Im Sommer 1942 testen die Alliierten, wie eine Invasion in Frankreich gelingen könnte. Doch der Überfall auf die französische Hafenstadt Dieppe verläuft ganz anders als geplant. Hitlers Truppen erteilen den britischen Militärstrategen eine schmerzhafte Lektion.

Die Sonne ist gerade erst aufgegangen, als die ersten Landungsboote den Kiesstrand von Dieppe erreichen. Kaum senken sich die Rampen, bricht ein Inferno los. Deutsche Maschinengewehre hämmern auf die herausstürmenden Kanadier ein. Granaten zerreißen Boote und Panzer, Soldaten stürzen schreiend ins Wasser.

Der Überfall auf Dieppe am 19. August 1942 ist der erste größere Angriff der Alliierten auf das von Nazi-Deutschland besetzte Frankreich. Ziel ist die kurzfristige Einnahme der Hafenstadt. Doch die "Operation Jubilee" scheitert katastrophal. Innerhalb weniger Stunden werfen die deutschen Besatzer die Angreifer zurück ins Meer.

"Die Landung bei Dieppe war ein erster Testlauf für eine später geplante Invasion in Nordfrankreich", sagt der Historiker Peter Lieb im Gespräch mit ntv.de. "Bis heute ist die Operation der Inbegriff eines militärischen Desasters. Sie hat den Alliierten schmerzlich vor Augen geführt, dass die Voraussetzungen für die Befreiung Westeuropas noch nicht erfüllt waren", so der Wissenschaftler vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.

Stalin drängt auf eine zweite Front

Die Idee einer Landung in Frankreich beschäftigt die britischen Militärplaner schon seit der Eroberung des Landes durch die Wehrmacht im Sommer 1940. Da an eine größere Invasion zunächst nicht zu denken ist, beschränkt sich London auf eine Strategie der Nadelstiche entlang der Küste. So erobern britische Fallschirmjäger im Februar 1942 ein wertvolles Radargerät in der Normandie und schaffen es nach England. Einen Monat später sprengen Kommandosoldaten die Trockendocks in St. Nazaire.

Für Josef Stalin sind solche Einsätze nicht genug. Immer wieder drängt der sowjetische Diktator seine Verbündeten zur Eröffnung einer zweiten Front im Westen, um die Ostfront zu entlasten. Zudem machen Gerüchte die Runde, der Kremlherrscher könnte sich mit Adolf Hitler auf einen Separatfrieden einigen. Ein solches Szenario will der britische Premier Winston Churchill unbedingt verhindern. Mit der "Operation Jubilee" will er ein Zeichen setzen.

Die Wahl der Militärs fällt auf Dieppe. Die Hafenstadt in der Normandie liegt in Reichweite der britischen Jagdflieger und wird als schwach verteidigt eingeschätzt. Zudem scheinen die Strände dort ideal. Geplant ist, Dieppe zu besetzen, mindestens einen Tag zu halten und sich anschließend zurückzuziehen.

Mit der Landung wollen die Alliierten Erkenntnisse für eine spätere Invasion gewinnen und die deutsche Verteidigung testen. "Eine neuere Forschungsarbeit vertritt zudem die These, dass die Briten in Dieppe eine Enigma-Chiffriermaschine vermuteten, die sie erbeuten wollten", sagt Lieb.

Landungsflotte stößt auf deutschen Konvoi

Den Plänen zufolge sollen zunächst Kommandoeinheiten die Küstenbatterien ausschalten. Um den Gegner zu überraschen, wird im Vorfeld auf Luftbombardements verzichtet. Für den Hauptangriff wird die 2. kanadische Infanteriedivision ausgewählt. Die Einheit ist solide ausgebildet, hat jedoch keinerlei Kampferfahrung. Insgesamt bieten die Briten 6100 Mann auf. Ihnen gegenüber steht ein deutsches Regiment mit 1500 Soldaten.

