Auf dem Weg zum Gespräch mit Stephen G. Breyer im ersten Stock des U.S. Supreme Court verhallt jeder Schritt in dicken roten Teppichen. Alles hier atmet Geschichte, denn der Gerichtshof schreibt ständig Geschichte. In diesem Herbst wird er wegweisende Urteile fällen, etwa zur Rechtmäßigkeit der Zölle, die US-Präsident Donald Trump verhängt hat. Eigentlich brennt Sommer wie Winter in Breyers holzgetäfelten Büro ein Kaminfeuer. Am letzten Donnerstag im September ist es in Washington D.C. so schwül, dass der ehemalige Oberste Richter darauf verzichtet hat. Auch nach ihrer Pensionierung haben Richter weiterhin ein Büro im Supreme Court, der gegenüber dem US-Kapitol liegt.

Die Regale füllen wertvolle alte Bücher, an einer Wand hängen 28 Fotos von Breyer mit seinen engsten Mitarbeitern, den „clerks“. 28 Jahre, von 1994 bis 2022, war der heute 87-Jährige einer der mächtigen neun Richter. Nach wie vor hält er in seiner Anzugtasche stets eine Miniausgabe der US-Verfassung parat.

WELT AM SONNTAG: Richter Breyer, die USA gehen derzeit durch eine Welle der politischen Gewalt und der Polarisierung. Noch nie hat ein US-Präsident in so kurzer Zeit so viele Dekrete erlassen. Auf dem Supreme Court als letzter Instanz liegt alle Aufmerksamkeit. Können Richter noch unabhängig von der Politik urteilen?

Stephen G. Breyer: Paul Freund, ein großartiger Rechtsprofessor, hat gesagt: Kein Richter entscheidet abhängig von der Tagestemperatur. Ich sage zu meinen Studenten: Wollt ihr, dass ein Richter in einem Strafverfahren über seine Schulter schaut, um zu sehen, was die Öffentlichkeit denkt? Natürlich wollt ihr das nicht. Kein Richter entscheidet einen Fall nach der aktuellen Stimmung. Aber jeder Richter ist sich des aktuellen Klimas bewusst. Es ist eher wie beim Schriftsteller P.G. Woodhouse. Bertie, sein Held, wachte eines Morgens auf und war nicht unzufrieden, aber auch nicht gerade zufrieden. So ist es auch am Supreme Court. Ich kann nicht sagen, dass es kein Bewusstsein dafür gäbe, was in der Welt vor sich geht.

WAMS: Aber der amtierende Präsident hat Einfluss auf das Richtergremium?

Breyer: Natürlich gibt es Veränderungen, wenn man einen Präsidenten derselben Partei hat wie der Richter, den er für den Obersten Gerichtshof ernennt. Dann findet man einige Gemeinsamkeiten. Vielleicht in Hinsicht auf das Thema Meinungsfreiheit oder was ordentliche Rechtsverfahren sind. Aber das bedeutet nicht, dass der Richter politisch motiviert handelt.

WAMS: Ihr Land scheint sich in eine neue Ära zu bewegen. Liegt das auch an der „konservativen Super-Mehrheit“ am Supreme Court?

Breyer: Im Kern steht die Frage, die ich immer mit Nino (Antonin Scalia, bis 2016 Breyers Richterkollege am Supreme Court, d. Red.) diskutiert habe. Er bestand darauf, dass es Land und Justizsystem besser ginge, würde man die Verfassung beim Wort nehmen. ,Quand le texte est clair, il faut s’en tenir au texte‘, sagen die Franzosen. Aber der Text ist oftmals nicht klar. Nino war überzeugt, dass das Recht, auch an diesem Gericht, aus einer Reihe von Regeln bestehen sollte. Ich sage, man sollte sich vor zu vielen Regeln hüten. Das Leben ist chaotisch. Man muss sich häufig die Ziele eines Gesetzes ansehen. Jemand hat es aus triftigem Grund verabschiedet. Was war der Grund dafür? Das Ziel? Welche waren die Folgen und Werte? Schauen Sie sich den ersten Zusatzartikel unserer Verfassung an. Religionsfreiheit steht an erster Stelle. Warum? Als er verfasst wurde, führten Menschen Kriege um Religion. Menschen wurden wegen ihres Glaubens hingerichtet.

WAMS: Trump erlässt einschneidende Entscheidungen, die teilweise so schnell ausgeführt werden, dass die Gerichte nicht nachkommen. Mit welchen Folgen?

Breyer: Der Unterschied zwischen dem US-Kongress und dem Obersten Gerichtshof ist Zeit, wie Präsident Harold Wilson einst sagte. Die Aufgabe eines Richters ist das Nachdenken. Nachlesen. Herauszufinden, was die Gesetze bedeuten. Beim Urteil über Sterbehilfe gab es seinerzeit 80 Schriftsätze (sogenannte briefings, die jeweils 50 Seiten lang sein können, d. Red.). Ich habe jeden einzelnen gelesen.

WAMS: Wie ist es möglich, dass der Supreme Court 1973 das allgemeine Recht auf Abtreibung etabliert. Und 50 Jahre später sagt, dieses Urteil sei von Beginn an falsch gewesen?

