Mahdi K. schaut gerade Netflix, als ihn die Nachricht seiner Freunde per WhatsApp erreicht: Ein paar Straßen weiter sei der Drogenhändler Ayhan B. aufgetaucht. In ihrem Viertel, in Köln-Holweide. Mahdi springt auf, schnappt die mit acht Patronen geladene Pistole und marschiert zu dem Autohaus, vor dem Ayhan B. gesehen worden war. Gegen 21.30 Uhr erblickt er Ayhan B. und dessen Begleiter Ali auf dem Bürgersteig, wenige Meter vor sich. Er zückt die Pistole. Und schießt mindestens viermal. Ayhan B. fällt blutüberströmt um. Bis zu zwei Liter Blut verliert er laut Notfallmedizinern (die ihn dennoch retten).
In dem Moment fährt ein Auto vor, die Fenster heruntergefahren. Mahdis Freunde Philip E., Ayhan A. (nicht zu verwechseln mit Opfer Ayhan B.) und zwei Unbekannte sitzen darin. Durch die Fenster brüllen sie den Opfern „Ihr Hurensöhne“ und anderes zu. Dann verschwinden Wagen und Schütze – soweit der Bericht der Staatsanwaltschaft.
Das Milieu, dem die Gewaltexzesse entspringen
Seit September läuft am Kölner Landgericht der Prozess gegen fünf Tatbeteiligte wegen versuchten Mordes oder Beihilfe dazu – kaum bemerkt von der Öffentlichkeit. Unmittelbar nach der Tat am 12. Januar berichten nicht nur Lokalmedien über das Attentat. Dann aber versiegt das Interesse. Konflikte im Drogenmilieu? Mordversuche auf offener Straße? In Köln ist man Härteres gewöhnt. Im schlagzeilenträchtigen „Drogenkrieg von Köln“ war es 2024 sogar zu Folter vor laufender Kamera, zu Entführung, Geiselnahme und einer Serie von Sprengstoffanschlägen in kürzester Zeit gekommen. Das war außergewöhnlich.
Gewalttaten zwischen Dealern hingegen oder große Drogenfunde werden in der Domstadt wöchentlich bekannt. Der Prozess gegen Mahdi K. und seine Freunde beleuchtet aber nicht diesen Drogenkrieg, sondern vor allem das Milieu, in dem solch spektakuläre Gewaltexzesse erst erblühen; jenes Milieu also, das dem Drogenhandel personellen Nachschub verschafft und diesen in der Breite erst ermöglicht. Seit 2022 zählte die Polizei immerhin 420 überführte Kriminelle in Köln. Vom Dunkelfeld ist da noch nicht die Rede.
Die drei Hauptangeklagten errichteten in Köln-Holweide laut Anklage einen florierenden Drogenhandel (vor allem mit Cannabis). Per WhatsApp verschickten sie regelmäßig das aktuelle Warenangebot samt Preisliste an ihre Kunden. Und schufen ein kriminelles Miniunternehmen mit Hierarchie: Es gab laut Zeugen „Köpfe“, „Läufer“ und „Hunde“ – Minderjährige für niedere Dienste, die aber Aufstiegschancen besaßen. Blickt man auf die international organisierte Drogenkriminalität, bewegte sich die gesamte Bande indes auf der untersten Hierarchiestufe. Zu den Strippenziehern krimineller Handelsketten in den Niederlanden oder gar in Dubai hatten sie keinerlei Kontakt. Und wie das auf der unteren Ebene verbreitet ist, konsumierten sie auch selbst Drogen. Sie waren eben eine gewöhnliche Dealergruppe – die auf einen ungewöhnlichen Trend hinweist: Die Täter werden jünger und gewaltbereiter.
So waren die Hauptangeklagten zur Tatzeit erst 18 bis 22 Jahre alt. Im Gerichtssaal schauen sie fast artig aus in ihren meist blütenweißen Hemden. Doch sie sollen schwerste Verbrechen auf dem Kerbholz haben. Und: Sie trugen die Gewalt völlig bedenkenlos in die Öffentlichkeit. Als Mahdi K. die (laut Staatsanwalt von der ganzen Gruppe geplanten) Schüsse abfeuerte, hielten sich mehrere Unbeteiligte in der Nähe auf, ein älteres und stark erschrockenes Ehepaar saß direkt neben dem Tatort im Auto, ihr Wagen wurde getroffen. Auch sonst hantierten die Jungkriminellen freizügig wie Revolverhelden mit ihrer Waffe. Als zwei der Verdächtigen im Februar festgenommen wurden, fielen sie der Polizei nur deshalb auf, weil sie zu schnell auf einem E-Scooter durch die Stadt gebraust waren. Ihre scharfe Pistole hatten sie auf dem Scooter dabei.
Schwerer Raub schon mit 15 Jahren?
