Die unbequeme Richterkandidatin Frauke Brosius-Gersdorf zieht zurück. Es bleibt aber eine bange Frage im Raum: Droht der aktuellen Koalition dasselbe Schicksal wie der alten?

Schaut man in diesen Urlaubstagen auf die daheimgebliebene Bundesrepublik, stellt sich schnell Verzweiflung ein: Die Koalition rutscht im Deutschlandtrend der ARD ab, nur 29 Prozent sind mit ihrer Arbeit zufrieden. Die Regierungsparteien streiten so lustvoll wie in Ampelzeiten: Die Schlagzeilen beschäftigt immer noch eine eigentlich alltägliche Personalie, die Fronten sind verhärtet.

Angesichts dessen stellt sich manch ein Beobachter die Frage: Ist Regieren in diesen überreizten Zeiten womöglich gar nicht mehr möglich?

Ein Regal tiefer im Apokalypseregal bedient sich SPD-Fraktionschef Matthias Miersch: Die Frage sei berechtigt, ob die Koalition überhaupt noch belastbar sei, schreibt er, wenn sich der andere Partner nicht an Absprachen halte. Die Kritik an Brosius-Gersdorf? Das Ergebnis einer "orchestrierten Kampagne".

"Gezielt orchestrierte Herzkampagne"

In der SPD hat man sich offenbar auf eine Sprachregelung geeinigt: Gegen die Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf habe eine "gezielt orchestrierte Hetzkampagne" gewirkt, sagte auch die Rechtspolitikerin Carmen Wegge dem "Tagesspiegel".

Das Wort "Kampagne" ist ein beliebtes, zwiespältiges - erst recht, wenn es mit "Hetz"-, "orchestriert" und "gezielt" überschmückt wird wie ein geschmackloser Weihnachtsbaum.

Kampagne bedeutet: Da ging es nicht mit rechten Dingen zu. Kampagne bedeutet: Das Ergebnis ist nicht demokratisch begründbar. Kampagne bedeutet: Finstere Mächte sind am Werk.

Toxischer als es sein müsste

Auch so kann man das Vertrauen in Institutionen untergraben. SPD und Grüne bedienen mit ihren "Kampagne!"-Rufen das Bild einer ferngesteuerten Republik und leicht hypnotisierbarer Abgeordneter. Das ist toxischer als es sein müsste.

Dass viele Stimmen eine Welle der Kritik auftürmen, ist erst einmal nicht ungewöhnlich. Neu ist die Geschwindigkeit und Schärfe der Debatte. Mediale Mitspieler wie "Nius" und "Apollo", spielen auf der Klaviatur der Emotion so enthemmt, dass gelegentlich die Tasten herausspringen.

Der Einsatz von Online-Petitionen und Briefaktionen ist auch nichts Ungewöhnliches. Neu ist allerdings, dass nicht das linke, sondern das rechte Spektrum diese Werkzeuge nutzt. Bislang waren vor allem Linke kampagnenfähig durch diverse aktivistische Plattformen - übrigens oft jener, denen aufgrund ihrer klaren politischen Parteinahme gerade das Steuerprivileg der Gemeinnützigkeit abhandengekommen ist. Jetzt kommt die Revolution von rechts.

Ein grelles Fragezeichen: Überlebt die Regierung Merz?

Es ist eine Täuschung, wenn man den Fall Brosius-Gersdorf als eine Irrung der Demokratie verkauft, so schäbig der Umgang mit der Juristin auch war. Auch eine populistische Demokratie ist eine Demokratie, so wenig das Freunden der wohltemperierten Debatte schmeckt.

Was indes bleibt, ist ein grelles Fragezeichen: Kann die Merz-Regierung in diesem populistischen Zeitalter überleben? Oder zerreißt es das Bündnis ähnlich wie zuvor die Ampel?

Friedrich Merz sollte sich durchaus sorgen. Denn ihm und seinen Leuten fehlte wiederholt das Gespür für die schnellen Stimmungswechsel im Land und die Agilität, auf diese einzugehen. Die Wahl von Brosius-Gersdorf war absehbar heikel, denn ihre Auffassungen zu Abtreibung und AfD-Verbot sind für viele Konservative nicht tragbar - auch dann, wenn man alle kursierenden Lügen und Halbwahrheiten abschält.

Pragmatismus statt Ideologie

Merz hat aber auch danach die Zeiten der Zeit lange verkannt: Im Bundestag befragt, ob er an dieser Kandidatin festhalten wolle, sagte er schlicht "ja". Das war aufrecht - aber CSU-Chef Markus Söder war schon bald einen Schritt weiter: Schnell gab er kund, er glaube nicht an eine Wahl der Richterin zum Bundesverfassungsgericht. Damit kam er, wie es im Jargon heißt, "vor die Welle".

Der Kulturkampf überfordert die Koalition. Sie hat ihn zum Teil ignoriert (Merz und der noch immer amtierende Fraktionschef Jens Spahn) und zum anderen ihn begeistert mitgeführt: in Gestalt der Brosius-Gersdorf-Gegner in der Unionsfraktion und einer "Kampagne!" rufenden SPD.

Gibt es einen Ausweg? Theoretisch ja: Schwarz-Rot müsste einen pragmatischen Kurs einschlagen. Es gibt jenseits ideologischer Grabenkämpfe reichlich zu erreichen. Die deutsche Industrie steht an einem Scheideweg, doch sie kommt in den großen Debatten kaum vor. Hier ließe sich die Wirksamkeit politischen Handelns unterstreichen, mit ein bisschen Fortüne.

Ein neuer "Agenda"-Moment ist fern

Doch die Profilierungslust ist zu groß für Pragmatismus: Markus Söder konnte sich wider jede wirtschaftliche Vernunft eine Mütterrente herausverhandeln und damit zugleich dem Bündnis einen schweren Vertrauensverlust bescheren, weil im Gegenzug die versprochene Stromsteuersenkung für alle ausblieb. In der Rentenpolitik orientiert sich die Merz-Regierung an der Demografie und macht Regeln für eine alternde Republik.

An der Spitze der SPD bröckelt die Kompromissfähigkeit angesichts eines hart angeschlagenen Vorsitzenden. Das Potenzial für Zugeständnisse scheint mit dem Abschluss des Koalitionsvertrags nahezu aufgebraucht, ein neuer "Agenda 2010"-Moment ist nicht mehr zu erwarten, obwohl es ihn bräuchte.

Die Äußerungen aus der SPD klingen mittlerweile unversöhnlich: Spahn müsse zurücktreten, er habe das Vertrauen in die Zusammenarbeit und sogar in die Demokratie beschädigt. Ralf Stegner, SPD-Sonderbeauftragter für schrille Töne, denkt eigenen Bekundungen zufolge an Weimarer Verhältnisse.

Wo ist eigentlich Friedrich Merz?

Der Koalition droht die Verampelung, eine Phase, in der staatspolitische Verantwortung zum Neben- und das eigene Profil zum Hauptanliegen wird. Merz muss jetzt dringend beide Hände ans Lenkrad nehmen und sein Bündnis neu einschwören.

Einschwören worauf? "Verantwortung für Deutschland" wäre ein schönes Thema. Das steht übrigens über dem Koalitionsvertrag - falls das in Vergessenheit geraten sein sollte.

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