Polens Regierungschef fand deutliche Worte. Nach dem Eindringen dreier russischer Kampfflugzeuge vom Typ MiG-31 in den estnischen Luftraum vergangene Woche erklärte Donald Tusk am Montag, wie sein Land auf eine solche Provokation reagieren würde. „Die Entscheidung, Flugobjekte abzuschießen, werden wir ohne Diskussion treffen, wenn sie unser Hoheitsgebiet verletzen und über Polen fliegen“, so der Premierminister. „Hier gibt es nichts zu diskutieren.“
Kurz zuvor hatte sich der CDU-Außenexperte Jürgen Hardt ähnlich geäußert. „Nur eine klare Botschaft an Russland, dass jede militärische Grenzverletzung mit militärischen Mitteln beantwortet wird bis hin zum Abschuss russischer Kampfjets über Nato-Gebiet, wird Wirkung zeigen“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Trotz dieser Äußerungen herrscht weiterhin Unklarheit darüber, wie das Bündnis oder einzelne Länder auf Russlands „hybriden Krieg“ gegen Europa reagieren können. Nachdem am 10. September mindestens 19 Drohnen in den Luftraum Polens vorgedrungen und teilweise bis tief ins Landesinnere geflogen waren und sich am Freitag russische Flugzeuge zwölf Minuten in estnischem Luftraum aufgehalten haben, ist die Unruhe an der Nato-Ostflanke enorm.
Polen und Estland hatten in der Folge Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags veranlasst. Er sieht Beratungen vor, wenn sich ein Mitgliedstaat von außen gefährdet sieht. Seitdem wird gerätselt, wie die Allianz mit den russischen Provokationen umgehen soll.
Reagiert werde dabei im Grunde schon jetzt, und zwar auf drei Ebenen, sagt Wojciech Przybylski, Direktor der Warschauer Denkfabrik Visegrad Insight. „Auf einer ersten wird die Nato-Ostflanke von Verbündeten verstärkt, auf einer zweiten werden Sanktionen gegen Russland verschärft und auf einer dritten teilen wir den Russen hinter den Kulissen mit, welche auch militärischen Konsequenzen eine weitere Eskalation ihrerseits hätte.“
Tatsächlich kann die Allianz geschlossen reagieren, gleichzeitig aber – und das ist es, was Russlands „hybriden Krieg“ auch zu einem strategischen Risiko für den Kreml macht – können einzelne Nato-Staaten bis zu einem gewissen Maß auch unabhängig von kollektiven Beschlüssen auf Moskaus Grenzverletzungen antworten. In Nato-Kreisen, unter westlichen Diplomaten, vor allem aber unter Experten zirkulieren eine Reihe von Ideen, wie eine Reaktion aussehen könnte.
Der Abschuss
Polnische F-16- und niederländische F-35-Jets haben in der Nacht vom 9. auf den 10. September mindestens drei russische Drohnen vom Himmel geholt. Vieles deutet darauf hin, dass die Flugobjekte auf dem Weg nach Rzeszow-Jasionka waren. Der Flughafen dient der Nato als Drehkreuz für Waffenlieferungen in die Ukraine. Flugzeuge abzuschießen und den Tod russischer Piloten zu riskieren, würde indes ein anderes Eskalationspotenzial bergen.
Zwischen den Verbündeten gehen die Meinungen Experten zufolge stark auseinander. „Es ist gut, dass Tusk klargestellt hat, dass Polen russische Maschinen abschießen würde. Diese Aussage ist direkt an Moskau gerichtet. Estnischen Luftraum haben russische Flugzeuge durchquert, in Polen wird das hoffentlich nicht geschehen“, sagt Experte Przybylski.
Die baltischen Staaten und Polen, die am häufigsten von Russlands Provokationen betroffen sind, treten in der Sache zumeist forscher auf als etwa Spanien oder Portugal, die weit weg vom Kriegsschauplatz in der Ukraine liegen. Ob nun ein russisches Flugzeug aus polnischem oder estnischem Luftraum eskortiert oder gar abgeschossen wird, liegt jedoch nicht nur im Ermessen des betroffenen Landes.
Die Luftstreitkräfte der baltischen Staaten zum Beispiel verfügen über keine Abfangjäger. Sie hängen vom sogenannten Air Policing der Allianz ab. Dabei handelt es sich um Nato-Missionen, bei denen Luftstreitkräfte anderer Bündnisstaaten den Luftraum eines anderen Landes sichern oder sich an dessen Sicherung beteiligen. In Estland starten im Alarmfall aktuell italienische Flugzeuge von einem Stützpunkt in Ämari; in Polen sind Flugzeuge verbündeter Staaten stationiert, das Land verfügt selbst aber auch über moderne Luftstreitkräfte.