Breyer: Sie führen einen Fall an, der meiner Meinung nach falsch entschieden wurde. Wir waren drei Richter, die die abweichende Meinung verfasst haben. Aber man kann nicht grundsätzlich sagen, dass Urteile nicht wieder aufgehoben werden sollten. Denken Sie an das Urteil Plessy gegen Ferguson (in dem der Supreme Court 1896 entschied, dass Rassentrennung unter dem Prinzip „getrennt, aber gleich“ verfassungsgemäß sei, d. Red.)

WAMS: Das Vertrauen der Bürger in die Justiz nimmt dramatisch ab. Was macht das mit einem Obersten Richter?

Breyer: Das ist ein großes Problem. Der Autor Jeffrey Rosen hat darüber geschrieben, welche Denker die Gründerväter beeinflussten: Cicero, Seneca, Aristoteles. Die der französischen und schottischen Aufklärung. Laut Rosen kamen sie zu dem Schluss, dass man, wenn man im Leben nach Glück strebt, klassische Tugenden annehmen muss: Mäßigung, Mut, Weisheit. Man muss versuchen, seine Emotionen zu zügeln, damit man ein Leben führt, das zumindest zum großen Teil von Vernunft geleitet ist. Und sie fragten sich: Können wir ein solches Land schaffen? Ihre Antwort: Ja. Wir können es versuchen, nicht von einem König, sondern von einer Demokratie regiert zu werden.

WAMS: Aber das war vor 250 Jahren?

Breyer: James Madison, einer der Gründerväter, sprach von einem Land, das geografisch gesehen aus Fraktionen besteht – was meiner Meinung nach Madisons Wort für Emotionen war –, die unterschiedlich sind an unterschiedlichen Orten. Leidenschaften würden aufkommen. Es ist ein großes Land. Das Regierungssystem ist kompliziert, was Dinge verzögert. Und heute? Haben Sie schon einmal vom Düsenflugzeug gehört? Zeit? Man kann das Land in einer Millisekunde oder einer Zehntelsekunde durchqueren. Ein kompliziertes System? Ja, aber nicht dasselbe. Wie erhalten wir diese Demokratie? Wie erhalten wir die Werte?

WAMS: Wie lautet Ihre Antwort?

Breyer: Oh, Sie meinen, ich habe darauf eine Antwort? Die fordere ich von den Siebtklässlern ein, zu denen ich spreche. „Hier, das ist eure Verfassung!“, sage ich ihnen.

WAMS: Schon Präsident Thomas Jefferson war dagegen, Legislative und Judikative dieselbe Macht zu geben wie der Exekutive?

Breyer: Das ist doch ganz normal! Du bist der Präsident! Wie Harry S. Truman sagte: „The buck stops here“ („Auf mir ruht alle Verantwortung“). Jedes meiner Enkelkinder bekam 20 US-Dollar, wenn es Abraham Lincolns Gettysburg-Rede auswendig vortragen konnte. Wie heißt es dort: „Wir befinden uns jetzt in einem großen Krieg, um zu prüfen, ob diese Nation oder jede andere Nation, die auf diesen Grundsätzen beruht und sich diesen Grundsätzen verschrieben hat, auf Dauer Bestand haben kann.“ Es ist ein Experiment!

WAMS: Werden unter Trump liberale Weichenstellungen zurückgedreht? ?

Breyer: Wenn man zu viele Regeln aufstellt, schenken die Menschen am Ende dem Gericht keine Beachtung mehr. Das Recht trägt dazu bei, dass Menschen in einem großen Land mit verschiedene Ethnien friedlich und wohlhabend zusammenzuleben. Ein Grund für den Bürgerkrieg bestand darin, dass sie mehrere separate Staaten sein wollten, die alles selbst entscheiden sollten. Und deshalb ist es das Beste, und ich glaube, die großen amerikanischen Politiker sind alle dieser Meinung, nicht zu weit zu gehen. Sei vorsichtig, nicht zu weit zu gehen. Was ich gerade gesagt habe, ist keine Kritik an der gegenwärtigen Regierung.

WAMS: Sie haben Mitte der 1970-er für Senator Ted Kennedy gearbeitet. Auf der Tasse in Ihrer Hand stehen fünf Kennedy-Grundsätze?

Breyer: Erstens: Was sagt er? Er sprach so schnell, man musste oft nachfragen. Zweitens: Halte die Dinge einfach. Drittens: Das Perfekte ist der Feind des Guten. Das hat er oft gesagt. Lieber 30 Prozent zu akzeptieren, um eine Einigung mit der Gegenseite zu finden. Viertens: Teilt euch den Ruhm. Er hat viel darüber nachgedacht, dass Ruhm eine Waffe ist. Fünftens: Haltet euer Wort. Das ist sehr wichtig.

Das Gespräch fand mit einer Gruppe europäischer Reporter statt.

Stefanie Bolzen berichtet für WELT seit 2023 als US-Korrespondentin aus Washington, D.C. Zuvor war sie Korrespondentin in London und Brüssel. Hier finden Sie alle ihre Artikel.

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