Der Ukraine so zu helfen, dass sie gerade standhält, verlängert den Krieg zulasten der Ukraine und Europas. Tröpfchenweise Hilfe ist ineffizient, riskant und die teuerste Variante. Um den Kampf um die europäische Ordnung zu gewinnen, müssen wir rasch handeln - konkret und schnell.
Auch in Kostjantyniwka in der Ostukraine leuchten im Herbst die Blätter in den schönsten Farben. Doch die Straßen sind leer. Von den einst 67.000 Einwohnern sind nur noch wenige da, von drei Seiten nähern sich langsam russische Truppen. Geblieben sind störrische alte Leute wie Oma Ljuba. Sie schrieb kürzlich an eine ihrer Töchter in Deutschland: "Die Blätter schillern wie immer bunt, aber die Kinder sind alle weggegangen. Hört Europa uns noch rufen?"
Diese Frage trifft ins Herz. Denn dieser Krieg ist kein ferner Konflikt um ein paar Quadratkilometer im Donbass. Russlands Krieg ist ein Angriff auf Europa - auf unsere Sicherheit, unsere Freiheit, unsere Zukunft.
Wladimir Putin führt den größten Krieg in Europa seit 1945, um die europäische Ordnung grundlegend zu verändern. Putins Ziele sind ein Russland ohne geografische, politische oder rechtliche Grenzen - ein Europa ohne NATO, ohne EU, ohne US-amerikanische Sicherheitsgarantie. Ein Europa, in dem Moskau dominiert, erpresst und unterwirft.
Militärisch ist Putin weitgehend erfolglos
Putin denkt immer in Machtbeziehungen: Partnerschaften gibt es nicht, nur unterwerfen oder unterworfen werden. Putin glaubt, Menschen handeln nur aus Zwang oder gegen Bezahlung. Dass die Ukrainerinnen und Ukrainer aus Überzeugung ihre Heimat verteidigen, passt nicht in sein Weltbild - und genau das verleitete ihn schon 2014 und 2022 zu fatalen Fehleinschätzungen.
Militärisch ist Putin bislang noch weitgehend erfolglos: Der Vormarsch auf Kyjiw brach nach 72 Stunden zusammen, ukrainische Gegenoffensiven bei Charkiw, Cherson und auf der Krim zeigten, dass Russland verwundbar ist. Doch im Informationskrieg im Westen hält Putin sich weiter: Er nährt den Eindruck, er sei unaufhaltbar - und setzt auf europäische Angst, Zögerlichkeit, Unentschlossenheit und baldige politische Gelegenheiten, die ihm in die Hände spielen.
Unsere implizite europäische Strategie - der Ukraine immer nur so viel zu geben, dass sie gerade standhält, "so lange wie nötig" - ist längst ans Ende gekommen. Sie verlängert den Krieg zulasten der Ukraine und zulasten Europas. Tröpfchenweise Hilfe ist militärisch ineffizient, politisch riskant und ökonomisch die teuerste Variante.
Zwischen Putins nihilistischem Umsturzversuch der europäischen Ordnung und unseren wertegeleiteten Interessen gibt es keinen Kompromiss. Europa muss Putin besiegen. Die europäischen Partner müssen die Ukraine endlich ausstatten und zusätzlich Maßnahmen ergreifen, um Russland militärisch, wirtschaftlich und finanziell unter Druck zu setzen, damit echte Verhandlungsbereitschaft entsteht.
Dazu gehört auch, Grauzonen zu schließen: NATO- und EU-Mitgliedschaft für die Ukraine, für die Republik Moldau und für die Staaten des Westbalkans sind nicht nur Sicherheitsgarantien, sondern auch Voraussetzungen für wirtschaftlichen Wiederaufbau, Investitionen und europäisches Wachstum. Wer nur defensiv denkt, verliert. Wir brauchen eine Vorstellung davon, wie wir Europa aktiv gestalten - auch ohne amerikanische Führung.
Aktion statt Appell
Um den Kampf um die europäische Ordnung zu gewinnen, müssen wir rasch handeln - mit konkreten, schnellen nächsten Schritten statt mit langwierigen Gesamtkonzepten, mit Aktionen statt Appellen, mit eigener europäischer Wirksamkeit statt mit Anrufen bei "Daddy".
- Zunächst gilt es, umgehend gemeinsam mit der Ukraine eine integrierte Luftverteidigung aufzubauen, die Luftraumüberwachung und Systeme vernetzt, Drohnenabwehr verbessert, Zivilisten vor Raketen und Marschflugkörpern schützt sowie die wertvollen Front-Erfahrungen der Ukrainer für den Schutz der NATO-Ostflanke nutzbar zu machen.
