Bierzelt, Boyband und Berliner Koalitionsblues. Von Merz’ Einknick-Hymnen über Söders Bierzelt-Physik bis zu Klingbeils "Bravo"-tauglicher Machtstrategie: Warum die Bundesregierung politisch wackelt - aber popkulturell in der Champions League spielt.

Gewählte Politikerinnen und Politiker gelten gemeinhin, da ist sich zumindest der mehrheitlich auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fußende Teil dieser Welt einig, als Volksvertreter. Besagtes Volk wählt allerdings nicht nur gelegentlich seine Vertreter, es spricht auch. Das nennt man dann landläufig: den Volksmund. Und der bietet oftmals zweifelsfrei zutreffende Weisheiten. Eine Schwalbe etwa macht tatsächlich noch keinen Sommer. Aber der Volksmund kennt auch zahlreiche Einlassungen, deren Wahrheitsgehalt zu Recht angezweifelt werden darf. Nach kontemporärer Navigationswissenschaft beispielsweise führen gar nicht alle Wege nach Rom. Wohin die Wege der aktuellen Bundesregierung führen? Ebenfalls unklar. Nach Rom jedenfalls höchstens zum Staatsbesuch.

Den Schulterblick auf die vergangene Polit-Woche mit einem Querverweis auf den Volksmund zu beginnen, ist übrigens kein intro-müder Taschenspielertrick. Es ist logische Konsequenz. Denn unser Land wird von einer Koalition aus CDU/CSU und SPD geführt. Alle sind - jedenfalls Stand heute - weiterhin Volksparteien. Selbst wenn tagesaktuelle Volksbefragungen ein unerfreulich ernüchterndes Bild der einstigen Parteien-Leuchttürme der politischen Bundesrepublik zeichnen.

Mit der Arbeit des Kanzlers sind mit 29 Prozent heute nämlich nur noch weniger als ein Drittel der Bürger zufrieden. Für so ein Ergebnis hätte Angela Merkel früher nicht mal einen Hosenanzug rausgelegt. Gleichzeitig, aber ebenso demokratieverheerend, kann Friedrich Merz das Unions-SUV momentan nur noch auf Platz zwei der stärksten Parteien einparken. Die Pole-Position hat ihm ausgerechnet die AfD abgenommen, die er 2019 noch eigenhändig halbieren wollte. Nun hat er sie nach 100 Tagen als Bundeskanzler halt versehentlich stärker gemacht. Unangenehm. Nicht nur anhand dieser Entwicklung zeigt sich: Gegen das, was aus den Ankündigungen von Friedrich Merz am Ende häufig wird, war selbst Walter Ulbrichts Satz "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten" ein prognostischer Jahrhundert-Volltreffer.

Kann ich Armin Laschet noch mal sehen?

Inzwischen fragt sich die CDU-Basis vermutlich vermehrt, ob sie Armin Laschet noch mal sehen könnte. Oder nicht sogar Markus Söder die bessere Wahl gewesen wäre. Wobei ich hinsichtlich der Prophezeiungen von Foodblogger Söder (Codename: Das Orakel von Selfie) eher verhalten optimistisch wäre. Mitunter wird bei seiner Bewertung unterschlagen: Er ist der einzige deutsche Spitzenpolitiker, der jederzeit zu jedem politischen Thema jede denkbare Position einnehmen kann. Notfalls sogar innerhalb von einer Woche. Der neutrale Politik-Beobachter wartet im Prinzip nur noch auf den Tag, an dem Söders offizielle Korrespondenz mit "Liebe Freund*innen, der Genderstern muss weg!" beginnt.

Plakativstes Beispiel für diese besondere Form der Selektivstringenz ist sein Meisterstück: "Schrödingers Atomausstieg". Ein über die letzten Jahre in die Geschichtsbücher gemeißeltes Musical darüber, wie Söder sich jahrelang als den Vater der überfälligen AKW-Abschaltungen hat feiern lassen, nur um anschließend in jedem verfügbaren Bierzelt Bayerns den Grünen die Schuld für den völlig unnötigen und unüberlegten Atomausstieg zu geben. Und daher die sofortige Reaktivierung von AKWs zu fordern.

Aber auch der kleine Koalitionspartner SPD ist inzwischen umfrageschweißgebadet aus dem Euphorie-Rausch erwacht. Der Post-Bundestagswahl-Enthusiasmus, mit einem Ergebnis von weniger als 17 Prozent heute etwa 80 Prozent der Bundespolitik zu bestimmen, ist schneller verflogen als die Ekstase der Boulevard-Journaille über das neue Crossover-Traumpaar Julia Klöckner und Jörg Pilawa. Verständlich. Die SPD kam in den 1970er Jahren regelmäßig auf 45 Prozent. Selbst um die Jahrtausendwende lag man noch stets um die 40 Prozent. Heute stabilisiert man sich bei 13 Prozent. Für stolze Sozialdemokraten eine politische Privatinsolvenz. Hätte Merz statt der AfD die SPD halbiert, wäre das für die noch ein Upgrade.

