Der Ton des Hisbollah-Chefs Naim Kassim war seit Ende des Krieges mit Israel im November vergangenen Jahres noch nie so aggressiv. „Was ist die Alternative, wenn der Widerstand nicht weitergeht? Dass ihr vor Israel kapituliert?“, wütete er in einer Videoansprache am Montag. „Diese Waffen sind unsere Seele, unsere Ehre, unser Land und die Zukunft unserer Kinder.“
Die libanesische Regierung will am 2. September erstmals über konkrete Pläne beraten, um die islamistisch-schiitische Miliz bis Ende des Jahres zu entwaffnen und in eine rein politische Partei umzuwandeln. Kassim nannte das eine „sündhafte Entscheidung“: Jegliche Problemlösung im Libanon beginne mit „dem Ende der israelischen Aggressionen“ und „dem Rückzug der israelischen Armee aus dem Libanon“.
Seit knapp einem Jahr steht der 72-Jährige an der Spitze der pro-iranischen Hisbollah, aber immer noch im Schatten der charismatischeren, langjährigen Führungsriege der Miliz, die von Israel im vergangenen Jahr getötet wurde. Kaum zwei Wochen nach der Niederlage gegen Israel traf die Miliz ein weiterer Schlag: In Damaskus wurde das Assad-Regime gestürzt. Die Hisbollah verlor damit ihre lebensnotwendigen Nachschubrouten über Syrien.
Ohne ihren wichtigsten Verbündeten im Nachbarland und nach der Niederlage im Krieg gegen Israel geriet die Hisbollah in eine strategisch schwierige Lage. Nach Angaben der Weltbank hat der Krieg für den ohnehin finanziell erschöpften Libanon Schäden in Höhe von elf Milliarden US-Dollar verursacht.
Das habe auch die finanzielle Grundlage der Miliz im Libanon getroffen, sagt der Sicherheitsexperte und Terrorismusforscher Hans Jakob Schindler. „Obwohl diese Einnahmequellen der Terrorgruppe von signifikanter Bedeutung sind, steht sie dennoch nicht vor dem finanziellen Aus“, so der Leiter der Nichtregierungsorganisation Counter Extremism Project.
Denn auch aus dem Ausland erhält die Terrororganisation Rückendeckung. Seit ihrer Gründung 1988 profitiert die Hisbollah von finanzieller und militärischer Unterstützung aus Teheran und hat internationale Netzwerke ausgebaut. Sie betreibt unter anderem Drogenhandel und Geldwäsche für die organisierte Kriminalität und sammelt weltweit trotz Sanktionen Spendengelder. „Damit ist das finanzielle Überleben der Gruppe garantiert, wenn auch sehr wahrscheinlich mit verminderter Größe“, sagt Schindler.
Besonders beim internationalen Drogenhandel habe es eine deutliche Zunahme gegeben. „Hier war insbesondere zu beobachten, dass die Terrorgruppe die Drogenlieferungen Richtung Europa maßgeblich gesteigert hat, um diese Einnahmequelle nach oben zu fahren. Die durch Westafrika fließenden Hisbollah-Drogen werden auf dem europäischen Markt verkauft.“
So geächtet die Hisbollah im Ausland auch ist, im Libanon hat sie noch beträchtlichen politischen Einfluss. In den USA gilt sie als Terrororganisation, in der Europäischen Union steht ihr militärischer Flügel auf der Terrorliste. Im Libanon gilt die Miliz jedoch in den Augen ihrer Unterstützer als „Schutzschild gegen Israel“. Das hat historische Gründe.
Als der Bürgerkrieg im Libanon nach 15 Jahren 1990 mit dem Ta'if-Abkommen beendet wurde, legten alle Milizen die Waffen nieder. In diesem nationalen Konsens durfte nur die Hisbollah bewaffnet bleiben, da sie gegen die israelische Militärpräsenz im Südlibanon kämpfte. Um sich gegen die Angriffe der Hisbollah und ihrer antiisraelischen Verbündeten zu wehren, hatte Israel damals bis zu zehn Prozent des libanesischen Territoriums als einen „Sicherheitsgürtel“ besetzt.
Im Jahr 2000 zog sich die israelische Armee aus dem Libanon zurück. Damit entfiel eigentlich der wichtigste Legitimationsgrund für die Bewaffnung der Hisbollah. Doch mit iranischer Unterstützung wuchsen sowohl das Waffenarsenal als auch der Machtanspruch der Hisbollah im Libanon und in der Region weiter. Dies provozierte zwei Kriege mit Israel: 2006 und Ende 2023, als sich die Hisbollah mit der Hamas solidarisierte, die am 7. Oktober vom Gaza-Streifen aus Israel angegriffen hatte.
Dabei ist die Hisbollah nicht nur eine bewaffnete Organisation, sondern zugleich die wichtigste Vertretung der Schiiten im Libanon. Dessen politisches System beruht auf einer Machtteilung zwischen den verschiedenen religiösen Konfessionen. Etwa ein Viertel der rund 5,8 Millionen Einwohner sind Schiiten.
