Thorsten Frei, 52, ist seit Mai 2025 Chef des Bundeskanzleramts im Kabinett Friedrich Merz (CDU). Der CDU-Politiker sitzt seit 2014 im Bundestag, war dort Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion. Zuvor war er Oberbürgermeister von Donaueschingen (Baden-Württemberg).

WELT AM SONNTAG: Herr Frei, die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen war für die SPD ernüchternd. Erschwert dieses Ergebnis die Arbeit der Bundesregierung?

Thorsten Frei: Kommunalwahlen sind nicht die tägliche Koalitionspraxis. Hinter dem politischen Geräusch arbeiten die Ressorts geordnet zusammen: klare Frühkoordinierung, feste Zeitpläne, gemeinsame Prioritäten. Viele Vorhaben sind beschlossen oder im Parlament – jetzt kommt es auf die Umsetzung an: Investitionsbooster, Planungsbeschleunigung, Bürokratieabbau, Energie- und Standortpolitik sowie Reformen in den Sozialsystemen. Zugleich bringen wir die Projekte, die zum 1. Januar greifen sollen, fristgerecht durch Kabinett, Bundestag und Bundesrat.

WAMS: Auf welchen SPD-Kurs stellen Sie sich ein – eher Bärbel Bas oder Lars Klingbeil?

Frei: Wir arbeiten mit der SPD, wie sie ist. Innere Debatten klärt jede Partei für sich selbst. Entscheidend ist, dass am Ende tragfähige Lösungen stehen, die über einen Minimalkompromiss hinausgehen und das Land wirklich voranbringen. Das gelingt uns.

WAMS: Der Kanzler sagte, am Sozialstaat solle „gar nicht gekürzt“ werden. Hat Sie das irritiert?

Frei: Nein. Niemand will Bedürftigen Leistungen nehmen. Es geht darum, die Zahl der Menschen zu senken, die dauerhaft auf Transfer angewiesen sind. Beim Bürgergeld heißt das: Ziel ist nicht weniger Unterstützung für Berechtigte, sondern deutlich weniger Empfänger, weil mehr Menschen wieder arbeiten. Das ist fair gegenüber denen, die ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit sichern, und mit Blick auf unseren Etat ist das vernünftig. Wir brauchen zwei Dinge: Ausgabenbegrenzung und mehr Gerechtigkeit durch klare Leistungsanreize. „Fördern und fordern“ hält den Sozialstaat stabil.

WAMS: Reicht das Bürgergeld-Paket dafür aus? Ihr Generalsekretär spricht von „Radikalreform“.

Frei: Im Koalitionsvertrag ist ein ganzes Bündel verabredet: Rückkehr zum Vermittlungsvorrang; strengere Zumutbarkeitsregeln; stärkere Mitwirkungspflichten; kürzere Karenzzeiten beim Schonvermögen und bei großen Wohnungen; dazu die Rückkehr zum Begriff „Grundsicherung“. Bürgergeld darf kein Dauerzustand sein, sondern Hilfe in der Not.

WAMS: Bringt das nennenswerte Einsparungen?

Frei: Wir sprechen über Ausgaben von rund 50 Milliarden Euro jährlich – mehr als zehn Prozent des Bundeshaushalts, rechnet man Gesundheitskosten mit, ist es noch mehr. Dieser Bereich kann bei der Konsolidierung nicht außen vor bleiben. Entscheidend ist die Konsequenz der Umsetzung: Drehen wir nur leicht an den Schrauben, bleibt die Wirkung klein. Drehen wir mutiger, sparen wir Milliarden und stärken die Arbeitsanreize. Das ist am Ende eine Frage des politischen Mutes.

WAMS: Zählen die Unterkunftskosten zu diesen Stellschrauben?

Frei: Fiskalische Wirkung und Gerechtigkeit muss man zusammen denken. So entstehen zum Beispiel in sogenannten Hochmietregionen Schieflagen zulasten derer, die ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften. Der Tübinger Landrat hat voriges Jahr vorgerechnet: Eine vierköpfige Bürgergeld-Familie kommt dort aufgrund der hohen Mietkosten auf rund 3500 Euro netto – ein Niveau, für das ein Alleinverdiener ein ordentliches Brutto braucht. Das zeigt, wie sensibel die Unterkunftsfrage ist.

WAMS: Also bleibt die Pauschalisierung der Unterkunftskosten im Spiel?

Frei: Wir sind ja noch vor dem Gesetzgebungsverfahren. Alles, was der Koalitionsvertrag eröffnet, liegt auf dem Tisch – auch die Kosten der Unterkunft. Selbstverständlich will niemand Familien ohne Alternative aus Wohnungen drängen. Aber wir können Gerechtigkeitsprobleme nicht ignorieren, wenn Transferleistungen mit qualifizierter Erwerbstätigkeit konkurrieren. Eine Pauschale könnte Transparenz schaffen und Ausgaben begrenzen – mit Übergangsregelungen, Härtefallklauseln und regionaler Differenzierung. Verfassungsrechtliche Grenzen behalten wir dabei natürlich im Blick.