Die Blockade
Eine mögliche radikale Reaktion wäre die Androhung der See- und Landblockade der durchmilitarisierten russischen Exklave Kaliningrad, die zwischen Polen und Litauen gelegen ist. Dort befinden sich das Hauptquartier der russischen Ostseeflotte sowie Flugabwehrsysteme und weiterreichende Raketen bis hin zu Atomwaffen, die auch Ziele in Deutschland bedrohen können.
Von Kaliningrad aus stört Russland regelmäßig den GPS-Empfang über dem Ostseeraum. Kaliningrad ist zugleich ein Brückenkopf für einen möglichen Angriff auf die Nato – und verwundbar, weil die Exklave nicht allein auf dem Seeweg zu versorgen ist.
Während politische Entscheidungsträger sich mit entsprechenden Drohungen zurückhalten, wird eine „Krolewiec-Blockade“ – der russische Begriff wird im Polnischen seit Beginn der Invasion der Ukraine 2022 kaum noch benutzt – von polnischen Experten und Politikberatern offen diskutiert. Vorgeschlagen wird zunächst etwa erst einmal die Probe einer Blockade.
Die Verwundbarkeit Kaliningrads ist für den Kreml ein empfindlicher Punkt. Temporäre Einschränkungen des Bahntransits nach Kaliningrad durch Litauen 2022 hatten in Russland heftige Reaktionen ausgelöst. Eine offene Blockade könnte in Moskau als kriegerische Handlung verstanden werden.
Klüger wäre aus Sicht der Nato oder einzelner Nato-Staaten eine Salami-Taktik im russischen Sinne: Keine offene Blockade, aber Einschränkungen und Verzögerungen des Transits, die für Russland spürbar und auf Dauer angelegt sind.
Das Einreiseverbot
Ein Einreiseverbot für russische Staatsbürger wäre eine asymmetrische Maßnahme, um auf Russlands Grenzverletzungen zu reagieren. Sie gilt als möglicher Teil des 19. Sanktionspakets der EU.
Gefordert wird ein solcher Schritt seit der Großinvasion der Ukraine vor allem von den baltischen Staaten. Er würde ein umfassendes Einreiseverbot für russische Staatsbürger vorsehen, die ihren Wohnsitz außerhalb der EU haben. Polen, Tschechien, Finnland und die baltischen Staaten haben ihre Grenzen für fast alle Kategorien von russischen Staatsbürgern bereits geschlossen.
Laut EU-Kommission erhielten im vergangenen Jahr mehr als eine halbe Million Russen ein Visum für den Schengenraum, ausgestellt vor allem von Ländern wie Italien, Spanien, Frankreich oder Griechenland, die auf russische Touristen nicht verzichten wollen. Vor allem die östlichen Mitglieder der EU sind empört. Weil auch russische Agenten und Saboteure von dieser Bewegungsfreiheit profitieren können, sind die Sicherheitsrisiken für Europa enorm.
Zugleich ist ein Schengen-Visum oft der einzige realistische Weg für politische Flüchtlinge aus Russland nach Europa. Russische Exil-Oppositionelle wie Julia Nawalnaja warnen daher vor einem Rundumschlag gegen alle Russen. Sanktionen sollten sich gegen Oligarchen und Propagandisten richten, nicht gegen Normalbürger, so die Witwe des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny.
Der Gegenschlag
Hinter vorgehaltener Hand diskutieren einige Experten auch über spiegelbildliche Antworten auf russische Drohnenangriffe. Demnach hätte Polen nach der Attacke am 10. September Drohnen in den russischen Luftraum schicken müssen. Wie Moskau darauf antworten würde, lässt sich kaum seriös vorhersagen.
Eine Lesart sagt, Russland teste die Reaktion der Nato und ihrer Mitglieder immer weiter aus, weil diese eben nicht hinlänglich hart antworteten, eine andere, dass Moskau auf keinen Fall derart provoziert werden dürfe, da es sonst zu einem großen Konflikt kommen könnte.
Eine Möglichkeit, ein solches Risiko zu umgehen, wäre es, die Ukraine so zu ertüchtigen, dass sie Schläge tief im russischen Landesinnern gegen militärische Anlagen oder kritische Infrastruktur ausführen kann. Die Diskussion darüber könnte ablaufen wie die über Reichweitenbeschränkungen für Waffen wie Marschflugkörper oder auch bestimmte Artilleriemunition.
Während zum Beispiel Großbritannien und Frankreich der Ukraine erlauben, Marschflugkörper nach eigenem Ermessen zu nutzen, liefert Deutschland bis heute nicht den Marschflugkörper Taurus an die ukrainische Armee.
Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG mit Fokus auf Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei und die baltischen Staaten. Seine Schwerpunkte sind Rechtsstaatlichkeit, Sicherheitspolitik und das deutsch-polnische Verhältnis.
Pavel Lokshin berichtet seit 2017 für WELT als Russland-Korrespondent über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke