Narwa ist eine graue, etwas verregnete Stadt im äußersten Osten Estlands. Sie liegt dort, wo Europa aufhört und Russland beginnt. Knapp 60.000 Menschen leben hier, viele in alten, sowjetischen Plattenbauten, mehrere Autostunden von der Hauptstadt Tallinn entfernt – und nur 100 Meter von Russland. Die Stadt endet abrupt am gleichnamigen Fluss.

Ein Patrouillenboot auf schwarzem Wasser schippert umher. Irgendwo in der Mitte des Flusses liegt die Ostgrenze von Estland, der EU, der Nato. Dahinter liegt Russland, das Städtchen Iwangorod. Man sieht ein paar Jogger, abblätternden Putz, ein kleines Mädchen schwenkt auf der anderen Seite eine sowjetische Fahne.

Die Narwa überspannt die „Brücke der Freundschaft“, ein Grenzübergang, der bis heute in Betrieb ist. Russland ist hier so greifbar, dass man den Menschen auf der anderen Seite etwas zurufen könnte. Doch ideologisch und politisch ist das andere Ufer seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in weite Ferne gerückt.

Die Nachbarschaft sei seitdem sehr kompliziert geworden, erklärt Katri Raik, Bürgermeisterin von Narwa und ehemalige Innenministerin Estlands. „Immer wieder gibt es Provokationen: Manchmal ist das GPS gestört. Über Nacht verschwinden Bojen im Fluss, die die Grenze markieren.“ Manchmal seien Schussgeräusche oder Explosionen zu hören. Die Narwa ist zur harten Nato-Außengrenze geworden, die estnische Armee plant in der Nähe der Stadt eine Militärbasis.

Die Menschen sind hin- und hergerissen zwischen der EU und Russland, dem sie sich kulturell sehr verbunden fühlen. Denn 89 Prozent der Einwohner haben russische Wurzeln – damit gilt Narwa als russischste Stadt der EU. Fast alle Bewohner sprechen Russisch, ein Drittel der Einwohner hat den russischen Pass, viele sprechen kein Estnisch.

Für die Regierung in Tallinn, die gegenüber Moskau klare Kante zeigt, ist diese Minderheit ein heikles Thema. Denn wenn die Russen sich von der Zentralregierung nicht vertreten fühlen, stiftet das Unruhe im Land. Immer wieder gibt es Proteste, etwa wenn das Bildungsministerium die russische Sprache an Schulen zurückstellt oder sowjetische Denkmäler entfernt werden.

An diesem Tag ist Russland in Narwa noch präsenter als sonst. Denn auf der anderen Flussseite wird der „Tag des Sieges“ gefeiert. Der 9. Mai, der das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert, ist einer der wichtigsten Feiertage in Russland.

In Wladimir Putins Russland hat der „Tag des Sieges“ aber keine reine Gedenkfunktion mehr. Er ist ideologisch aufgeladen, man erinnert an den Triumph von damals und spornt die Nation an, auch den Ukraine-Krieg zu gewinnen. Am Siegestaumel sollen auch die Russen auf estnischer Seite teilhaben dürfen – weswegen in Iwangorod eine Festbühne und zwei große Bildschirme aufgestellt wurden.

„Wir erinnern uns“ und „Danke den Großvätern“ verheißen große Plakate. Daneben prangt das berühmte Weltkriegsfoto eines Soldaten, der die Sowjetflagge auf dem Reichstag hisst. Bühne und Bildschirme stehen direkt am Fluss, so sind sie vom estnischen Ufer aus hervorragend zu sehen.

Zehn Uhr morgens. Der Tag ist sonnig und kalt. Auf der estnischen Seite haben sich Dutzende Schaulustige versammelt und blicken erwartungsvoll nach Russland. Ein Kran hebt Lautsprecher in die Luft, dann beginnt auf der Riesenleinwand die Liveübertragung der Militärparaden in Moskau. Das Glockengeläut des Kremls klingt über den Fluss, dann erklingt die russische Nationalhymne. Wladimir Putin betritt die Bühne, in Großaufnahme dankt er der Armee für ihren patriotischen Einsatz. Damals wie heute.

„Nur einmal jährlich sehen wir uns hier am Fluss…“

Die 73-jährige Galina ist aus Tallinn angereist. Sie hat ihr Gesicht unter einem Kopftuch versteckt; ihren vollen Namen möchte sie nicht veröffentlicht sehen. Ihre Kindheit verlebte sie zu Sowjetzeiten auf der anderen Flussseite, unweit der Narwa. „Ich habe viele Verwandte in Sankt Petersburg. Sie reisen heute an. Wir werden uns von Ufer zu Ufer zuwinken. Und weinen. So viele Jahre haben wir uns nicht mehr getroffen. Nur einmal jährlich sehen wir uns hier am Fluss…“

Galina ist ethnische Russin, aber mit ihrem estnischen Pass ist es kompliziert geworden, nach Russland zu reisen. Kopfschüttelnd blickt sie auf den Fluss, erzählt, als Kind sei sie mit Freundinnen manchmal hinübergeschwommen, es sei ja alles ein Land gewesen.

Auf der Leinwand drüben sind jetzt Panzer zu sehen, die über den Roten Platz fahren. Tausende Soldaten stehen Spalier. „Hurra!“, brüllen sie, „Hurra!“, das Echo hängt über dem Wasser. „Wer Schuld hat? Ich weiß es nicht. Es ist kompliziert geworden. Alle haben Schuld. Ich weiß nur: Ich bin gegen den Faschismus!“, murmelt Galina gedankenversunken.

Über den Schaulustigen thront die Hermannsfestung am estnischen Ufer, eine riesige Steinburg, die vor hunderten Jahren die Dänen bauten. An der steilen Fassade hängen Ukraine- und Europaflaggen. Daneben ein riesiges Porträt, halb Putin, halb Hitler. „Putler – war criminal“ steht in blutigen Buchstaben darüber. „Furchtbar! Soll sich keiner wundern, wenn sie darauf schießen von drüben“, ärgert sich Galina.

Auf der Promenade patrouillieren Polizeibusse. Dmitrij, einer der Polizisten, muss Ausschau nach verfassungsfeindlicher Symbolik halten: Russland- oder Sowjetfahnen, orange-schwarze St.-Georgs-Bändchen, die man in Russland am Tag des Sieges trägt. All das ist hier verboten. Wer sie dennoch zeigt, kann hohe Geldstrafen kassieren.

Doch auch am anderen Ufer ist man wachsam: Überall ist Stacheldraht, Patrouillen laufen am Ufer umher, auf einem Steinturm stehen schwer bewaffnete Soldaten, mit Ferngläsern starren sie Richtung EU. Über ihnen weht die russische Flagge am Himmel.

Etwas weiter sitzen Aleksej und Maria. Die beiden sind Anfang 30, Maria ist stark geschminkt, trägt eine riesige Sonnenbrille und nippt an einem Becher Automatenkaffee. „Absurd das alles! Wo soll das noch hinführen?“ Der Krieg und die Sanktionen, das sei alles sinnlos. „Im Grunde ist mir Russland egal. Aber trotzdem: Wir haben gestern Blumen niedergelegt, im Gedenken an die gefallenen Soldaten. Heute kann man dafür bestraft werden in Narwa. Das soll Demokratie sein?“

Auch Aleksej schüttelt den Kopf. Früher sei er regelmäßig nach Sankt Petersburg gefahren, das näher an Narwa liegt als Tallinn, zum Shoppen, zum Feiern. Oder zum Bier holen, wenn in Estland die Läden schon geschlossen hatten. Der Grenzübertritt war reine Formsache. „Kaum zu glauben, dass das erst ein paar Jahre her ist.“

Drüben füllt sich die Uferpromenade schnell, in Russland ist heute landesweiter Feiertag, im Gegensatz zu Estland. „Wir werden immer kämpfen! Gegen Faschismus. Gegen Antisemitismus. Gegen Russophobie“, wettert Putin per Livestream über den Fluss. In Narwa schieben Mütter Kinderwägen über die Flusspromenade, kleine Kinder spielen Fangen. Alles wirkt verblüffend normal.

Am Rathausplatz, nur wenige 100 Meter vom Ufer entfernt, ist Russland auf einmal weit weg. Spaziergänger halten kleine EU-Fähnchen in den Händen. Auf einer großen Bühne spielt das Blasorchester einer örtlichen Schule, darüber steht „Euroopa päev“, Europatag. Nirgendwo ist mehr kyrillische Schrift zu sehen, alles ist auf Englisch und Estnisch. Obwohl die ganze Stadt Russisch spricht.

Der Europatag wird heute in ganz Estland gefeiert und ist eine Gegenveranstaltung zum russischen Siegestag. Neben der Bühne ist eine Festwiese, auf der eine Hüpfburg und bunte Zelte stehen. Dort wird für Ausflugsziele in der Umgegend geworben. Andere laden zu Estnisch-Sprachclubs, werben für die EU oder laufen in traditioneller, rotblau bestickter Kleidung herum.

Und doch wirkt die fröhliche Fassade instabil. Polizei und Armee werben um Nachwuchs. Ein Stand informiert, wie man ohne Strom oder Trinkwasser überlebt, wie man sich im Katastrophenfall verhält. Zwischen den Zeilen ist damit der Kriegsfall gemeint.

Angelina und Lisa sind 17 und kommen gerade aus der Schule. Jetzt ist Wochenende, sie bummeln durch die Stadt, schauen sich die beiden so grundverschiedenen Events an. Die beiden gehen in die elfte Klasse, sehen ihre Zukunft in Europa. Sie wollen weg aus Narwa, vielleicht in die Hauptstadt, vielleicht auch nach Zentraleuropa.

Lisa war noch nie in Russland, obwohl sie zeitlebens so nah dran war. Jetzt schlendern sie zwischen Sieges- und Europatag hin und her. „Wir ergreifen keine Partei. Vielen geht es hier genauso. Aber wir sind Russen. Natürlich wollen wir auch unserer Vorfahren gedenken.“ Schließlich seien doch so viele gestorben.

Zurück zur Uferpromenade, wo es um 17 Uhr richtig losgeht. Hunderte Menschen haben sich versammelt. Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Väter, manche winken.

Auch der Platz vor der Festbühne in Russland ist brechend voll. Ein Redner eröffnet das Siegeskonzert. „Liebes Iwangorod, liebes Narwa“, er grüßt hinüber nach Estland, von der Uferpromenade verhaltenes Klatschen. Andere winken mit EU-Fahnen. Dann tanzen junge Frauen auf die Bühne, behängt mit roten und gelben Stoffen. Jemand zupft an einer Balalaika.

Gleichzeitig betritt Anne Veski, eine der bekanntesten Sängerinnen Estlands, die Europabühne. Es ist kein Zufall, dass die Konzerte auf beiden Seiten um 17 Uhr beginnen. Die Menschen in Narwa sollen vor die Wahl gestellt werden: Entscheidet euch, wohin ihr geht. Europa oder Russland. Doch Narwa scheint sich nicht entscheiden zu wollen.

Julius Fitzke ist Volontär an der Axel Springer Academy for Technology and Journalism.

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