WAMS: Unionsfraktionschef Jens Spahn macht eine Vermögensungleichheit aus. Ist eine Reform der Erbschaftsteuer nötig?

Frei: Haushaltskonsolidierung gelingt nicht primär über neue Steuern. Wir sollten nicht vergessen, dass der Staat Rekordeinnahmen erzielt. Zudem gibt es große Sondervermögen. Es geht vielmehr um Prioritäten. Darüber hinaus ist die Erbschaftsteuer hoch komplex, und hohe Privatvermögen werden bereits besteuert. Problematisch wird es beim Generationenwechsel in Familienunternehmen. Eine harte Verschärfung würde oft zum Verkauf zwingen – ein Investor zum Beispiel mitten im Schwarzwald verlagert womöglich Know-how und Jobs.

Kapital, das als Steuer abgeführt wird, fehlt für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb ist die Erbschaftsteuer immer auch Strukturpolitik. Nicht zufällig scheiterten frühere Regelungen in Karlsruhe. Spekulationen schaffen Unsicherheit; Unternehmen brauchen aber Planbarkeit. Weniger Vermögensungleichheit erreichen wir vor allem dadurch, dass wir die Vermögensbildung begünstigen. Auch deshalb machen wir die Frühstart-Rente.

WAMS: Zwischen 2027 und 2029 klafft ein Loch von rund 170 Milliarden Euro im Haushalt. Wie soll das gestopft werden?

Frei: Ohne Zweifel gibt es dringenden Handlungsbedarf. So gehen wir für 2027 von einer Lücke von rund 30 Milliarden Euro aus. Da ist es unstrittig, dass die entsprechenden Entscheidungen jetzt getroffen werden müssen. Aber etwas anders sehe ich die Prognosen für 2028/29. Das sind Projektionen mit großer Unsicherheit. Daher brauchen wir beides: Einsparungen und Wachstum.

Nach der Rezession 2023/24 müssen Energie bezahlbarer, Genehmigungen schneller und Steuern wettbewerbsfähiger werden. Der Investitionsbooster umfasst unter anderem erweiterte Forschungsförderung, Sonderabschreibungen und die Senkung der Körperschaftsteuer ab 2028 von 15 auf zehn Prozent. Das kostet zunächst, wird aber Wachstum auslösen. Uns allen muss klar sein: Ohne Wachstum bekommen wir weder den Haushalt noch die Sozialsysteme nachhaltig stabil.

WAMS: Kritiker sagen: Netzentgelte, Stromsteuer, Körperschaftsteuer senken – das kostet sofort, wirkt aber spät.

Frei: Das ist eine etatistische Sicht. Höhere Steuersätze bedeuten nicht linear höhere Einnahmen. Die kurzfristigen Entlastungen – etwa 6,5 Milliarden Euro bei den Netzentgelten und 3,4 Milliarden durch Abschaffung der Gasspeicherumlage – sind eingeplant. Langfristig müssen wir die Erzeugung effizienter machen: netzdienlicher Zubau, marktnähere Vergütung, mehr Speicher und ein breiterer Technologiemix – auch Bioenergie, die planbare Leistung liefert.

WAMS: Das Ifo-Institut kritisiert, Schwarz-Rot verlagere Infrastruktur- und Digitalprojekte in schuldenfinanzierte Sondervermögen, während im Kernhaushalt Sozialausgaben steigen.

Frei: „Zusätzlichkeit“ ist im Koalitionsvertrag klar definiert: Mindestens zehn Prozent des Kernhaushalts – bereinigt um Verteidigungs- und finanzwirtschaftliche Ausgaben – fließen in Investitionen. Die Bereinigung ist sinnvoll, weil die Verteidigung stark wächst; sonst würde die Quote entwertet. Diese zehn Prozent sichern wir 2025 und 2026 verbindlich ab. Alles darüber hinaus wird über Sondervermögen finanziert – Infrastruktur, Digitalisierung, Klimainvestitionen. Das ist keine Trickserei, sondern Arbeitsteilung zwischen Kernhaushalt und Sondervermögen. Und dass der Sozialanteil im Kernhaushalt steigt, ist in einer alternden Gesellschaft zunächst wenig überraschend. Aber genau da setzen unsere Reformen an.

WAMS: Beim letzten Lindner-Etat waren 81 Milliarden für Investitionen eingeplant, im Klingbeil-Entwurf gut 60 Milliarden. Ist das „zusätzlich“?

Frei: Maßgeblich ist die verabredete Quote, nicht die Momentaufnahme einer Zahl. Wir halten uns an die Regeln des Koalitionsvertrags. Natürlich wünscht man sich immer mehr. Aber Koalition heißt, Vereinbartes einzuhalten. Die Investitionsquote wird erreicht – und zusätzliche Projekte laufen über die Sondervermögen.

WAMS: Im angekündigten Herbst der Reformen soll auch das Gesundheitssystem überarbeitet werden. Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) schlägt einen Steuerzuschuss für die gesetzlichen Krankenkassen vor, um die Beiträge stabil zu halten. Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) verweigert das mit der Begründung, damit wäre der Druck weg, durchgreifende Reformen anzugehen. Hat er recht?