Sie will die Hisbollah verstärkt mobilisieren, um dem geplanten Entwaffnungsvorhaben der Regierung vorzubeugen. Dabei schürt sie Existenzängste, da der schiitische Einfluss seit der Kriegsniederlage immer weiter abnimmt. „Wenn ihr euch auf die Gegenseite stellt und versucht, uns zu bekämpfen und auszurotten“, drohte Kassim Mitte August seinen Gegnern, „dann wird es kein Leben für den Libanon geben.“
Die libanesische Regierung reagierte entschärfend. „Keine Konfession im Libanon ist bedroht“, versprach Libanons Außenminister Youssef Raggi. Allerdings gebe es bei der Entscheidung, das staatliche Gewaltmonopol im Land wiederherzustellen, „kein Zurück mehr“. Die Schiiten im Libanon bezeichnete Raggi als „Geiseln der Hisbollah“, die vom Iran gesteuert werde. „Dreist“ mische sich die Islamische Republik in libanesische Angelegenheiten ein.
Stattdessen setzt die libanesische Regierung auf die USA, um dem iranischen Einfluss entgegenzuwirken. Aber US-Präsident Donald Trump will noch mehr: Im Libanon wie auch in Syrien sollen Milliarden in den Wiederaufbau fließen, für einen wirtschaftlichen Aufschwung und damit für politische Stabilität sorgen. Mit dem Versprechen von Wohlstand solle der Hisbollah die Unterstützung in der libanesischen Bevölkerung entzogen werden, erklärte der US-Gesandte für Syrien und den Libanon, Tom Barrack, vergangene Woche in Beirut.
„Wir haben 40.000 Menschen, die vom Iran für den Kampf bezahlt werden. Was wollen Sie mit ihnen machen? Ihnen ihre Waffen wegnehmen und sagen: ‚Übrigens, viel Glück beim Olivenbaum-Pflanzen‘?“, sagte Barrack vergangene Woche vor Journalisten. „Wir müssen Geld in das System bringen. Das Geld wird aus der Golfregion kommen.“ Laut Barrack sind Saudi-Arabien und Katar bereit, in eine Wirtschaftszone im Südlibanon zu investieren.
Dieser Teil des Landes ist dringend darauf angewiesen. Nach Schätzungen von Amnesty International wurden durch die israelischen Angriffe gegen die Hisbollah mehr als 10.000 Gebäude schwer beschädigt oder zerstört – zumeist im Südlibanon.
Teufelskreis gegenseitigen Misstrauens
Ein solches wirtschaftliches Projekt würde auch den israelischen Sicherheitsanforderungen entgegenkommen und de facto als Pufferzone zwischen Israel und dem Libanon fungieren. Lange war das die Aufgabe von UN-Missionen – aus israelischer Sicht haben diese jedoch über Jahrzehnte hinweg auf ganzer Linie versagt. Trotz der UN-Einsätze breitete sich die Hisbollah im Südlibanon ungebremst aus.
Darum wäre es aus israelischer Sicht eine deutliche Verbesserung, wenn das wirtschaftliche Engagement der Amerikaner und der Golfstaaten für die Friedenssicherung an der libanesisch-israelischen Grenze sorgen würde.
Um den Teufelskreis gegenseitigen Misstrauens zwischen dem Libanon und Israel zu durchbrechen, tritt Washington als Garant auf und fordert deutliche Schritte auch von israelischer Seite. Deren Armee hält trotz der Waffenruhe mit der Hisbollah weiterhin mehrere strategische Stellungen im Libanon besetzt.
In der vergangenen Woche kam von Premierminister Benjamin Netanjahu das erste Signal zu einem möglichen Rückzug. In einem Statement versicherte er, Israel wird die Präsenz der israelischen Streitkräfte „schrittweise reduzieren“, wenn die libanesische Armee „die notwendigen Schritte zur Entwaffnung der Hisbollah“ unternimmt.
Dabei benötigt Trumps Libanon-Plan nicht nur die Mitwirkung der Israelis, sondern auch die der neuen Machthaber in Damaskus, die während des syrischen Bürgerkriegs 14 Jahre lang gegen die Hisbollah gekämpft hatten. Syriens Übergangspräsident Ahmad al-Scharaa war mit seinem Sieg gegen das Assad-Regime sogar maßgeblich daran beteiligt, die Hisbollah zu schwächen.
Doch derweil sendet Scharaa aus dem Präsidentenpalast in Damaskus versöhnliche Signale, um die in den beiden Ländern allgegenwärtige Angst vor einem konfessionellen Krieg zu dämpfen. „Krieg ist die leichteste Option“, sagte Scharaa am Montag vor Gästen. „Es war in unserer Macht und international möglich und wäre sogar begrüßt worden, gegen die Hisbollah im Libanon militärisch vorzugehen.“ Er habe sich jedoch dagegen entschieden, denn der Libanon sei „ein Minenfeld“ mit großen Verflechtungen nach Syrien.
Laut Scharaa ist die größte Herausforderung für beide Länder, Bürgerkriege zu verhindern. Sollte die Lage im Libanon gewaltsam eskalieren, hätte das letztlich auch negative Auswirkungen auf Syrien. Syriens Machthaber sagte, er habe dafür die konfliktreiche Vergangenheit mit der Hisbollah ruhen lassen.
Die existenziellen Sorgen der Schiiten im Libanon sprach er ebenfalls an. „Anderthalb Millionen Menschen ins Meer zu werfen, ist keine Problemlösung. Die Menschen müssen sich sicher fühlen“, sagte der frühere Dschihadist. Wenn der Wohlstand komme, „dann werden sich die Menschen automatisch von der politischen Polarisierung abwenden“.
Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Für WELT schreibt er unter anderem über Syrien und den Nahost-Konflikt.
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