprich: Viele entscheidende Akteure hatten nach Wills Eindruck beim Regieren vor allem sich selbst und die Interessen ihrer Partei im Blick. "Auf Bundesebene hat man gemerkt, dass viele doch große Angst vor den Wählern und Wählerinnen hatten, vor dem nächsten Wahltermin auf Landesebene und dass diese Sachen den Regierungsalltag mitprägen", räumt Wissing ein. "Eigentlich sollte das überhaupt keine Rolle spielen." Menschen, die ihr ganzes Berufsleben in die fragile Branche Politik investiert haben, oder die sich einer politischen Mission verpflichtet fühlen, dürften nicht alle über die innere Freiheit eines Volker Wissing verfügen, dem Rechtsanwalt aus gutem Hause.

Wissen die Menschen, was los ist?

Über die externen Kräfte, die an der deutschen Demokratie zerren, herrscht derweil weitgehend Einigkeit in der Runde: Debatten vergiftende neue Medien in den Händen amerikanischer Techmilliardäre mit Nähe zur Trump-Regierung oder im Besitz von Russen und Chinesen treffen auf populistische Politiker und mit ihnen verbundenen Interessengruppen. Mehr Regulierung sei da wünschenswert, so Wissing und Habeck. Der Grüne meint, es müsse den Menschen vielleicht noch deutlicher vermittelt werden, welch bösartige Mächte da draußen immer kraftvoller am Glück Europas sägen. Ob zu Recht oder zu Unrecht: Habeck traut der Mehrheit nicht viel zu, misstraut ihr vielleicht sogar.

Erneut widerspricht Will: Den meisten Menschen sei sehr wohl klar, was in der Welt passiert und welche Bedrohungen dazugekommen seien. Dennoch seien die drängenden Sorgen der Wählerinnen und Wähler um den eigenen Lebensstandard das Thema, das Politik zuerst adressieren müsse. Ob aber gelingende Politik in diesen Zeiten überhaupt noch als solche zu den Menschen durchdringt, da scheint sich niemand der drei sicher zu sein. Will und Wissing beteuern dennoch ihren nicht weiter begründeten Optimismus, während der nach neuen Antworten suchende Habeck keine Auskunft zu seiner Stimmungslage geben muss. Im Berliner Ensemble stellt er jetzt die Fragen.

Am 30. November geht es weiter mit Gästen, die nicht dem Politbetrieb entstammen. Habeck spricht dann mit der Zukunftsforscherin Florence Gaub und dem Klimaforscher Anders Levermann. Bis dahin arbeitet er weiter am Dänischen Institut für Internationale Studien in Kopenhagen und soll zudem eine Gastprofessur an der US-Eliteuniversität Berkeley in Aussicht haben. Lauter Möglichkeiten, neue Antworten zu finden - und noch mehr Fragen.

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