Er bemühte sich, ruhig zu bleiben und die Contenance zu bewahren. Doch am Ende der Verhandlung vor dem Berliner Landgericht wirkte der Vorsitzende Richter dann doch genervt. „Sie sagen jetzt gar nichts mehr“, herrscht der Jurist den Angeklagten an. „Sie sind festgenommen, weil gegen Sie ein Haftbefehl vorliegt.“

Ein Haftbefehl, verkündet und vollstreckt im Gerichtssaal: Das war der vorläufige Höhepunkt eines Verfahrens, das für sich genommen nicht weiter erwähnenswert wäre, angesichts der Eskapaden des Angeklagten aber doch eine Besonderheit darstellte – und sich für den Rechtsstaat als handfeste Bewährungsprobe erwies. Nun beschäftigt sich sogar die Berliner Justizsenatorin, die einstige Vize-Präsidentin des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Felor Badenberg (CDU), mit dem Fall.

Aber der Reihe nach: Im Zentrum des Verfahrens – eigentlich sind es mittlerweile längst mehrere Verfahren – steht ein Mann namens Arne S., ein 53-Jähriger mit einer Vorliebe für knallrote Hemden und gleichfarbige Socken, der in einem Wohnwagen haust und sich als „Friedenspianist“ bezeichnet – und sich nach einer bescheidenen Karriere als Straßenmusiker mit diversen Aktionen einen Ruf als Aktivist in der verschwörungsideologischen „Querdenker“-Szene erarbeitete.

WELT und der RBB haben zu den Verfahren, in denen Arne S. sich verantworten muss, gemeinsam recherchiert. Und darum geht es: S. hatte im April 2021 in der Nähe des Brandenburger Tores in Berlin an einer Demonstration gegen die Corona-Auflagen teilgenommen – und dabei auch seinen Flügel mitgebracht, der ihn über Jahre als Straßenmusiker begleitet hatte.

Es ging hoch her bei diesen Protesten, zu sehen ist das in Videos, die im Internet verbreitet wurden. Der „Friedenspianist“ Arne S. ist darin zu erkennen, wie er auf seinen Flügel steigt und die aufgebrachte Menge mit einem Megafon beschallt. Kurz darauf schieben seine Anhänger das Instrument in Richtung der Polizeikette – und durchbrechen diese mit dem auf einer Rollvorrichtung montierten Piano.

Die Berliner Staatsanwaltschaft wertete die Aktion als Landfriedensbruch. S. habe die Menge angestachelt. Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten verurteilte ihn im April 2023 in erster Instanz zu einer Geldstrafe von 1.050 Euro.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Denn Arne S. legte Berufung ein. Doch mit dem Verlauf der Berufungsverhandlung und dem Verhalten der Strafkammer des Berliner Landgerichts in der zweiten Instanz war er offenbar nicht einverstanden.

Was S. unternahm, um seinem Unmut Ausdruck zu verleihen, beschäftigt nun nicht nur ein weiteres Mal die Staatsanwaltschaft. Es befeuert vielmehr auch die Diskussion über die Frage, ob der Rechtsstaat angesichts zunehmender Anfeindungen und Attacken nicht bessere Mittel erhalten müsste, um sich gegen Einschüchterungsversuche und Übergriffe wehren zu können.

Denn vor rund zwei Wochen, am 20. August, beließ Arne S. es nicht dabei, während der Berufungsverhandlung die Legitimation und das rechtmäßige Handeln von Staatsanwaltschaft und Gericht anzuzweifeln. Er scharte im Anschluss an die Verhandlung rund 30 Anhänger um sich und lauerte einem der Schöffen des Verfahrens vor dem Gerichtsgebäude auf.

Einfache Bürger, die ehrenamtlich arbeiten

Schöffen sind keine Juristen und keine Berufsrichter. Sie sind einfache Bürger und arbeiten ehrenamtlich als Laienrichter, um bei Strafverfahren die „Stimme des Volkes“ einzubringen und so die Legitimation der Justiz zu stärken. Kurzum: Sie sind ein zentrales Instrument des bundesrepublikanischen Rechtsstaates.