Kurz zuvor sollen Ayhan A. und Mahdi K. zudem zwei Jugendliche aus ihrem Anhang zu einem Juwelierraub angestiftet haben, dessen Beute sie offenbar zu verkaufen suchten. Auch hier stach wieder beides ins Auge: Gewalt und Jugend. Die beiden Tatverdächtigen sind 15 und 16 Jahre alt. Offenbar raubten sie in einem Juweliergeschäft kaltschnäuzig Schmuck im Wert von über 38.000 Euro – während direkt daneben, auf dem angrenzenden Bürgersteig, zahlreiche Passanten spazierten. Die Aufnahme der Geschäftskamera zeigt zwei vermummte Gestalten mit Motorradhelmen, die den Juwelier Özkan S. aggressiv und mit vors Gesicht gehaltener Waffe bedrohen. Im Gerichtssaal dagegen lösen der 15- und der 16-Jährige mit ihren kindlichen Figuren, bartlosen Gesichtern und bemüht-männlichen Stimmen eher elterliche Gefühle aus.
Dieses „oft unglaublich junge Alter von Kriminellen im Drogenmilieu ist eine europaweite Entwicklung“, warnt Oliver Huth, NRW-Vorsitzender vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK). „Die jungen Burschen“ empfänden „Kriminalität als männlich-respektablen Lebensstil aus Gewalt, Furchtlosigkeit und Reichtum. Diese Ideale werden ihnen in sozialen Medien ja auch ständig vorgelebt. Wer sich auf der Straße durchsetzt, wem der Aufstieg im Dealermilieu gelingt, verdient in den Augen solcher Jugendlicher höchste Anerkennung“, sagt Huth. Er regt an, die Polizei solle verdeckte Ermittlungen wie die Telefonüberwachung häufiger schon bei jungen Tätergruppen durchführen, weil man ihre kriminelle Karriere in diesem Stadium noch eher bremsen könne.
Multikulturelle Truppe vs. „Syrer“?
Untypisch ist die Holweider Gruppe allenfalls in ihrer multikulturellen Zusammensetzung. Ein Deutschtürke, ein Deutschmarokkaner, ein Deutscher sind die Hauptangeklagten. In ihrem Kielwasser schwammen Tunesisch- oder Griechischstämmige. Diese bunte Mixtur ist nicht die Regel. Kölns Polizei und der BDK beobachten, dass viele drogenkriminelle Szenen stark von einer Herkunft geprägt sind – ob Albaner, Schwarzafrikaner, Iraner, Syrer. Auch das Opfer des Attentats vom 12. Januar ist Syrer. Der 33-Jährige genießt laut Zeugen einen Furcht einflößenden Ruf. Auch Mahdi K. berichtet, er habe Angst vor Ayhan B., der sonst vor allem in der Szene in Köln-Mülheim aktiv sei, wo „die Syrer“ das Sagen hätten. Ayhan B. habe ihm bei früheren Konflikten im Milieu angedroht, er werde ihn „ficken“.
Staatsanwalt und Zeugen gehen davon aus, dass Revierkämpfe oder Streit um entwendetes Cannabis die Aggressionen zwischen der Multikulti-Truppe von Holweide und den Syrern von Mülheim eskaliert hätten. Vieles zu den Hintergründen dürfte aber im Dunklen bleiben. Denn die Beteiligten sind verschwiegen. Ayhan B. wurde viermal von der Polizei verhört, doch mit keinem Wort äußerte er sich zu Hintergründen der Tat, deren Opfer er wurde. Der Vernehmung als Zeuge im Gericht entzog er sich, indem er nach Syrien reiste. Von dort erklärte er sich via WhatsApp für unabkömmlich. Aber auch Schütze Mahdi K. stellte – gegen den Anschein etlicher Indizien – sein Attentat als spontane Einzeltat dar, die er ohne Plan, Hilfe und Wissen seiner Freunde begangen habe. Ganz zufällig habe er seine geladene Pistole dabeigehabt, als ihm plötzlich Ayhan B. über den Weg lief.
Bildungsbiografische Trümmerlandschaften
Typisch für viele großstädtische Dealergruppen ist auch ein anderer Befund: Die Bildungsbiografien, meist auch die Familienverhältnisse der Angeklagten, sind Trümmerlandschaften. Alle erlebten bereits als Kleinkinder die Scheidung ihrer Eltern, manche litten unter rasch wechselnden Partnerschaften der Mutter, während bei anderen der Vater mal spurlos verschwand, mal mit schwerer Drogensucht rang, mal Frau und Kind oft und sogar lebensgefährlich verprügelte. Einige wurden von den Eltern rundum abgelehnt. Eine Mutter schmiss ihren Sohn aus der Wohnung, ein Vater verbat sich jeden Kontaktversuch des angeblich missratenen Kindes, das flehentlich um ein bisschen Nähe bat. Ein gerichtliches Gutachten attestierte den Angeklagten daher teils „unsicher-ambivalente Bindungen“ an ihre Elternteile.
Dramatisch wirken auch ihre Bildungs-Odysseen: Sechs, sieben Schulen besuchen sie allemal, Heime, betreutes Wohnen, intensivpädagogische Maßnahmen – und am Ende hat dennoch fast keiner auch nur den Hauptschulabschluss. Und noch etwas zeichnet ihre Viten aus: Schon im Alter von 13, 14 Jahren beginnen Drogen ihr Leben zu regieren. Vor allem Cannabis konsumieren sie, bis sie zuweilen mit Angstattacken in Kliniken eingeliefert werden.
Im Dezember soll ein Urteil fallen. Die Richter müssen dabei die persönlichen Geschichten und die Schwere der Taten abwägen – keine leichte Aufgabe.
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