Ein kleiner Durchbruch für den Koalitionsfrieden, positive Rückmeldungen aus der Wirtschaft, aber auch Kritik, die nicht nur von ganz links kommt. Union und SPD wollen das Bürgergeld durch eine deutlich schärfere Grundsicherung ersetzen. Die könnte dem Land was bringen.

Nach monatelangem Tauziehen haben sich zumindest die Spitzen von CDU, CSU und SPD auf Grundzüge einer Bürgergeldreform mit durchaus weitreichenden Folgen geeinigt. Das Ergebnis eines übernächtigten Koalitionsausschusses ist noch kein Kabinettsentwurf und schon gar kein Gesetz, das den Bundestag passiert hat. Aber der CSU-Vorsitzende Markus Söder jubelte schon einmal: "Das Bürgergeld ist Geschichte." Tatsächlich verständigten sich die Koalitionäre auf einen neuen Namen: Grundsicherung für Arbeitssuchende. Das mit den Hartz-Reformen eingeführte Arbeitslosengeld II bleibt aber im Kern erhalten, nur dass wieder mehr gefordert als gefördert werden soll, als es im Bürgergeld der Ampelregierung der Fall war.

Das politisch vielleicht wichtigste Signal ist die Aussicht, dass künftig Verweigerer binnen Wochen ihre Leistungen gekürzt oder ganz gestrichen bekommen sollen. Selbst die Kosten der Unterkunft sollen einbehalten werden, wenn Arbeitssuchende beharrlich nicht zu Terminen im Jobcenter erscheinen, ihr Fernbleiben aber keine gesundheitlichen Gründe hat. Seit Jahren wird über den Umgang mit solchen Totalverweigerern diskutiert und ob ein vollständiger Leistungsentzug mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Fakt ist: Die Anzahl solcher Menschen ist überschaubar. Es geht mehr um den symbolischen als den materiellen Schaden, weil so ein Verhalten mit dem Prinzip einer Solidargemeinschaft nicht vereinbar ist.

Gutachten untermauert Sanktionen

Regina Riphahn, Professorin für empirische Wirtschaftsforschung und Mitglied im Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (BMWE), hält schnellere Sanktionen für sinnvoll: "Sanktionen fördern die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt", sagt Riphahn, weil ihre Androhung schon im Vorfeld zur Mitarbeit motiviere, sodass sie oft gar nicht erst ausgesprochen werden müssen. Am Tag nach dem Koalitionsausschuss legte das unabhängige Expertengremium ein Gutachten zu einer Reform des Bürgergelds vor, von dem sich einige Elemente schon in der Koalitionseinigung wiederfinden.

Entscheidender als die vielen Sanktionsmöglichkeiten, die die Regierungskoalition nun geeint hat, ist laut Riphahn aber deren praktische Anwendungsfähigkeit. Schon jetzt können Einzelfallmanager im Jobcenter scharfe Sanktionen anwenden, aber eben meist nur auf dem Papier, weil die damit verbundene Bürokratie aus Sicht der Einzelfallmanager und der Jobcenter den Aufwand nicht lohnt. Schnelle Sanktionen gibt es also nur, wenn Sachbearbeiter und Jobcenter im Zuge des Gesetzes tatsächlich dazu ermächtigt werden. Der Teufel liegt damit wie so oft im Detail.

Empfehlungen für weitere Verschärfungen

Das unter Riphahns Federführung entstandene Gutachten "Zur Reform des Bürgergelds" kommt ebenfalls zu dem Schluss, die Karenzzeit von Schonvermögen zu reduzieren. Diese sollen nach Vorstellung von Schwarz-Rot künftig ab Beginn des Leistungsbezugs eingerechnet werden. Zugleich soll die Höhe des Schonvermögens stärker an Lebensarbeitszeit und Alter gekoppelt werden. Der Beirat von Bundeswirtschaftsministerin Katherina wäre sogar noch weitergegangen und empfiehlt eine "Rücknahme der großzügigen Karenzzeiten bei den Kosten der Unterkunft".

Dies aber war mit der SPD nicht zu machen. Die Sozialdemokraten wollten mit Blick auf das fehlende Angebot günstigerer Wohn-Alternativen in Großstädten und anderen Regionen soziale Härten vermeiden. Damit ist das Thema aber noch nicht vom Tisch: Dem noch für Oktober erwarteten Gesetzentwurf aus dem Haus von Arbeitsministerin Bärbel Bas dürfte im neuen Jahr eine zweite Reformrunde folgen.

