Schon bevor Israels Premierminister Benjamin Netanjahu an diesem grauen und schwülen Morgen vor der UN-Generalversammlung spricht, sind die Reihen nicht einmal halb voll. Die meisten Staats- und Regierungschefs sind bereits abgereist. Aber die Leere im Saal ist auch ein Zeichen des Protestes. Schon bei seiner Rede im vergangenen Jahr hatten zahlreiche Delegierte den Saal verlassen, als Netanjahu sprach. Als die Sitzungsleitung mit der üblichen Formel das Protokoll auffordert, Netanjahu zum Podium zu geleiten, stehen zahlreiche weitere Delegierte auf und verlassen den Saal. Die israelische Delegation und Gäste auf der Tribüne springen auf und applaudieren Netanjahu, wieder andere pfeifen und buhen. Immer wieder muss der Sitzungsleiter mit dem Hammer aufs Pult schlagen und Ruhe fordern. Erst Minuten später kann Netanjahu seine Rede beginnen – und was er liefert, ist eine Mischung aus Show und Vorwärtsverteidigung – aber es lässt viele Fragen offen. Auch dazu, wie viele Karten er noch in der Hand hält.

Netanjahu beginnt damit, dass er an die israelischen Geiseln erinnert, die sich noch immer in der Gewalt der Hamas befinden. Zwanzig von ihnen seien noch am Leben, die sterblichen Überreste von 28 weiteren seien noch in Gaza. Doch gleich anschließend lässt er Israels militärische Siege seit dem 7. Oktober Revue passieren.

Hier beginnt die Show. Auf einer Pappe hat er eine Karte der Region mitgebracht, auf der die Feinde Israels mit Farbflächen markiert sind. „Die halbe Führung der Huthis ist weg“, sagt Netanjahu und setzt mit einem Filzstift einen Haken auf den Jemen. „Jahja Sinwar und weitere Hamas-Anführer – weg“, wieder ein Haken, diesmal in Gaza. So geht es weiter bei der Hisbollah im Libanon, den Schiitenmilizen im Irak, dem iranischen Atomprogramm.

„Der 12-Tage-Krieg gegen den Iran wird in die Annalen der Militärgeschichte eingehen“, ruft Netanjahu. Er dankt Donald Trump für sein „kühnes Handeln“ beim Bombardement der Uran-Anreicherungsanlage im iranischen Fordo. „Präsident Trump und ich haben versprochen, die Welt vor der Bedrohung durch eine iranische Bombe zu bewahren und wir haben geliefert“, sagt Netanjahu. Dieser Einstieg zeigt, worum es ihm hier geht: Er will einerseits Stärke demonstrieren gegen alle Versuche, ihn und sein Land zu isolieren. Aber zugleich sucht Netanjahu auch sehr deutlich den Rückhalt seiner Freunde, vor allem der amerikanischen. Immer wieder wirkt seine Rede wie ein direkter Appell an die Amerikaner. Aber er hat noch einen Adressaten: die Familien der israelischen Geiseln.

„Wir werden die Arbeit in Gaza zu Ende bringen“, ruft Netanjahu. Aber er weiß auch, dass einige der Angehörigen seine Kriegsführung in Gaza scharf verurteilen. In der nun begonnenen Offensive gegen Gaza-Stadt sehen sie eine extreme Gefahr für das Leben der Gefangenen. Netanjahu liest jeden der Namen der noch Lebenden vor. Dann macht er einen Zug, wie es ihn in der Geschichte der UN noch nie gegeben hat.

Er habe überall in Gaza starke Lautsprecher aufgestellt, sagt Netanjahu. Was er nun sage, werde in voller Lautstärke überall in Gaza übertragen, in der Hoffnung, dass die Geiseln ihn hören. „Hier, ihr Helden, spricht Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Ich spreche live zu euch vom Podium der UN-Generalversammlung. Ich werde nicht ruhen, bis wir euch nach Hause gebracht haben.“

Niemand weiß, ob die Geiseln ihn hören und was sie dabei fühlen. Sicher ist, dass Netanjahu eine außergewöhnliche Wirkung auf die internationale Öffentlichkeit einkalkuliert. Und wenig später hat er es wieder auf das westliche Publikum abgesehen. Mit einem neuen Stunt.

