Im Fall der mutmaßlich getöteten 16-jährigen Liana K. im niedersächsischen Friedland deuten neue Informationen darauf hin, dass eine Entscheidung der Justiz die Abschiebung des Tatverdächtigen Iraker verhindert hatte – nicht eine Panne der Landesaufnahmebehörde.
So schilderte Susanne Graf, Leiterin der Abteilung Migration im niedersächsischen Innenministerium, vor dem Innenausschuss des Landtages am Donnerstag, dass die Landesaufnahmebehörde durchaus große Bemühungen unternommen hatte, den Iraker in Abschiebehaft zu nehmen. Das zeigt ein Sprechzettel, der WELT vorliegt.
Zuvor hatte das Amtsgericht Hannover behauptet, dass eine mögliche Fluchtgefahr des Mannes im Juli von der Behörde nur unzureichend begründet worden wäre. Zudem habe die Landesaufnahmebehörde die Begründung auf einen entsprechenden Hinweis hin nicht nachgebessert.
Nun kommt raus: In dem siebenseitigen Antrag auf Überstellungshaft hatte die Aufnahmebehörde unter anderem konkret dargelegt, dass der Iraker, für dessen Asylverfahren nach dem Dublin-System Litauen zuständig ist, schon einmal Vorladungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ignoriert und sich zwischenzeitlich sogar in der Schweiz aufgehalten hatte. Auch eine Nachbesserung lieferte die Behörde nach Angaben von Graf innerhalb von zwei Stunden.
Dennoch entschied das Amtsgericht am 16. Juli, die Begründung sei unzureichend. Graf erklärte im Ausschuss: „Die Landesaufnahmebehörde hat von der Möglichkeit der Beschwerde gegen den Beschluss deshalb abgesehen, da sie davon ausging, dass diese auch in Anbetracht der verbleibenden Frist von vier Tagen bis zur Haftentlassung nicht erfolgversprechend wäre.“ Zu dem Zeitpunkt verbüßte der Verdächtige eine Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Hannover.
Der 31-jährige Iraker Muhammad A. steht im Verdacht, eine Jugendliche am 11. August am Friedländer Bahnhof vor einen Zug gestoßen zu haben. Unterlagen des Verwaltungsgerichts Göttingen, die WELT vorliegen, zeigen, dass der 31-Jährige bereits seit 2022 im Asylverfahren stand und seine Abschiebung nach Litauen angeordnet worden war. Der Mann wehrte sich juristisch dagegen und gab an, als Homosexueller in Litauen misshandelt worden zu sein.
Verdächtiger fiel am Tattag gleich viermal auf
Das Verwaltungsgericht Göttingen gab ihm im Januar 2023 zunächst im Eilverfahren Recht und stoppte die Überstellung. In der Hauptsache wies es die Klage jedoch am 10. Februar 2025 ab. Nach Ansicht der Richterin bestehen in Litauen keine systemischen Mängel mehr, die eine Überstellung unzulässig machen würden. Die von ihm behauptete psychische Erkrankung sei zudem nicht durch ärztliche Atteste belegt worden. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Aufenthaltsgesetz sei nicht gegeben. Dennoch kam es nie zu einer Abschiebung.
Nach WELT-Informationen aus dem nicht-öffentlichen Teil des Innenausschusses war der Tatverdächtige schon zuvor mehrfach polizeilich aufgefallen. Er soll etwa eine Frau belästigt haben, indem er ihre Autotür aufriss, ihr den Mund zudrückte. Das Verfahren wurde später eingestellt, weil er unbekannt verzogen war. Gegen ihn lief zudem ein Verfahren wegen Exhibitionismus nach einem Übergriff auf eine Mitarbeiterin des Vereins „Stark e. V.“, die den Mann als „tickende Zeitbombe“ bezeichnet haben soll. Danach folgte offenbar erstmals eine gerichtliche Einweisung in eine Klinik.
Auch wegen Nachstellung wurde Muhammad A. angezeigt, weil er einer Frau wiederholt nachging und an ihrer Tür klopfte. Auch dieses Verfahren endete im Mai 2025 ohne Anklage. Kurz vor der Tat soll er in einem Zug von Einbeck nach Friedland randaliert und einen Mann getreten haben. Zudem ist bekannt, dass der Mann unterschiedliche Aliasnamen nutzte, deren genaue Zahl die Behörden bislang nicht benennen konnten. Nach Informationen von WELT aus Sicherheitskreisen sollen diese Alias-Namen aber weitestgehend auf Registrierungsfehler der Behörden zurückzuführen seien.
Neue Details wurden im Innenausschuss auch zum mutmaßlichen Tattag bekannt. So schilderte Landespolizeipräsident Axel Brockmann, dass der Iraker bereits am Mittag in der Gemeinde Einbeck auffiel, als er versuchte, ohne Fahrschein Bus zu fahren. Erst als Polizisten eintrafen, verließ er den Bus. Gegen 14 Uhr habe ein Mitarbeiter der Stadt Einbeck der Polizei eine Person gemeldet, die im Rathaus eine Zug- oder Busreise fordere und sich dabei konfliktbereit verhalte. Die Person habe auch auf den Boden gespuckt und einen Platzverweis erhalten.
Gegen 16 Uhr soll die Polizei Muhammad A. am Friedländer Bahnhof aufgefunden haben, nachdem Passanten einen Randalierer gemeldet hatten. Dort fanden sie auf dem Bahnsteig die Leiche der jugendlichen Ukrainerin. Zu diesem Zeitpunkt bestand kein Tatverdacht gegen A. Die Polizisten machten bei ihm einen Alkoholtest, der 1,35 Promille ergab – und ließen den Iraker gehen.
Am Abend fiel A. erneut durch aggressives Verhalten auf – diesmal am Grenzdurchgangslager, in dem Flüchtlinge untergebracht sind. Brockmann erklärte: „Der Beschuldigte sollte aufgrund des hier gezeigten, aggressiven Verhaltens mit einem Rettungswagen einer psychiatrischen Klinik zugeführt werden. Dabei leistete er Widerstand gegen die eingesetzten Polizeibeamten, weswegen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte eingeleitet wurde.“ Rund zwei Wochen später wurde der Mann in der Psychiatrie wegen des mittlerweile verfestigen Verdachtes, Liana K. getötet zu haben, festgenommen.
Scharfe Kritik kam nach der Unterrichtung von der Opposition. Carina Hermann, Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU-Landtagsfraktion, sprach von einem „Affront gegenüber den Angehörigen des Opfers, gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber dem Parlament“, dass Innenministerin Daniela Behrens (SPD) nicht persönlich im Ausschuss erschienen sei. „Gerade bei einem Fall, der bundesweit für Entsetzen sorgt, erwarten die Menschen, dass die Ministerin selbst Rede und Antwort steht“, so Hermann. Statt Aufklärung habe es ein „Behörden-Wirrwarr“ gegeben, in dem Zuständigkeiten und Verantwortung hin- und hergeschoben würden. Besonders kritisierte sie, dass offen geblieben sei, warum die Landesaufnahmebehörde keine Beschwerde gegen die Ablehnung des Haftantrags eingelegt habe. Hermann warnte, der öffentliche Streit zwischen Innenministerium und Amtsgericht befeuere Rechtsextremisten. „Frau Behrens muss diesen Streit sofort beenden, Verantwortung übernehmen, lückenlos aufklären und die Strukturen in ihrem Geschäftsbereich endlich hinterfragen.“
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