Dann dürfte es auch um die Zuverdienstgrenzen gehen. Die BMWE-Beiräte kommen zum Schluss, dass die aktuelle Regelung insbesondere für Alleinstehende zu wenig Anreize zur Arbeit setzt: Wer sich mit etwas Arbeit wenige Hundert Euro zur Vollversorgung durchs Amt hinzuzuverdienen kann, komme damit zu oft zu gut zurecht, um sich eine reguläre Arbeitsstelle zu suchen.

Zuverdienende Bürgergeldbezieher sind das zahlenmäßig kleinere Äquivalent zu den sehr vielen Bürgergeldbeziehern, die einem Minijob bis 556 Euro im Monat oder einem Midijob bis 2000 Euro im Monat nachgehen. Nach Zahlen der Agentur für Arbeit ist mehr als die Hälfte der rund 4 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeldbezieher berufstätig. Jeweils knapp die Hälfte davon ist in Mini- oder Midi-Jobs beschäftigt. Die SPD erinnert daran, dass hierunter auch viele Alleinerziehende sind, die mit einem Teilzeitjob nicht allein über die Runden kommen. Arbeitsmarktforscher haben aber zuletzt auch viele Migranten ausgemacht, die auffällig oft als sogenannte Aufstocker von Sozialtransfers abhängig sind - trotz Berufstätigkeit.

Vorrang für Vermittlung: wirklich?

Ausgerechnet die aus Sicht von CDU und CSU für am wichtigsten erachtete Änderung ist wissenschaftlich umstritten: "Grundsätzlich gilt der Vermittlungsvorrang in Arbeit", heißt es im Einigungspapier mit der SPD. Der wissenschaftliche Beirat von CDU-Ministerin Reiche spricht sich im am selben Tag veröffentlichten Gutachten "gegen die Wiedereinführung des bedingungslosen Vermittlungsvorrangs aus und votiert für die stärkere Nutzung des Ermessensspielraums von Fallmanager:innen". Die Jobcenter sollen also selbst entscheiden können, ob Arbeitssuchenden eher mit einer Weiterqualifizierung gedient ist oder sie schnellstmöglich einen Job annehmen sollen.

Auf Drängen der SPD ist ebendies durchaus Teil des Regierungskompromisses: "Da wo eine Qualifizierung mit Blick auf die dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt erfolgsversprechender erscheint, insbesondere bei den unter 30-Jährigen, sollte eine Qualifizierung Vorrang haben", heißt es. Paradoxerweise sehen die Wissenschaftler aber diesen Punkt anders: Vor allem Frauen und Langzeitarbeitslose bräuchten enge Betreuung, so Riphahn, während junge Menschen nach Durchsicht der relevanten Studien besser schnellstmöglich ins Arbeitsleben integriert werden müssten. So oder so öffnet die Formulierung des Koalitionskompromisses ein Fenster, den Jobcentern mehr Entscheidungshoheit darüber zu geben, was der einzelne Kunde braucht: mehr Druck oder mehr Unterstützung?

Was in einen zweiten Reformschritt ebenfalls einfließen dürfte - und nach Überzeugung der Wissenschaftler auch muss: die Vielzahl unterschiedlicher Sozialleistungen stärker zu bündeln und zu digitalisieren. Riphahn schlägt vor, diese Straffung an das neu gegründete Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung unter Karsten Wildberger zu übertragen. Weil das Haus selbst nicht Leistungserbringer ist, könne es womöglich unparteischer auf die Problemlage blicken.

Einigkeit zwischen Politik und Wissenschaft herrscht in jedem Fall darüber, dass Reformen lohnen. Zwar haben die Autoren des Beirat-Gutachtens nicht hochgerechnet, wie viele Menschen bei einer Umsetzung aller Maßnahmen in Arbeit gebracht würden. Aber: "Ich denke, da ist einiges zu holen", sagt Riphahn. Arbeitsministerin Bas sagte am Vormittag, 100.000 Leistungsbezieher weniger sparten dem Staat etwa 1 Milliarde Euro an Sozialausgaben. Riphahn zitiert eine andere Faustformel, die auch die zusätzlichen Steuereinnahmen und weiteren positiven Aspekte von Arbeit in den Blick nimmt: Demnach bringen 100.000 weniger Arbeitssuchende dem Staat sogar 3 Milliarden Euro. Dafür lohnen auch weitere durchverhandelte Nächte im Kanzleramt.

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