Frei: Die Sozialversicherungsbeiträge haben einen Höchststand von 41,9 Prozent erreicht. Ziel war immer, die Schallmauer von 40 Prozent nicht zu durchbrechen. Das hat bis 2023 auch funktioniert, und nun müssen wir alles tun, um die Beiträge zu stabilisieren und im besten Fall zu senken. Wir geben in Deutschland jeden Tag mehr als eine Milliarde Euro für Gesundheit aus. Im europäischen Vergleich sind wir Spitzenreiter bei der Zahl der Krankenhausbetten. Wir haben sehr viel Pflegepersonal bezogen auf die Fallzahl. Wir versorgen mehr Erkrankungen stationär als andere Länder.

Und wir haben mehr Krankheitstage als andere EU-Länder. Wenn man dann dagegenhält, dass wir bei der Lebenserwartung und insbesondere bei den gesunden Lebensjahren im unteren Mittelfeld in Europa liegen, bleibt nur die Erkenntnis, dass Ausgaben und Wirkung im deutschen Gesundheitssystem in keiner guten Relation stehen. Die Lösung muss daher lauten, unser Gesundheitswesen besser und effizienter zu machen.

WAMS: Der CDU-Gesundheitspolitiker Hendrik Streeck fordert eine Praxisgebühr, um die Leute von Arztbesuchen abzuhalten. Wäre das eine sinnvolle Maßnahme?

Frei: Ich würde derzeit keinen Vorschlag vom Tisch nehmen. Aber wir sollten die Ergebnisse der Expertenkommission, die wir eingesetzt haben, zunächst abwarten. Sie soll im ersten Quartal des neuen Jahres erste Vorschläge vorlegen. Grundsätzlich halte ich es aber für absolut richtig, mehr Elemente der Selbst- und Eigenverantwortung ins System zu nehmen.

WAMS: Der Zeitplan für diese Kommission ist im Koalitionsvertrag in Erwartung einer schnellen wirtschaftlichen Erholung festgelegt worden. Die bleibt aber vorerst aus. Wäre es nicht von Anfang an klüger gewesen, sich bereits im Koalitionsvertrag auf eine Reform des Gesundheitssystems zu verständigen, anstatt nun eine Kommission damit zu befassen?

Frei: Hinter der Frage steckt die Annahme, dass es zu lange dauern könnte, bis konkrete Vorschläge vorliegen. Aber erstens ist eine Reform des Gesundheitssystems eine hochkomplexe Angelegenheit, die man nicht mit ein paar Absätzen in einem Koalitionsvertrag abhandelt. Und zweitens kann man dieser Regierung wirklich nicht den Vorwurf machen, zu langsam ans Werk gegangen zu sein. Kanzler Friedrich Merz hatte angekündigt, dass man bereits im Sommer merken müsse, dass sich im Land etwas zum Besseren verändere – und das hat es.

Wir haben ab den ersten Tagen dieser Regierung Maßnahmen verabschiedet, beispielsweise zur Begrenzung der Migration. Wir haben Gesetze aus dem Boden gestampft, die üblichen Fristen, wo es möglich war, verkürzt. Wir haben Gesetzesvorhaben über Fraktionsinitiativen vorangetrieben, um möglichst schnell Ergebnisse zu liefern. Wo es drängend war, wie beim Investitionsbooster zur Stabilisierung der Wirtschaft, haben wir unglaublich auf die Tube gedrückt. Andere Reformvorhaben haben und brauchen mehr Zeit.

WAMS: Bislang haben Sie die Regierungskoordinierung mit Blick auf die Unionsministerien geleistet und der Staatssekretär im Finanzministerium und Klingbeil-Vertraute Björn Böhning für die SPD-Ressorts. Nun stellt die CSU einen dritten Koordinator auf. War die Schwesterpartei mit Ihrem Einsatz nicht zufrieden?

Frei: Dafür gibt es eine unspektakuläre Erklärung: Innenminister Alexander Dobrindt hatte bislang nicht alle drei der ihm zustehenden Staatssekretärsposten besetzt. Das hat er nun nachgeholt. Sebastian Wüste hat unterschiedliche Aufgaben im Innenministerium, unter anderem wird er sich um die Koordinierung der CSU-Ressorts kümmern. Das macht die Abstimmung in einer Koalition leichter.

WAMS: Ist es nicht Ihre Aufgabe als Kanzleramtschef, die Unionsressorts zu koordinieren?

Frei: Die Koordinierung der Bundesregierung wird selbstverständlich durch das Bundeskanzleramt und dort durch den Chef des Bundeskanzleramts gemacht.

Robin Alexander ist stellvertretender Chefredakteur. Kürzlich ist sein neues Buch „Letzte Chance – der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie: Ein Report aus dem Innern der Macht“ erschienen. Einen Auszug können Sie hier lesen.

Nikolaus Doll berichtet über die Unionsparteien und die Bundesländer im Osten.

Jacques Schuster ist Chefredakteur der WELT AM SONNTAG.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke