Trotz der Rekrutierungsprobleme beschließt die ukrainische Regierung, die Ausreiseregeln für junge Männer zu lockern. Die Opposition in Kiew kritisiert den Schritt. Erste Zahlen deuten darauf hin, dass viele die neuen Regeln zur Ausreise nutzen.
Dreieinhalb Jahre nach Beginn des vollumfänglichen russischen Angriffskriegs steht die Ukraine vor vielen Herausforderungen, um aktuell ihre Verteidigungsfähigkeit und langfristig ihre Zukunft zu sichern. Die Personalprobleme der ukrainischen Armee sind allgemein bekannt, auch wenn sie häufig übertrieben werden: In allen Teilstreitkräften dienen fast eine Million Menschen - und immerhin gelingt es Kiew nach den öffentlich bekannten Zahlen weiterhin, monatlich 25.000 bis 30.000 Soldaten zu mobilisieren.
Gleichzeitig bleibt die demografische Lage des angegriffenen Landes schwierig. Obwohl es keine verlässlichen Statistiken dazu gibt, ist die faktische Bevölkerung, die sich auf dem von Kiew kontrollierten Gebiet aufhält, seit Februar 2022 um gut zehn Millionen Personen geschrumpft.
Derzeit wird in der Ukraine weiterhin erst ab 25 Jahren mobilisiert. Mit der Verhängung des Kriegsrechts am 24. Februar 2022 wurde dennoch die Ausreise für alle Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren verboten. Das hat sich Ende August geändert: Überraschend hat die ukrainische Regierung die Bestimmung für 18- bis 22-Jährige gelockert - ein Schritt, der lange undenkbar schien. Erst im Frühjahr 2024 hatte Kiew das Mobilisierungsalter von 27 auf 25 herabgesetzt. Schon damals wurde darüber gestritten, ob dies ausreicht.
"Immer weniger Jungen machen den Schulabschluss"
In der Diskussion über das Mindestalter wird meist darauf hingewiesen, dass es schon im besten Fall kaum möglich wäre, mehr als 200.000 junge Männer zwischen 18 und 25 einzuziehen. Experten zufolge ist diese Zahl ohnehin viel zu hoch angesetzt: Die schwierigen Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben in der Ukraine ein größeres demografisches Loch hinterlassen. Allerdings - ein weiteres Argument - dürfte das Durchschnittsalter in der ukrainischen Armee bei über 40 Jahren liegen. Das betrifft vor allem die Infanterie, die unverändert eine Schlüsselrolle in diesem Krieg innehat. Gerade hier werden jüngere Menschen gebraucht.
Deswegen war davon auszugehen, dass das Mobilisierungsalter mit der Zeit gesenkt wird, und zwar Schritt für Schritt, um die kriegsbelastete Bevölkerung nicht allzu sehr zu verärgern. Umso überraschender ist, dass die ukrainische Regierung nun einen völlig anderen Weg geht und die Grenze für junge Männer zumindest teilweise öffnet.
"In der Ukraine machen immer weniger Jungen den Schulabschluss", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj im August, als er die Lockerung des Ausreiseverbots ankündigte. Er wies darauf hin, dass sich die Zahlen seit zwei Jahren bedeutend verschlechtern. Ein Grund: Immer mehr Eltern versuchen, ihre 17-jährigen Söhne rechtzeitig aus dem Land zu bringen, bevor dies nicht mehr möglich ist. Denn trotz der Bemühungen von US-Präsident Donald Trump ist ein Ende des russischen Angriffskriegs nicht in Sicht.
Viele junge Männer nutzen die neue Regelung - und reisen aus
Selenskyj sagte, wenn die Ukraine junge Ukrainer im Land behalten möchte, müssten diese zuhause einen Schulabschluss machen und eine Ausbildung oder ein Studium in der Ukraine in Erwägung ziehen. Die neue Regel soll den Familien grundsätzlich mehr Bedenkzeit geben und von diesen mit Blick auf eine mögliche Herabsetzung des Mobilmachungsalters auch etwas Druck nehmen.
Es ist ein riskanter Schritt - und die ukrainische Regierung ist in ihren Versuchen, einen Mittelweg in diesem Dilemma zu finden, nicht zu beneiden. Noch ist unklar, ob sich die Ausreisewelle der 17-Jährigen verlangsamt. Erste Folgen seit Beginn des Experiments sind allerdings besorgniserregend. In den ersten Tagen nach dem Beschluss erklärte der ukrainische Grenzschutz, dass sich bei der Anzahl der Grenzüberquerungen nichts verändert habe. Inzwischen wird die Grenze etwa zu Polen von jungen Männern im entsprechenden Altersbereich jedoch zwölfmal häufiger überquert als zuvor.
Mehr noch: Unter jungen Männern in der Ukraine ist eine regelrechte Kündigungswelle zu beobachten. Besonders betroffen ist die Gastronomie, in der viele Studenten arbeiten. Betroffen sind aber auch systemrelevante Unternehmen wie Nowa Poschta, ukrainischer Marktführer im Bereich der Postsendungen.
Rekrutierungsbemühungen bislang nicht erfolgreich
Als "Schuss ins eigene Knie" bezeichnete daher der Verteidigungsexperte Roman Kostenko von der oppositionellen Partei "Stimme" den Schritt der Regierung. Es gehe um Männer, die nun größtenteils niemals in die Ukraine zurückkehren würden, sagt der Sekretär des Verteidigungsausschusses des ukrainischen Parlaments.
Ob Kostenko recht behält, wird sich zeigen. Die Bemühungen der ukrainischen Regierung, 18- bis 24-Jährige freiwillig in die Armee zu ziehen, haben sich bisher jedoch nicht als erfolgreich erwiesen. Anfang 2025 startete die Ukraine für diesen Altersbereich ein lukratives einjähriges Vertragsprogramm, welches mit mindestens umgerechnet 23.000 Euro dotiert ist. Mit Bonuszahlungen kann man sogar auf das Zweifache dieser Summe kommen - eine Riesensumme für die meisten Ukrainer. Hinzu kommt die Möglichkeit, die Armee nach einem Jahr zu verlassen, was für Mobilisierte nicht infrage kommt, ins Ausland zu reisen sowie weitere Vergünstigungen wie einen sicheren Studienplatz zu bekommen.
Nach unterschiedlichen Angaben haben sich in den ersten Monaten des Programms allerdings lediglich 400 bis 1500 Menschen gemeldet. Dies könnte daran liegen, dass lediglich Sturmbrigaden zur Auswahl standen, die an der vordersten Front im Einsatz sind. Im Sommer wurde das Angebot auf die Ausbildung der Drohnenpiloten ausgeweitet, allerdings unter den Bedingungen eines Zweijahresvertrags. Ob sich die Anmeldezahlen dadurch verbessert haben, ist noch unbekannt. Und ob die neuen Regelungen zur Ausreise junge Menschen dazu bewegen werden, sich freiwillig bei der Armee zu melden, steht ebenfalls in den Sternen. Doch wirklich gute Lösungen, um allen aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden, gibt es am Ende nicht.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke