Der altehrwürdige Justizpalast in Rom wird am Mittwoch Schauplatz des juristischen Tauziehens um die Auslieferung eines mutmaßlichen Saboteurs der Nord-Stream-Pipelines. Dort, wo das höchste Gericht Italiens, der Kassationsgerichtshof, seinen Sitz hat, entscheidet sich, ob der in der Nacht zum 21. August in einer Bungalow-Anlage nahe der italienischen Adria-Stadt Rimini verhaftete Ukrainer Serhii K. nach Deutschland ausgeliefert wird. Ein Gericht in Bologna hatte der Auslieferung zugestimmt, doch Serhii K. ging in Berufung.

Die Bundesanwaltschaft, unter deren Federführung Bundespolizei und Bundeskriminalamt die Hintergründe des Anschlags ermitteln, hofft, dass der 49-jährige ehemalige Offizier der ukrainischen Armee bald überstellt wird. Sie wirft ihm vor, zur Crew der in Rostock-Warnemünde gecharterten Segelyacht „Andromeda“ gehört zu haben, die verdächtigt wird, im September 2022 Sprengsätze an den Gasröhren von Nord Stream 1 und 2 platziert zu haben. Serhii K. soll der Koordinator der Aktion gewesen sein. Er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis ein.

Sein Anwalt Nicola Canestrini erhebt gegen die deutschen Behörden schwere Vorwürfe. „Wenn der Verteidigung die Akteneinsicht verwehrt wird, wenn über Haftbedingungen gelogen und über die militärische Natur der Taten geschwiegen wird, hört die Justiz auf, Wahrheit zu suchen – und dient nur noch der Macht“, sagte er WELT.

Kritik an Deutschland kommt in dem Fall auch aus Polen. Dort war Ende September der ukrainische Tauchlehrer Wolodymyr S. nahe Warschau festgenommen worden. Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatte es wegen Wolodymyr S. schwere Verstimmungen zwischen beiden Ländern gegeben, weil er trotz eines vom deutschen Bundesgerichtshof ausgestellten Europäischen Haftbefehls in der Ukraine untertauchen konnte. Ein mit den Ermittlungen vertrauter Beamter hatte damals den Vorwurf erhoben, dass Polen die Aufklärung sabotiere.

Der Ukraine-Beauftragte der polnischen Regierung, Paweł Kowal, sagte WELT, dass nicht derjenige, der Nord Stream gesprengt habe, das Problem sei, sondern derjenige, der den Bau der Gaspipelines verteidige. „Für mich ist die Sache klar. Es herrscht Krieg. Russland ist der Aggressor. Nord Stream ist ein Instrument des Aggressors.“ Er sei überzeugt, dass es Zeit sei, „dass das Europäische Parlament einen Ausschuss einsetzt, um den russischen Einfluss beim Bau der Nord-Stream-Pipelines und die Unterwerfung Europas unter den russischen Energie-Druck zu untersuchen.“

Ähnlich hatte sich bereits Polens Regierungschef Donald Tusk geäußert und sich gegen eine Auslieferung des Verdächtigen an Deutschland ausgesprochen. Und Jacek Czaputowicz, der unter der PiS-Regierung Außenminister war, erklärte gegenüber WELT, dass in Polen allein schon die Erhebung strafrechtlicher Vorwürfe wegen der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines für Erstaunen sorge. „Wir sind der Ansicht, dass die Ukraine das Recht hat, sich zu verteidigen, indem sie russische Energieinfrastrukturen auf russischem Territorium, im Schwarzen Meer, in der Ostsee oder durch die Zerstörung der Schattenflotte in anderen Gewässern zerstört.“

Die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls werde aber vom Gericht getroffen, es sei daher schwer vorherzusagen, wie diese ausfallen werde. „Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob die festgenommene Person an den beschriebenen Handlungen beteiligt war, dennoch trifft die Forderung nach ihrer Auslieferung den ukrainischen Staat direkt. Angriffe auf die russische Energieinfrastruktur während des Krieges sollten als Ausübung des Rechts auf Verteidigung und nicht als kriminelle Handlungen angesehen werden“, sagte Czaputowicz.

Den Bau der Pipelines sieht auch der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, kritisch, verurteilt aber den Anschlag. „Nord Stream folgte der Grundidee: Gas als billige Übergangslösung für die grüne Transformation. Leider wurde die dadurch entstandene Abhängigkeit von Russland viel zu lange sträflich unterschätzt, trotz Warnungen vor allem aus Polen. Das ist allen Europäern eine Lehre, die deutsche Solidarität mit Polen spiegelte in diesem Punkt nicht die enge Freundschaft unserer Länder ausreichend wider“, sagte er WELT. Der Sabotageakt an den Nord-Stream-Leitungen müsse davon aber völlig getrennt gesehen werden. „Politische Entscheidungen treffen im demokratischen Europa die gewählten Politiker, keine Saboteure mit Sprengstoff.“ Der Rechtsstaat werde wie bislang kühl und von politischen Abwägungen losgelöst die Verfolgung der Täter vorantreiben.

Falls den Ukrainern in Deutschland der Prozess gemacht werden sollte, wird er voraussichtlich in Hamburg stattfinden. Das Hanseatische Oberlandesgericht ist für Staatsschutzverfahren in Mecklenburg-Vorpommern zuständig, wo die Pipelines enden.

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