Nicht alles, was nicht glänzt, ist Schrott

Womit wir wieder beim Thema Volksmund wären. Der sagt ja auch: Nicht alles, was glänzt, ist Gold. Und das ist zutreffend. Die Frontzähne von Stefan Raab beispielsweise: kein Gold. Gleichzeitig muss aber auch die sogenannte Kehrseite der Medaille betrachtet werden. Ja, nicht alles, was glänzt, ist Gold. Aber auch nicht alles, was nicht glänzt, ist Schrott. Und nicht jede Koalition, die wackelt, fällt. Die aktuelle Bundesregierung steht in vielem deutlich besser da als das öffentliche Stimmungsbild vermuten ließe. Popkulturell etwa rangiert das Berliner Regierungsviertel definitiv in der Weltspitze.

Ein Beispiel: Während Donald Trump sich regelmäßig Abmahnungen von Weltstars wie Bruce Springsteen, Rihanna, Adele oder Elton John abholt, die ihm die Nutzung ihrer Songs untersagen, sollen sich die Fantastischen Vier geehrt fühlen, dass Friedrich Merz ihr Werk zum Leitbild seiner Kanzlerkarriere gemacht hat. Vor allem die Songs über seine Haltungs-Purzelbäume beim Thema Staatsräson ("Ich bin der Einknicker. Kein Scheiß, Mann! Jeder weiß, Mann!") und seine politische Reputation ("Jetzt ist sie weg, weg, und ich bin wieder allein, allein") wirken wie Tagebucheinträge aus dem Kanzleramt.

Der Kanzlerflüsterer

Und der Juniorpartner? Vizekanzler Lars Klingbeil? Der trug sogar mal Augenbrauen-Ring. Die "Bild"-Zeitung bezeichnete ihn dafür als den "Reichstagsrocker - Gepierced im Parlament". Der Mann, der den Ton in der SPD angibt, spielte früher nämlich in Bands. Heute sind dann aber Talkshows, nicht Rock-Festivals, seine Bühne. Darum gibt es auch keinen "Bravo"-Starschnitt von ihm. Obwohl er einen verdient hätte. Immerhin hält man ihn für den Justin Bieber der SPD, seit ihm gelungen ist, woran alle SPD-Chefs bisheriger GroKos scheiterten: Koalitions-Erfolge selbst verbuchen, Niederlagen an den Koalitionspartner auslagern.

Um die SPD-Position zu Waffenlieferungen an Israel durchzusetzen, wirft Klingbeil Merz, ohne mit der (mittlerweile nicht mehr gepiercten) Wimper zu zucken, seiner eigenen Partei zum Fraß vor. Und streicht derweil den Jubel der "Israel begeht Genozid"-Völkerrechtsexperten aus den Uni-Hörsälen ein. Läuft eine SPD-Idee aber schief, etwa die geplante Ernennung von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin, wer badet dann den anschließenden Shitstorm aus? Genau: ebenfalls Friedrich Merz.

Lars Klingbeil ist kein Rockstar. Er ist Parteichef der SPD. Ohne ihn kann politisch keine wichtige Weiche für Deutschlands Zukunft gestellt werden. Gut, Justin Bieber ist auch kein Rockstar, aber andere Geschichte. Interessanter ist: Was hat Klingbeil so machtpolitisch abgezockt werden lassen? Als Regierungsviertel-Sachverständige gehe ich da auf Spurensuche: Klingbeil wächst in Munster auf. Sein Vater ist Berufssoldat. Unteroffizier. Seine Mutter betreibt einen Freibad-Kiosk. Er lebt meinen Traum - wächst mit Pommes und bunten Tüten auf. Nebenbei fahren seine Eltern Taxi, um ihren Kindern bestmöglichen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Als New York und die Welt am 11. September 2001 durch die Anschläge auf das World Trade Center erschüttert werden, lebt Lars Klingbeil in Manhattan. Er ist Praktikant der Friedrich-Ebert-Stiftung und bekommt diesen Terroranschlag hautnah mit.

Atemlos durch die Macht

Hat ihn diese Erfahrung geprägt? Obwohl - dann wäre seine Position zum Nahostkonflikt vermutlich etwas modifizierter. Also doch die Popkultur? Der Hip-Hop? Vielleicht. Als der junge Neu-Abgeordnete Klingbeil 2005 mit Piercing in Berlin ankommt, bringt das eine vermeintliche Exotik (Vorsicht: nicht Erotik!) in den angestaubten Politbetrieb, die skurrile Blüten trägt. In einem seiner allerersten TV-Interviews geht es darum, ob der Musiksender Viva nachmittags Musik von Sido zeigen darf.

Als von den Medien zum Quoten-Rebellen stilisierter Punkrocker wird Klingbeil seiner Rolle gerecht und vertritt die damalige Minderheitsposition: Er ist dagegen, Sido-Texte zu verbieten. Als Belohnung fragt ihn die Journalistin am Ende, ob er dann jetzt nicht noch ein bisschen Hip-Hop tanzen könne. Sind es womöglich die Nachbeben der Fassungs- und Hilflosigkeit über diesen Vorschlag, die ihn heute phasenweise brutal ergebnisorientiert wirken lassen? Sein Fanta 4 Song jedenfalls wäre wohl "Populär". Darin heißt es: "Feinde oder Freunde, es gibt viele Stars - Sterben kannst du nicht, wenn du in aller Leute Köpfe warst!"

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