Er ist persönlich ins Gefängnis gekommen, um die Botschaft zu überbringen. „Du wirst nicht siegen“, sagt Itamar Ben-Gvir, Israels Minister für öffentliche Sicherheit. Ihm gegenüber steht der wohl wichtigste Gefangene des Nahen Ostens: Marwan Barghuti. Der Palästinenser nickt langsam und schaut seinem Gegenüber direkt in die Augen, als dieser fortfährt: „Jeder, der das Volk Israel bedroht, jeder, der unsere Kinder ermordet, jeder, der unsere Frauen ermordet – wir werden ihn auslöschen.“

Von dieser Begegnung im August dieses Jahres veröffentlicht Ben Gvir, Chef der rechtsextremen Partei „Jüdische Stärke“, anschließend ein Video. Die Botschaft ist klar: Geht es nach ihm, wird Barghuti, der bereits seit 21 Jahren in Haft ist, das Gefängnis niemals verlassen. Seit mindestens einem Jahr hatte der Gefangene in den Verhandlungen um die Freilassung der israelischen Geiseln und einen Waffenstillstand eine zentrale Rolle gespielt. Seit mindestens einem Jahr hatte die Hamas vehement seine Freilassung gefordert. Denn der 66-Jährige ist die einzige politische Figur, die sich laut Umfragen konstant eine Mehrheit der Palästinenser als Anführer wünscht. Teilnehmer der Verhandlungen in Kairo berichten, dass Barghuti ein wesentlicher Grund dafür war, dass sich die Gespräche in die Länge zogen. Offenbar ist die Frage über seine Freilassung sogar nach der Verkündung der Einigung durch US-Präsident Donald Trump in der Nacht zum Donnerstag noch offen. So blicken nun viele gespannt auf die Sitzung des Sicherheitsrates in Jerusalem am heutigen Nachmittag.

In der Person Barghuti verdichten sich Jahrzehnte des Nahost-Konflikts. Nach 21 Jahren in israelischer Haft ist er zur Projektionsfläche geworden. Die einen verklären ihn als eine Art „Nelson Mandela“, der geläutert nach langer Haft einen möglichen Staat Palästina anführen könnte. Andere betrachten ihn schlicht als verurteilten Mörder, der maßgeblich daran beteiligt war, die Palästinenser in die Sackgasse des Terrorismus zu führen. Einig sind sich Anhänger und Gegner, dass er nach einer Freilassung großen Einfluss haben dürfte.

Lange hatte man keine Bilder mehr von ihm gesehen. Das Video von Ben Gvirs Besuch im Gefängnis zeigt einen glatzköpfigen und hageren Barghuti, der kaum noch Ähnlichkeit mit den ikonischen Bildern hat, die bis heute an vielen öffentlichen Orten im Westjordanland zu sehen sind: Ein kräftiger Mann mit dunklem Haar und Bart, der trotzig seine Handschellen hochhält und mit zwei Fingern ein Victory-Zeichen formt – eine Szene aus dem Jahr 2004, damals verurteilte ihn ein israelisches Gericht zu lebenslanger Haft. Als Führungsmitglied der Fatah galt er damals bereits als Nachfolger von Jassir Arafat, der im November 2004 starb.

Auch die Hamas kämpft für ihn

Dass die mit der säkularen Fatah verfeindete islamistische Hamas so unerbittlich seine Freilassung fordert, zeigt, dass er die Fraktionen zusammenbringen könnte, wirft aber die Frage auf, wofür er steht. Vor dem Hintergrund, dass viele Länder, darunter Frankreich und Großbritannien, gegen den Willen Israels einen Staat Palästina anerkannt haben, könnte seiner Person große Bedeutung zukommen.

Was wäre von dem Mann zu erwarten, der in seinem Leben sowohl den Terror der Intifada angeführt als auch zum Widerstand ohne Gewalt aufgerufen hat?

Geboren 1959 bei Ramallah, lebt Barghuti bereits als Achtjähriger unter israelischer Besatzung. Er schließt sich der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO an, fällt den Israelis in den 80er-Jahren als militanter Student auf, setzt sich dann aber in den 90er-Jahren im Oslo-Friedensprozess für eine Zwei-Staaten-Lösung ein – die ausdrücklich eine Anerkennung Israels beinhaltet. Daraus geht die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) hervor.

Der Prozess scheitert, ab dem Jahr 2000 überziehen Terroristen Israel mit Anschlägen. Im Jahr 2002 wird Barghuti im Westjordanland aufgespürt und festgenommen. Im Prozess wird ihm unter anderem vorgeworfen, dass er Drahtzieher des Anschlages auf das Tel Aviver Restaurant „Sea Food Market“ war, bei dem ein 21-Jähriger mit einer M-16 und Granaten die Gäste angriff, drei Menschen tötete und 35 Verletzte. Israels Geheimdienst legte Beweise vor, dass Barghuti mit dem Attentäter unmittelbar in Kontakt stand. Das Urteil: dreimal lebenslänglich.

Vor Gericht ruft Barghuti damals, dass er „für Frieden und zwei Staaten“ einstehe und lehnt eine Verteidigung ab, weil er das israelische Gericht nicht anerkenne. Später behauptete er, seine Beteiligung am Anschlag habe er fälschlicherweise unter israelischer Folter gestanden und wies jede Beteiligung an den Anschlägen zurück.

