Zwanzig Stunden Fahrt Richtung Südosten. Zwei Russen, die sich am Steuer des Minibusses abwechseln, hinten Serhij Serdjuk mit Frau und Tochter, jeder von ihnen mit Handschellen an weitere Russen gefesselt. An der Grenze zu Georgien erhalten sie ihre Pässe zurück. Vor den Serdjuks liegt ein unbekanntes neues Leben, hinter ihnen alles, was ihnen jemals etwas bedeutet hat.
Dennoch: „Ich war erleichtert“, sagt der Ukrainer Serdjuk über die Deportation aus dem von Russland kontrollierten Teil seines Landes. Alles würde besser sein als das Leben unter Besatzung.
Kaum eine Frage wird derzeit so intensiv diskutiert wie die, ob sich der Ukraine-Krieg auf diplomatischem Wege beenden lässt. Falls es tatsächlich zu einem wie auch immer gearteten Waffenstillstand kommt, wird Kiew dafür wohl die bislang von den Russen eroberten Gebiete abtreten müssen: 20 Prozent des Staatsgebietes für die Hoffnung auf ein Ende der Kämpfe.
Das ist die vielfach ausgeleuchtete geopolitische Dimension des Konflikts. Aber daneben gibt es eine weitere Ebene, die meist unsichtbar bleibt: Es sind die Geschichten der Menschen vor Ort, an der sogenannten Kontaktlinie, deren Welt von einem solchen Deal in zwei Teile zerschnitten würde – weil entweder sie selbst oder ihr bisheriges Leben hinter dem neuen Eisernen Vorhang zurückblieben.
Ein gutes Leben – bis Russland einmarschierte
Ein Restaurant im Stadtzentrum von Saporischschja an einem Mittwoch im September. Die Kellnerin serviert traditionelle Warenyky-Teigtaschen und Cola. Es ist ein Nachmittag, kaum ein Tisch ist besetzt. Aus den Lautsprechern dudelt Popmusik der 2010er-Jahre. Bloß 25 Kilometer sind es von hier bis zu den Schützengräben an der Front, dahinter erstrecken sich die drei Viertel der gleichnamigen Oblast, die Russland erobert hat.
Saporischschja ist eine von vier ukrainischen Regionen plus der Krim, die der Kreml als „Neurussland“ für sich beansprucht. In der ukrainisch kontrollierten Regionalhauptstadt leben 700.000 Menschen, 200.000 sind Binnenflüchtlinge – und einer davon ist Serhij Serdjuk. 48 Jahre alt, unauffällig graue Kleidung, freundliche Augen. Er setzt sich und beginnt, seine Geschichte zu erzählen.
Geboren und aufgewachsen ist Serdjuk in Komysch-Sorja, einem Ort von 2000 Einwohnern. Mitten auf dem Land. Die Regionalhauptstadt Saporischschja liegt 120 Kilometer nordwestlich, nach Mariupol und Berdjansk, den großen Hafenstädten am Asowschen Meer, sind es 70 Kilometer in die andere Richtung.
Serdjuk zog zum Studieren nach Berdjansk: Mathematik auf Lehramt. „Ich mag es sehr, Dinge zu erklären“, sagt er. Nach seinem Abschluss Ende der 90er-Jahre kehrte er zurück nach Komysch-Sorja – als Lehrer an der einzigen Schule im Ort. 250 Schüler, von der Ersten bis zur Abschlussklasse. Als Kind hatte Serdjuk selbst hier gelernt, 2018 wurde er Rektor. Zwei Jahre später kam Corona, die Umstellung auf Online-Unterricht funktionierte gut, sagt er.
Aber während der Pandemie passierte noch etwas anderes: Von Norden, aus Moskau, verschärften sich die Aggressionen gegen die Ukraine. 2021 ließ Wladimir Putin große Truppenkontingente im Grenzgebiet aufmarschieren und veröffentlichte einen Essay, in dem er der Ukraine ihre Staatlichkeit absprach. Schließlich legte der Kreml der Nato ein Ultimatum vor, dessen Erfüllung die Rückabwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf den Stand der späten 90er-Jahre bedeutet hätte.
„Ich habe gespürt, dass etwas in der Luft lag“, sagt Serdjuk. Aber Weggehen war keine Option. Schließlich waren in Komysch-Sorja seine Schule und seine Familie, inklusive seiner pflegebedürftigen Mutter.
