Zwölf Minuten lang bleiben die drei russischen Kampfjets am Freitag über Estlands Hoheitsgebiet. Oberst Markus Reisner erklärt, wie die Nato reagieren kann, und warum die Nato reagieren muss.

ntv.de: Herr Reisner, Tallinn zeigt die Flugrouten: Drei Kreml-Kampfjets sind am Freitag in den estnischen Luftraum eingedrungen. Andere haben eine polnische Ölplattform überflogen. Nun beraten die Nato-Staaten. Wie bewerten Sie die vorliegenden Informationen?

Markus Reisner: Ich denke, die Russen versuchen hier, militärische Ressourcen der Nato entlang der Ostflanke zu binden. Zum Beispiel, damit sie nicht in die Ukraine geliefert werden können. Insbesondere geht es dabei um Luftverteidigungswaffensysteme. Zudem versuchen die Russen, die Nato zu blamieren. Ganz gezielt wird hier provoziert, um darzustellen, dass die Nato nichts gegen das Eindringen unternehmen kann. Sie soll handlungsunfähig erscheinen.

Die Nato will die Ostflanke stärken. Einen Namen hat die Mission auch schon: Eastern Sentry. Das macht aber noch nicht handlungsfähig, oder?

Noch ist tatsächlich nichts zu sehen. Bislang gibt es keine nachhaltigen, wirklich sichtbaren Reaktionen des westlichen Bündnisses. Es kommt schon mal vor, dass eine russische Aufklärungsmaschine über Nato-Luftraum fliegt. Solch ein Eindringen ist nicht ganz neu und ungewöhnlich. Aber drei bewaffnete Kampfjets im Nato-Luftraum, und das zwölf Minuten lang - damit überschreitet Russland neuerlich eine rote Linie. Die Frage ist, ob man sich das gefallen lässt oder nicht.

Der britische "Guardian" meldet, Polen sei bereit, russische Kampfjets abzuschießen, die sein Hoheitsgebiet verletzen. Ist das überreagiert?

In dem Zusammenhang wird immer wieder das Beispiel Türkei gebracht. Im Jahr 2015 hat die türkische Luftwaffe einen russischen SU-24-Bomber abgeschossen. Er flog über türkischem Gebiet an der Grenze zu Syrien. Die Situation war aber eine andere: In jener Phase des Kriegs haben die Russen immer wieder den türkischen Luftraum für Angriffe in Syrien genutzt. Und immer wieder hat die türkische Regierung den Kreml aufgefordert, das zu unterlassen. Der hat das ignoriert. Als Konsequenz hat die Türkei die rules of engagement, also die Handlungsoptionen ihrer Luftwaffe erweitert. Sie war dann dazu ermächtigt, russische Jets abzuschießen, und das ist schließlich passiert.

Zwischen "nichts machen" und "Abschuss" - welche Handlungsmöglichkeiten hat die Nato darüber hinaus?

Da gibt es eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, die zum Teil in der Vergangenheit in anderen Situationen schon genutzt wurden. Seit Jahren patrouillieren weitreichende amerikanische Drohnen im Schwarzen Meer vor der Krim. Das hat die Russen gestört. Im März 2023 haben sich ihre Flugzeuge dann ganz nah an eine Drohne herangewagt und Treibstoff auf diese abgelassen, sie gerammt und zum Absturz gebracht.

Als Abwehrmaßnahme? Wie läuft das genau ab?

Der Kampfjet positioniert sich im Flug vor der gegnerischen Maschine oder Drohne und lässt Treibstoff ab, der dann die Cockpithaube des hinteren Flugzeugs oder die Sensoren der Drohne verschmutzt. Es wird also von außen gegen das Fluggerät gewirkt. Das ist schon eine deutliche Reaktion, die auch die Luftsicherheit betrifft.

Welche Optionen hat man außerdem?

Wenn russische Kampfjets starten, kann die Nato als allererstes eigene Flugzeuge über ihrem Territorium aufsteigen lassen. Das wird in Moskau wahrgenommen, denn beide Seiten haben ein auf aktiver Radaraufklärung basierendes Luftlagebild. Als nächstes kann die Nato ihre Fliegerabwehrbatterien in Alarmbereitschaft versetzen und die einfliegenden Jets zum Beispiel aktiv mit Radardetektion bestrahlen. Die russischen Flugzeuge haben Technik an Bord, die erkennt, wenn der Jet von einem feindlichen Radar anvisiert wird.

Das kann die Nato also als Signal senden?