- Parallel dazu braucht die Ukraine Abstandswaffen mit hohen Reichweiten, um russische Führungszentren, Munitionsdepots, Flugplätze und Drohnenfabriken tief im russischen Hinterland gezielt, schnell und nachhaltig ausschalten zu können. Das verschafft der Ukraine wichtige militärische Vorteile und ist gleichzeitig im europäischen Sicherheitsinteresse.
- Es ist entscheidend für einen schnellen Waffenstillstand und Chancen auf Frieden, sämtliche europäische Energie- und Rohstoffimporte aus Russland schlagartig zu beenden – kein Öl, kein Gas, kein Flüssiggas, kein Uran oder Titan dürfen mehr durch Europa gekauft werden, auch nicht über Umwege wie Indien. Jeder Euro für russische Energie und Rohstoffe verlängert den Krieg. Und auch Trump käme durch einen europäischen Stopp in Zugzwang.
- Ein weiterer sofort umsetzbarer Schritt ist ein vollständiger Stopp der sogenannten Schattenflotte in der Ostsee. Alte Tanker, die die Sanktionen umgehen, dürfen aus Umwelt- und Sicherheitsgründen nicht länger die Ostsee befahren. Einer der zentralen Geldflüsse Putins kommt dadurch zum Erliegen.
- Gleichzeitig sollte Europa ein Sofortprogramm in Höhe von zehn Milliarden Euro für die ukrainische Rüstungsindustrie auflegen, den ukrainischen Haushalt mit 50 Milliarden Euro makrofinanziell stabilisieren und mit einem mehrjährigen Multimilliarden-Programm die künftigen Streitkräfte der Ukraine systematisch aufbauen. Das Geld dafür wird einfach aus den beschlagnahmten russischen Vermögen genommen - geredet wurde jetzt darüber wahrlich genug.
- Aufbauend auf den guten Schritten der Sanktionspakete 18 und 19 müssen bestehende Sanktionen weiter verschärft und vor allem konsequent durchgesetzt werden – auch gegenüber Drittstaaten, die bei der Umgehung helfen, und die dafür endlich spürbare wirtschaftliche und politische Konsequenzen erfahren sollten.
- Solange Russland den Krieg fortsetzt, sollten keine neuen Schengen-Visa für russische Staatsbürger ausgestellt und bestehende Visa schrittweise entzogen werden – beginnend mit den Diplomatenpässen und den Visa für Funktionäre, Oligarchen und deren häufig im Schengen-Raum lebenden Kindern.
- Parallel dazu kann und sollte Europa die russische Bevölkerung endlich direkt ansprechen und klar kommunizieren, dass eine friedliche und gute Zukunft mit Russland möglich ist – aber nur, wenn dieser Krieg verloren wird.
- Um die eigene Handlungsfähigkeit zu sichern, darf die EU nicht zulassen, dass einzelne Mitgliedstaaten in einer existenziellen Lage weiter Entscheidungen blockieren. Ungarn muss ab sofort das Stimmrecht im Rat der Europäischen Union vorübergehend entzogen werden.
- Schließlich sollte Europa eine eigene Militärpräsenz in der Ukraine vorbereiten – unter EU-Rechtsgrundlage des Artikels 42, die auch für ein deutsches Mandat gangbar wäre, und offen für Partner wie Großbritannien, die Türkei, Japan oder Australien – um die Streitkräfte der Ukraine zu unterstützen und ein unmissverständliches Signal der Entschlossenheit und Abschreckung zu senden.
Dieser europäische Fahrplan ist realistisch und sofort umsetzbar. Wir sollten uns damit endlich von der Illusion verabschieden, die Zeit spiele für uns. Mit Ankündigungen, gestanzter politischer Kommunikation und bürokratischer Politikverwaltung lässt sich Putin nicht besiegen. Jeder Monat, in dem wir zögern, kostet Menschenleben, zerstört Infrastruktur und schwächt die Glaubwürdigkeit Europas.
Wenn wir jetzt handeln, können wir die Lage noch in diesem Jahr zugunsten der Ukraine wenden – und damit die Grundlage für einen gerechten Frieden schaffen.
Oma Ljuba aus Kostjantyniwka könnte erleben, wie ihre Kinder und Enkel zurückkehren, wie Leben und Hoffnung in ihre Stadt zurückkehren, wie Wachstum, Innovation, schöpferische Kraft und Wohlstand wieder an die Stelle roher Gewalt und dumpfer Zerstörung treten.
Das ist das freie Europa, das wir wollen – und das wir jetzt gewinnen können.
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