Schon der Beginn der Operation steht unter ungünstigen Vorzeichen. Ein Teil der Landungsflotte stößt am frühen Morgen auf einen feindlichen Konvoi. Zwar schalten die britischen Schiffe diesen schnell aus, doch die Deutschen können die Küstenverteidiger noch per Funk warnen. Das Überraschungsmoment ist verloren.

Den Kommandotrupps der ersten Welle gelingt es, zwei deutsche Batterien unschädlich zu machen. Allerdings startet der Hauptangriff 20 Minuten zu spät, die künstlich erzeugte Nebelwand hat sich da bereits verzogen. Ohne Sichtschutz geraten die Kanadier am Strand in ein mörderisches Abwehrfeuer. Der britischen Aufklärung sind zahlreiche deutsche MG-Nester in den Klippen und Häusern entgangen, die die Angreifer nun mit tödlichen Salven eindecken.

Hilfe aus der Luft bleibt aus, da deutsche Jagdflieger die Royal Air Force nicht zur Entfaltung kommen lassen. Auch von See her gibt es keine Feuerunterstützung: Schwere Kriegsschiffe fehlen im alliierten Flottenverband. "Uns tat der Gegner sehr leid, weil er keine Chance hatte", sagt später ein deutscher Offizier. "Er war wie eine Maus, die in der Falle saß."

Um 11 Uhr geben die Briten auf und blasen zum Rückzug. Nur rund 2500 alliierte Soldaten gelingt die Rückkehr ins Vereinigte Königreich. Alle anderen Soldaten sind tot oder in Kriegsgefangenschaft geraten. Die deutschen Verluste belaufen sich auf rund 600 Tote und Verwundete.

Hitler erlässt "Kommandobefehl"

"Die NS-Propaganda bauschte den Abwehrerfolg zur angeblichen Vereitelung einer Großinvasion auf", erklärt Lieb. "Das war natürlich maßlos übertrieben." Hitler fühlt sich durch den alliierten Fehlschlag bestätigt. Er glaubt, seine Küstenbefestigungen seien unüberwindbar. Der Einsatz britischer Spezialeinheiten ruft beim Diktator jedoch heftige Reaktionen hervor.

"Nach den Kämpfen finden deutsche Soldaten am Strand von Dieppe ein britisches Handbuch über zweifelhafte Fesselungstechniken, die man in Berlin als völkerrechtswidrig einstuft", sagt Lieb. Wenige Wochen später werden deutsche Soldaten auf der Kanalinsel Sark gefesselt und erdrosselt aufgefunden.

Daraufhin erlässt Hitler am 18. Oktober den berüchtigten "Kommandobefehl". Dieser besagt, alliierte Kommandosoldaten sofort nach der Gefangennahme zu erschießen oder dem Sicherheitsdienst zu übergeben. "Der 'Kommandobefehl' war später ein wichtiger Anklagepunkt in den Nürnberger Prozessen und ist einer der zentralen verbrecherischen Befehle der Wehrmacht", so Lieb.

Für die Alliierten ist Dieppe eine bittere Lektion. Die Operation zeigt, dass befestigte Häfen nicht vom Meer her erobert werden können, dass Landungen massive Feuerunterstützung benötigen und dass eine Invasion in Nordfrankreich noch nicht möglich ist.

Gut ein Jahr später sammeln die Alliierten mit den Landungen in Nordafrika, auf Sizilien und in Italien weitere Erfahrungen. Am 6. Juni 1944 betreten alliierte Soldaten im Rahmen der "Operation Overlord" erneut normannischen Boden. Der sogenannte D-Day eröffnet die lang ersehnte zweite Front und läutet das Ende des nationalsozialistischen Regimes ein.

Die in der "Operation Jubilee" stark getroffene 2. kanadische Infanteriedivision kehrt später nach Dieppe zurück. Auf dem Landweg befreit der Verband am 1. September 1944 die Stadt endgültig von der deutschen Besatzung.

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