Arne S. schien das kaum zu interessieren. Auch in diesem Fall sind Einzelheiten auf einem Internetvideo zu sehen, das ein Mitstreiter aufnahm und das von Arne S. selbst verbreitet wurde. S. beschwert sich darin zunächst in wirren Ausführungen über die angeblichen Ungerechtigkeiten des Verfahrens. Dann, als er den Schöffen erblickt, wie dieser das Gerichtsgebäude verlässt, versucht er, sich diesem in den Weg zu stellen. „Ich habe das Recht, Sie festzuhalten“, behauptet er. Dann greift er nach dem Arm des Schöffen und versucht, wenn auch erfolglos, diesen am Weitergehen zu hindern.

Der Laienrichter läuft davon und schafft es schließlich, auf seinen Motorroller zu steigen und davonzufahren. Arne S. fotografiert mit seinem Handy zuvor noch das Nummernschild des Mannes.

Die Justizbediensteten bleiben eher passiv

Der Schöffe wurde, wie ebenfalls in dem Video zu sehen, von zwei Justizbediensteten begleitet. Deren Versuche, den Laienrichter vor S. abzuschirmen, wirken eher halbherzig – was allerdings einen nachvollziehbaren Grund hat. Denn außerhalb des Gerichtsgebäudes verfügen die Justizbediensteten, anders als Polizeibeamte, über keine hoheitlichen Rechte.

Am Mittwoch dieser Woche, also zwei Wochen nach dem auf Video dokumentierten Vorfall, standen sich Arne S. und der Schöffe nun erneut gegenüber, diesmal wieder im Gerichtssaal bei der Fortsetzung des Berufungsverfahrens, in dem das Gericht entscheiden muss, ob sich Arne S. bei der Demonstration gegen die Corona-Auflagen des Landfriedensbruchs schuldig machte.

S. zieht an diesem Verhandlungstag alle Register, ganz so, als wolle er Anschauungsmaterial für jene liefern, die eine Entschlackung der Strafprozessordnung fordern, damit Gerichtsprozesse nicht durch sinnfreie Anträge unnötig in die Länge gezogen werden.

Den Vorsitzenden fordert S. in einem seiner inhaltlich nicht nachvollziehbaren Vorträge auf: „Bitte reden Sie sich jetzt nicht heraus!“ Nach einem weiteren sinnfreien Antrag schleudert er dem Vorsitzenden Richter und den Laienrichtern entgegen: „Rausgehen und ordentlich beraten!“ Dem Staatsanwalt sagt er, er werde ihm „jetzt mal ein bisschen Nachhilfestunden erteilen, also so rechtlich“. Immer wieder nennt er den Vertreter der Anklage mit Vor- und Zunamen. An seine Unterstützer im Publikum gewandt, sagt er im Anschluss an die Nennung des vollen Namens: „Können wir uns schon mal merken!“

Betrachtet man den Vorwurf in dem Verfahren und die übersichtliche Beweislage, hätte das Gericht den Berufungsprozess wohl in ein oder zwei Verhandlungstagen beenden können. Angesichts der nicht enden wollenden Aneinanderreihung von Anträgen, Belehrungsversuchen und persönlichen Anmerkungen von Arne S. befasst sich das Gericht mittlerweile am zwölften Verhandlungstag mit dem Fall.

Ein Urteil fällt das Gericht auch an diesem Mittwoch nicht. Dafür endet der Tag für Arne S. mit einer handfesten Überraschung: der Verkündung des Haftbefehls. Der Staatsanwalt wirft ihm angesichts des Vorfalls gegen den Schöffen vor, einen tätlichen Angriff auf eine Person getätigt zu haben, die einem Vollstreckungsbeamten gleichsteht. Laut Strafgesetzbuch kann ein solcher Angriff mit einer Freiheitsstrafe zwischen drei Monaten und fünf Jahren geahndet werden.

Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr

Die Anordnung von Untersuchungshaft begründet die Staatsanwaltschaft damit, dass S. über keinen festen Wohnsitz verfüge und daher Fluchtgefahr bestehe. Angesichts des mutmaßlichen Übergriffs auf den Schöffen bestehe zudem die Gefahr, dass er diesen erneut einschüchtern könnte.

S. versucht nach der Verkündung des Haftbefehls umherzurennen, will seinen rund 30 im Publikum versammelten Unterstützern sein Handy reichen, damit es nicht in die Hände der Ermittlungsbehörde fallen kann. Doch die Justizbediensteten sind vorgewarnt – und sorgen dafür, dass die Lage, hier im Saal B129, dort, wo sonst Clan-Größen und Terroristen auf der Anklagebank sitzen, nicht vollends eskaliert.