Am Morgen des 24. Februar 2022 hörte er keine Explosionen. Vom Einmarsch erfuhr er aus den Nachrichten, die Schule blieb geschlossen. Die Russen fegten in jenen ersten Tagen über den Südosten der Ukraine hinweg. In Komysch-Sorja, erinnert sich Serdjuk, waren bloß ein einziger ukrainischer Panzer und ein gepanzertes Fahrzeug zugegen, bemannt von vielleicht sechs oder acht Soldaten. Sie hatten keine Chance gegen die anrückende russische Kolonne. Nachdem einer der Soldaten gefallen war, zogen die anderen sich zurück. Bereits im März 2022 stand die Südostukraine unter der Kontrolle der Invasoren.
Die ersten Wochen über gab es weder Strom noch frische Lebensmittel. Serdjuk stand um 5 Uhr morgens auf, um sich im Nachbarort vor einer Essensausgabe in die Schlange zu stellen und mit Glück bis mittags ein Stück Brot zu bekommen.
Schließlich, nach Eroberung und Chaos, begann in Komysch-Sorja die Phase, die bis heute andauert: Besatzung.
Ein Team der „Zeit“ hat jüngst am Beispiel von Berdjansk versucht, ein Bild vom Alltag in den russisch kontrollierten Gebieten zu zeichnen. Die Stadt am Meer habe sich seit ihrer Eroberung im Frühjahr 2022 „verschlossen wie eine Muschel“, schreiben die Autoren.
Das, was sie trotzdem von außen herausfanden, beschreibt eine Dystopie: Kollaborateure, die ohne Qualifikation in Entscheiderpositionen gehievt werden. Soldaten, die straflos Wohnungen plündern. Russische Gangster, die sich nehmen, was sie wollen. Willkürliche Handykontrollen, bei denen ein falsches Foto ausreicht, um im Folterkeller zu verschwinden. Wo man durch Willkür oder Gier Einzelner in Mühlen geraten kann, aus denen es mangels Rechtssicherheit keinen Weg heraus gibt.
„Stellen Sie sich vor, die Tschechen würden Bayern einnehmen“
Iwan Fedorow, Gouverneur der Oblast Saporischschja, weiß aus eigener Erfahrung, was Besatzung bedeutet. Er ist zu Kriegsbeginn – damals war er Bürgermeister von Melitopol – von den Russen entführt und tagelang festgehalten worden. „Ich glaube, im Ausland versteht man oft nicht, was hier passiert“, sagt er beim Gespräch in der Regionalverwaltung.
„Stellen Sie sich vor, die Tschechen würden Bayern einnehmen. Sie stellen das Internet ab und sagen: Das braucht ihr nicht. WhatsApp auch nicht. Sie verteilen tschechische Pässe. Warum? Einfach so. Das wäre verrückt. Aber das ist die Situation, nur 25 Kilometer von hier.“ Im September ist ein Ultimatum ausgelaufen, laut dem die Menschen in den besetzten Gebieten entweder russische Pässe annehmen oder ausreisen müssen.
Widerstand vor Ort sei inzwischen nahezu „unmöglich“ geworden, sagt Fedorow: „Russland hat so viele dieser Menschen eingesperrt oder deportiert.“ Die Ukrainer in den besetzten Gebieten würden aber weiter auf ihre Befreiung warten – „die Menschen sind gegen Russland“.
Serhij Serdjuk sei dafür „ein wunderbares Beispiel“. Weil er sich, als Rektor in exponierter sozialer Stellung, unter großen persönlichen Opfern gegen Kollaboration entschieden habe.
Tatsächlich weigerten sich Serdjuk und der Großteil seines Kollegiums nach dem Einmarsch der Russen, mit den Besatzern zu kooperieren. Im Hintergrund führten geflohene Lehrer den Unterricht so gut es ging online fort. „Die Russen dachten, hier passiert nichts mehr“, sagt Serdjuk. „Sie haben nur das geschlossene Schulgebäude gesehen.“ So ging das Leben unter Besatzung eine Zeit lang gut.
Serdjuk erledigte den weiterhin anfallenden Papierkram. Er bekam noch immer sein Gehalt vom ukrainischen Staat. Die im besetzten Gebiet unbrauchbaren Hrywnja tauschte er gegen Rubel ein, bei Senioren im Ort, die ukrainisches Geld an ihre geflohenen Verwandten schicken wollten. Er unterstützte sie auch heimlich bei Online-Banking oder Kommunikation mit ukrainischen Behörden.
Bisweilen huscht ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht, wenn er erzählt, wie er die Russen austrickste. „Manchmal haben meine Knie gezittert, wenn ich mit ihnen gesprochen habe“, sagt er. „Ja, ich hatte Angst. Aber ich habe mein Pokerface beibehalten.“
Die Russen setzten ihn mit der Zeit immer stärker unter Druck, die Schule doch wieder zu öffnen – nach russischem Lehrplan, der laut Serdjuk in weiten Teilen aus Propaganda bestand. Er lehnte mehrmals ab, die Antwort waren Hausdurchsuchungen. Beamte nahmen Serdjuk eine DNA-Probe ab, konfiszierten erst die Handys, dann die Pässe der Familie. Sie würden die Dokumente zurückbekommen, wenn alles in Ordnung sei, hieß es. Ihre Nachfragen Monate später ignorierte die Polizei.
Ende 2024 ahnte Serdjuk, dass ihre Deportation vorbereitet wurde – ein Kollege aus einem Nachbarort hatte mit etwas Vorsprung einen ähnlichen Prozess durchlaufen. Für Serdjuk waren es höllische Wochen. „Ich habe Dutzende Nächte schlaflos im Bett gelegen und auf jedes Geräusch geachtet. Auf jedes vorbeifahrende Auto. Ich ging davon aus, dass sie nachts kommen würden.“ Ende Januar 2025 schließlich holten die Russen die Familie aus ihrer Wohnung und brachten sie an die georgische Grenze. Es klinge „paradox“, aber sie waren froh, dass der Psychoterror ein Ende hatte.
Von Georgien flog die Familie nach Moldau, reiste wieder in die Ukraine ein und fuhr nach Saporischschja – bis 120 Kilometer vor ihren Heimatort Komysch-Sorja, den Ausgangspunkt ihrer fast kreisförmigen Odyssee. Sie sind wieder nah an Zuhause. Nur eben auf der anderen Seite der Front.
Für Serdjuk ist das ein Drama. Er hat nicht nur seine Heimat und seine Schule verloren, wo die Russen nun sein Lebenswerk abwickeln und die Kinder der Region indoktrinieren, bis sie irgendwann unumkehrbar hirngewaschen sind, wie Serdjuk fürchtet. Seine Mutter leidet unter Demenz. Vor der Invasion, erzählt er, konnte sie die Krankheit mit Medikamenten einigermaßen in Schach halten. Durch den Krieg ist die Versorgung abgebrochen und ihr Kampf verloren. „Es ist zu spät, sie erinnert sich an nichts mehr. Meine Mutter erkennt mich nicht mehr.“
Das Gespräch im Restaurant dauert inzwischen mehr als zwei Stunden, an einem Nebentisch hat sich eine fröhliche Rentner-Runde eingerichtet. Serdjuk bittet um eine Pause, um vor der Tür eine Zigarette zu rauchen.
Hier wird aus der persönlichen Ebene wieder die politische
Als er wiederkommt, wirkt er noch ernster. Ihm wurden 40 Jahre Einreiseverbot nach Russland auferlegt, worunter Wladimir Putin auch die Region Saporischschja versteht. „Falls die Front eingefroren wird, werde ich nicht lange genug leben, um meine Heimat wiederzusehen“, sagt Serdjuk. „Wenn meine Mutter stirbt, werde ich nicht zu ihrer Beerdigung kommen können.“
Und weiter: „Es gibt hier Tausende, deren Leben vollends zerstört wurden. Die Leute sagen, es gehe bei Verhandlungen um Territorien. Aber was ist mit uns? Familien werden für immer auseinandergerissen.“
Hier wird aus der persönlichen Ebene wieder die politische. Kiew steht vor einem Dilemma. Muss es versuchen, alle besetzten Gebiete zu befreien, um jeden Preis? Oder sind Geschichten wie die von Serdjuk bloß bedauerliche Einzelschicksale? Wie viele Tote ist ein freies Leben wert? Serhij Serdjuk hat auf diese Fragen seine Antworten gefunden. Aber er ist nur ein Mann in einem großen Krieg.
Nachrichtenredakteur Florian Sädler ist kürzlich durch die Ukraine gereist, um über Russlands Krieg gegen das Land zu berichten.
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