Wieder hält Netanjahu eine Tafel hoch. „Machen wir ein Pub-Quiz“, sagt der Premier. „Wer ruft ‚Tod für Amerika‘? A: Al-Qaida. B: Hamas. C: Hisbollah. D: Iran. E: Alle genannten. Richtig: Sie alle rufen ‚Tod für Amerika‘!“ Dann ein Quiz für die Europäer. „Welche dieser Organisationen hat kaltblütig Europäer ermordet?“ Natürlich dieselben Organisationen. „Israel kämpft euren Kampf!“, ruft Netanjahu aus. Ob die Kneipen-Ratespiele auch an die hungernden und leidenden Geiseln in Gaza übertragen werden, erwähnt er nicht.

Netanjahu ist schon mitten in seiner persönlichen Offensive. Vor allem greift er jene an, die gerade einen Palästinenserstaat anerkannt haben, unter anderem die Franzosen, Briten, Norweger, Niederländer. „Nach dem 7. Oktober einen Palästinenser-Staat eine Meile von Jerusalem entfernt zu errichten, das wäre, als würde man nach dem 11. September einen Al-Qaida-Staat eine Meile neben New York erklären!“, sagt der Premier. Die Palästinenser hätten zu 90 Prozent den 7. Oktober unterstützt. Immer wieder habe man ihnen einen Staat im Austausch für die Anerkennung des Existenzrechts Israels angeboten, immer hätten sie ausgeschlagen.

Rote Linien überschritten

Hier fasst Netanjahu die Fakten so zusammen, wie sie in seine Argumentation passen, denn tatsächlich gab es immer wieder Anerkenntnisse des israelischen Existenzrechts durch Führungen der Palästinenser, jedenfalls vonseiten der säkularen Fatah. Aber auch die sei in Wahrheit keineswegs gemäßigt, sagt Netanjahu.

Aber während sich Netanjahu vehement gegen das Fernziel einer Zwei-Staaten-Lösung wendet, beantwortet er nicht die Fragen, die jetzt gerade alle beschäftigen: Wann gibt es einen Waffenstillstand in Gaza? Wann wird Israel erklären, dass es die Arbeit zu Ende gebracht hat, auch wenn es noch Hamas-Anhänger in Gaza und Anführer im Ausland gibt? Wann kommen die Geiseln frei? Und was wird aus Gaza nach dem Krieg? Er äußert sich auch nicht zur Frage, ob er als Antwort auf die Anerkennungen eines Palästinenser-Staates Teile des Westjordanlands annektieren wird, wie viele befürchten. Genau das werde er nicht zulassen, hat Trump am Tag zuvor gegenüber Journalisten im Weißen Haus erklärt.

Die Amerikaner arbeiten gerade mit ihren europäischen und arabischen Partnern an einer Lösung für Gaza, die viele rote Linien Netanjahus überschreitet. Nach dem 21 Punkte umfassenden Dokument der Amerikaner sollen in einem Waffenstillstand alle Geiseln freigelassen und die Hamas soll entwaffnet werden. Aber anschließend soll auch die von Netanjahu abgelehnte Palästinenserbehörde eingebunden werden, jüdische Siedlungen, wie sie Netanjahus Koalitionspartner fordern, soll es nicht geben.

Es ist fraglich, ob sich Israels Premier gegen eine solche Lösung auf Dauer wehren kann. Mit seiner Rede vor der UN hat er auch um Trumps Rückhalt gekämpft. Weil das Schicksal Netanjahus in hohem Maß von Trumps Positionierung abhängt. Der Premier hat nicht mehr viele Möglichkeiten.

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