Aufmerksamkeit in Haft ist ihm sicher. Im Jahr 2006 erlauben die Israelis ihm sogar, ein TV-Interview zu geben. Vor der Kamera verurteilt er einerseits auf Nachfragen der Reporterin Gewalt und die Tötung von Frauen und Kindern („Jeder, der das tut, sollte aus dem Spiel sein, in Israel wie in Palästina“), betont aber zugleich, es gebe ein Recht auf bewaffneten Widerstand gegen die Besatzer.

In einem Interview mit ABC News aus dem Jahr 2004, das auch WELT veröffentlichte, bezeichnete er die Pläne des damaligen israelischen Premiers Ariel Sharon, die Armee aus dem Gaza-Streifen abzuziehen und dort alle jüdischen Siedlungen zu räumen, als „Sieg der Intifada“.

Langer Gastbeitrag in der „New York Times“

Als Grundpfeiler der palästinensischen Bewegung nennt er stets die „Nationale Einheit“ und erneuerte im Jahr 2017 in einem langen Gastbeitrag in der „New York Times“ seinen Führungsanspruch. So wie er selbst hätten die vielen hundert palästinensischen Inhaftierten Israels Gefängnisse zur „Wiege einer anhaltenden Bewegung für palästinensische Selbstbestimmung“ gemacht.

Kaum ein israelischer Journalist kennt sich so gut aus mit dem Inneren der palästinensischen Strukturen und war so oft in den palästinensischen Gebieten wie Ohad Hemo. Bei seinen Recherchen und Interviews mit Funktionären von Fatah und sogar der Hamas ist er auch Barghuti näher gekommen.

Über dessen Rolle in der Zweiten Intifada schreibt der Journalist in seinem Buch „Hinter der grünen Linie“, viele Anführer der Fatah seien damals keinesfalls damit einverstanden gewesen, nach den Verhandlungen von Oslo wieder den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Auch der heutige Präsident Mahmut Abbas habe dem widersprochen. Barghuti hingegen sei damals innerhalb der Fatah zur „Verkörperung der militanten Linie“ geworden und war auch Anführer des bewaffneten Fatah-Arms Tanzim.

Daraus gingen die Al-Aksa-Brigaden hervor, die während der Zweiten Intifada mit Selbstmordanschlägen auf Zivilisten eine Blutspur hinter sich herzogen. Wer sie genau gegründet hat, ist bis heute unklar. Sie operierten aus Kalkül weitgehend ohne offizielle Kontrolle von der Fatah-Führung – damit konnte die Autonomiebehörde in Ramallah die Verantwortung von sich weisen und die Sicherheitskooperation mit Israel aufrechterhalten.

Zugleich zahlte die Behörde Angehörigen von Selbstmordattentätern eine Rente. Eine Strategie, die so ambivalent wie charakteristisch ist. Dass die säkulare Fatah sich damit Methoden des Islamismus bediente, liegt laut dem Journalisten Hemo an der „großen Resonanz“ der Selbstmordattentate in der palästinensischen Bevölkerung, vor allem in der jüngeren, radikaler werdenden Generation der 2000-er Jahre.

Später dann, im Gefängnis, habe der Fatah-Mann sich den dortigen Hamas-Mitliedern angenähert, berichtet Hemo weiter – so erfolgreich, dass die Führung der Terrororganisation bereits damals forderte, ihn im Austausch für den im Jahr 2006 in den Gaza-Streifen entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit freizulassen, für im Jahr 2011 insgesamt 1027 palästinensische Häftlinge freikamen.

Ex-Geheimdienstchef will Barghuti eine Chance geben

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat laut israelischen Medienberichten seinem rechtsradikalen Koalitionspartner Ben-Gvir unter der Hand zugesagt, Barghuti unter keinen Umständen freizulassen. Es gibt aber auch andere Sichtweisen. So plädiert Ami Ayalon, ehemaliger Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, immer wieder dafür, Barghuti eine Chance zu geben. Er sei „der einzige Anführer“, der die Palästinenser „zu einem Staat an der Seite Israels“ führen könne. Nur so könne die Ideologie der Hamas durchbrochen werden, die auf eine Zerstörung des israelischen Staates abzielt. Dazu kommt: Wer lange in israelischen Gefängnissen gesessen habe, genieße traditionell eine hohe Legitimität in der palästinensischen Bevölkerung.

Neben der Frage, wie eng seine Verbindungen zur Hamas sind und was die Führung als Gegenleistung für eine mögliche Freilassung erwarten würde, dürfte auch eines entscheidend sein: Wie schaut die Mehrheit der Palästinenser, die ihn als Anführer wählen könnte, nach dem 7. Oktober und den vielen Toten im Gaza-Streifen auf Gewalt als Mittel, um politische Ziele zu erreichen? Barghuti hat in der Haft seinen Doktortitel gemacht, spricht fließend Hebräisch und hat nach Angaben seiner Familie zeitweise seine Mitgefangenen in „Israel-Studien“ unterrichtet. Zumindest das dürfte viele Israelis an den Hamas-Chef Jahja Sinwar erinnern, der seinen Feind Israel ebenso studiert hatte und damals beim Geiseldeal um Gilad Shalit freikam. Sinwar allerdings hat nie von einer Zwei-Staaten-Lösung gesprochen und war später Architekt des Massakers vom 7. Oktober.

Philip Volkmann-Schluck, Leitender Redakteur im Ressort Außenpolitik, berichtet für WELT über internationale Politik mit einem besonderen Fokus auf den Nahen Osten, China und Südosteuropa.

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