Die Radardetektion löst im gegnerischen Flieger ein Warnsignal aus und der Pilot erkennt, dass gerade auf ihn gezielt wird. Er muss also mit einem Abschuss rechnen und - so das Kalkül - ausweichen. Das wäre die nächste Stufe der Reaktion. Als drittes könnten Nato-Abfangflieger und gegnerische Flugzeuge am Himmel aufeinander treffen. Im modernen Luftkampf kommt das überhaupt nicht mehr vor, da greifen sich gegnerische Jets mit Abstandswaffen aus bis zu 160 Kilometern Entfernung an. Die sehen sich überhaupt nicht. Aber in diesem Fall würden die Jets nahe heranfliegen und signalisieren: Wir wissen, dass ihr hier seid, und wollen, dass ihr abdreht. Das kann man durch störende Flugmanöver noch untermauern. Es gibt also einige Stufen, die die Nato auf der Eskalationsleiter nach oben gehen kann. Abschuss wäre dann Ultima Ratio.

Wenn die feindlichen Flieger sich nicht abdrängen lassen?

Wenn sie nicht abdrehen oder auch, wenn sie die Gefechtsbereitschaft ihrer Luftwaffensysteme an Bord erhöhen. Dann spitzt sich die Situation zu. Das würde dem Nato-Piloten vom eigenen Radar angezeigt. Die russischen Flieger, die über Estland geflogen sind, hatten ja Luft-Luft-Raketen montiert.

Müssten dann, wenn man es ernst meint, ständig Nato-Kampfflieger über der Ostflanke in der Luft sein? Wie läuft das ab bei Baltic Sentry, der Nato-Mission zur Abschreckung russischer Angriffe über der Ostsee?

Baltic Sentry hat die Nato gestartet, weil es immer wieder Angriffe auf Unterseekabel und Kommunikationsleitungen gab, aber auch Luftraumverletzungen. Hier wollte man mit den Marinekräften ein besseres Lagebild erstellen. Die Balten selbst haben aber gar keine eigenen Luftstreitkräfte. Schon seit 2004 wechseln sich Nato-Partner in der Überwachung dort ab, und deren Bereitschaftsstufe lässt sich variieren. Nähern sich gegnerische Flieger an, dann wird als Vorstufe Sitzbereitschaft befohlen. Permanent sind dann Piloten in der Maschine und warten darauf, den Startbefehl zu bekommen. Bei Bedarf könnten die Nato-Jets einen Alarmstart durchführen. Bei weiteren Eskalationen können schließlich Kampfjets dauerhaft in der Luft sein.

Rund um die Uhr?

Dafür gebe ich Ihnen ein Beispiel: Im Kalten Krieg hatten sowohl die USA als auch Russland als Teil der nuklearen Triade permanent strategische Bomber in der Luft. Sie wollten reagieren können im Fall eines Nuklearangriffs. Viele wissen das nicht. Aber in den 1970er und 1980er Jahren waren rund um die Uhr strategische Bomber in der Luft. Da gab es ein eigenes Bereitschaftssystem, in dessen Rahmen auch am Boden Flugzeuge permanent verfügbar sein mussten - zusätzlich zu den U-Booten, die auf See waren, und zusätzlich zu den Raketensilos, die natürlich auch in einer Bereitschaftsstufe waren, für den Fall der Fälle.

Die Nato hat also einige Möglichkeiten, auf das Eindringen der russischen Kampfjets zu reagieren. Bislang tut sie noch nichts. Wie wirkt sich das aus?

Russland testet, wozu die Nato bereit ist. Auch in anderen Domänen. Wir haben Angriffe im Cyberraum, im Informationsraum mit Trollarmeen, die die öffentliche Meinung beeinflussen, wir sehen Sabotage oder eben Einflüge in polnischen, rumänischen oder baltischen Luftraum. Die Erfolge verwenden die Russen sofort im eigenen Land und sagen, die Nato kann nichts tun, die Nato ist zu schwach. Die Russen zeigen aber auch durch die Cyberangriffe, was sie noch tun könnten. Es ist kein Zufall das die letzten Cyberangriffe auf Flughäfen mit den Luftraumverletzungen zusammenfallen.

Rechnen Sie mit weiteren Provokationen?

Solange die Methode funktioniert und die Nato nicht sichtbar reagiert, wird Russland so weitermachen - und gerade im Informationsraum punkten. Bedenken Sie: Die russische Sommeroffensive in der Ukraine hat dem Kreml nicht die gewünschten Erfolge gebracht, zudem häufen sich in den letzten Wochen ukrainische Angriffe auf russische Raffinerien. Darüber redet aber niemand mehr. Alle reden über die Situation in der Baltischen See. Die Russen richten unser Auge auf das, was ihnen genehm und nützlich ist.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

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