Ein auf Komödien spezialisierter Filmregisseur mit einer Liebe zu Szenen aus Absurdistan könnte versucht sein, das Gebaren des Arne S. als Drehbuchvorlage für einen Slapstick-Streifen zu verwenden. Experten sorgen sich indes. Denn Angeklagte wie der „Friedenspianist“ schaffen es mit ihren wirren Vorträgen nicht nur, Prozesse unnötig in die Länge zu ziehen, sodass Richtern und Staatsanwälten die Zeit für wichtigere Verfahren fehlt. Der mutmaßliche Übergriff auf den Schöffen zeigt zudem, dass der Rechtsstaat und seine Entscheidungsträger und Repräsentanten verwundbar erscheinen.

Die Berliner Justizverwaltung drang nach einer Reihe von Bedrohungen und Einschüchterungsversuchen gegen Zeugen, Richter und Staatsanwälte daher auf eine Gesetzesverschärfung, um Verfahrensbeteiligte besser zu schützen. Berlin brachte dazu im September vergangenen Jahres im Bundesrat einen Gesetzesentwurf ein.

Bedrohungen und Einschüchterungsversuche werden darin als eigener Straftatbestand definiert, der mit einer Strafe von bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug geahndet werden kann. Ermittler sollen zudem die Befugnis erhalten, die Telekommunikation von Tatverdächtigen abzufangen, was derzeit nur bei schweren Straftaten wie beispielsweise Mord- und Totschlag, Sexualdelikten oder Hochverrat zulässig ist.

Weil sich in der Länderkammer seinerzeit keine Mehrheit für den Vorschlag abzeichnete, ließ Berlin den Entwurf vor der Abstimmung im Plenum des Bundesrates wieder von der Tagesordnung nehmen. Die Unionsfraktion im Bundestag zeigte sich auf Anfrage von WELT allerdings kürzlich offen dafür, den Entwurf aufzugreifen. Der in dem Video dokumentierte Vorfall, bei dem Arne S. mutmaßlich den Schöffen anging, könnte der von Berlin angestoßenen Diskussion nun neuen Auftrieb verleihen.

Berlins Justizsenatorin Badenberg sagte WELT und dem RBB hierzu: „Ein Angriff auf einen Schöffen ist zugleich ein Angriff auf unsere Demokratie.“ Wer Verantwortung für den Rechtsstaat übernehme, dürfe im Moment eines Angriffs nicht alleinstehen. „Solche Taten treffen nicht nur einzelne Menschen, sondern die Institution Justiz selbst. Genau deshalb begegnen wir ihnen mit aller Entschlossenheit und stellen uns schützend vor diejenigen, die im Gerichtssaal für Gerechtigkeit einstehen.“

Die Zahl der Angriffe nehme zu. Der Regelungsbedarf müsse erneut geprüft werden. „Denn hier geht es sowohl um den Schutz des Einzelnen als auch um die Funktionsfähigkeit des Justizsystems an sich. Wer sich für Rechtsstaatlichkeit engagiert, muss dies ohne Angst tun können“, sagte Badenberg.

Arne S. sagte WELT und dem RBB zu dem mutmaßlichen Übergriff gegen den Schöffen, er habe den Mann lediglich vorsichtig am Arm gegriffen. Dazu habe er auch das Recht gehabt, behauptete S. Denn der Schöffe habe sich der Strafvereitelung schuldig gemacht und „andere rechtsbeugerische Sachen gemacht“. Das Gericht habe sich aber dennoch geweigert, ihm den Namen des Schöffen mitzuteilen. Er habe den Schöffen daher zur Feststellung seiner Identität „festhalten“ wollen. Wie er auf den Vorwurf der Strafvereitelung kam, konnte S. nicht nachvollziehbar begründen.

Über sein weiteres Vorgehen kann S. nun in der Untersuchungshaft nachdenken. Denn ein Haftrichter bestätigte den Haftbefehl am Mittwoch. Sollte es wegen des mutmaßlichen Angriffs auf den Schöffen zu einer zugelassenen Anklage kommen, müsste sich S. erneut vor Gericht verantworten. Der „Friedenspianist“ könnte sich dann erneut eine Verteidigungsstrategie zurechtlegen – und das Gericht erneut mit nicht enden wollenden Anträgen befassen.

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