Die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland ist anhaltend hoch. Allein im ersten Quartal 2025 registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) insgesamt 1047 Straftaten, darunter 27 Gewalttaten und 422 Fälle von Volksverhetzung. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. Die Antwort liegt WELT vor.
Die meisten Fälle wurden dem Phänomenbereich „Politisch motivierter Kriminalität – rechts“ zugeordnet: elf Gewalt- und 554 sonstige Straftaten. Insgesamt 267 Straftaten und sechs Gewaltdelikte wurden aus „ausländischer Ideologie“ der Tatverdächtigen begangen, 145 Straftaten und fünf Gewalttaten aus „religiöser Ideologie“. Einer linken Motivation der mutmaßlichen Täter fallen demnach 15 Straftaten zu. 66 Taten und fünf Gewaltdelikte fallen unter „sonstige Zuordnung“. Stichtag der Erhebung war laut Bundesinnenministerium der 30. Juni 2025. Die Fälle zeigen ein breites Spektrum an Delikten, darunter Sachbeschädigung, Bedrohung, Beleidigung sowie mehrere Fälle von Körperverletzung oder gar gefährlicher Körperverletzung.
Zwei besonders drastische Fälle fallen in der Statistik auf: In Berlin sowie im oberfränkischen Coburg soll es je einen Mordversuch mit antisemitischer Motivation gegeben haben, beide im Februar. In Coburg soll ein iranischer Asylbewerber in einer Unterkunft einen anderen Bewohner mit einem Messer angegriffen haben, weil er ihn fälschlicherweise für einen Juden hielt. Aufgrund einer psychischen Erkrankung wird von einer Schuldunfähigkeit ausgegangen, sagte ein Sprecher der Coburger Staatsanwaltschaft WELT.
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In Berlin soll ein 19-jähriger syrischer Asylsuchender einen 30-jährigen spanischen Touristen am Denkmal für die ermordeten Juden Europas nahe dem Brandenburger Tor mit einem Messer am Hals lebensbedrohlich verletzt haben. Auch hier das Motiv laut Generalstaatsanwaltschaft Berlin: Er habe einen Juden töten wollen. Die Bundesanwaltschaft hält ihn für einen Anhänger der Terrororganisation „Islamischer Staat“.
Hinzu kommen diverse Fälle des Zeigens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Darunter können das Hakenkreuz oder andere nationalsozialistische Symbole und Ausrufe fallen. Zudem wird die israelfeindliche Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ (deutsch: Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein) als Kennzeichen der palästinensischen Terrororganisation Hamas gewertet. Dies geht auf das Hamas-Verbot des Bundesinnenministeriums unter der damaligen Ministerin Nancy Faeser (SPD) vom November 2023 hervor. Berliner Gerichte wiederum werteten die Parole zuletzt nicht als klares Hamas-Kennzeichen. Das Amtsgericht sprach vergangene Woche eine bekannte israelfeindliche Aktivistin von jenem Vorwurf frei.
Die Statistik zeigt: Die Straftaten aus sogenannter ausländischer oder religiöser Ideologie als Tatmotivation fokussieren sich stark auf die Hauptstadt, rechtsextrem motivierte Taten erstrecken sich vielmehr über das gesamte Bundesgebiet. Insgesamt wurden laut Innenministerium 470 Tatverdächtige ermittelt, sieben Personen festgenommen und ein Haftbefehl erlassen. Insgesamt 14 Personen wurden durch die gelisteten Straftaten verletzt, eine weitere schwer.
Die Zahlen sind damit weiterhin auf einem enormen Höchststand. Jüdische Gemeinden berichten seit nunmehr fast zwei Jahren von Übergriffen und Anfeindungen, auch durch israelfeindliche Proteste, die sie zu erhöhten Sicherheitsmaßnahmen bewegten. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 stiegen judenfeindlich motivierte Straftaten und Vorfälle massiv an, offenkundig ebben sie nicht nennenswert ab: Im Jahr 2024 registrierte das BKA insgesamt 6560 judenfeindliche Straftaten, darunter 178 Gewalttaten, 1438 Propagandadelikte und 3128 Volksverhetzungen, wie aus der Antwort auf die Linke-Anfrage hervorgeht.
Die Zahlen sind vorläufig und wachsen in der Regel durch Nachmeldungen noch erheblich an. So listete das Bundesinnenministerium auf die Linke-Anfrage im Mai 2024 noch 793 Straftaten auf, Stand 30. Juni desselben Jahres war diese Zahl auf 1759 angewachsen.
Die Linksfraktion fragt die Zahlen für jedes Quartal seit 2008 an. Bisher übernahm dies die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke), von der die Initiative maßgeblich ausging. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag stellte nun die Linke-Innenpolitikerin Clara Bünger die Anfrage erstmals. „Antisemitische Straftaten bedrohen jüdische Menschen in Deutschland und stellen einen Angriff auf unsere Demokratie dar“, heißt es einleitend in Büngers Anfrage.
Zentralrat fordert „Staat, der konsequent durchgreift“
Die anhaltend hohe Zahl judenfeindlicher Straftaten sei „alarmierend, für Jüdinnen und Juden aber kaum überraschend“, sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden. „Vielmehr machen sie das Ausmaß an Anfeindungen und Hass greifbar, das Jüdinnen und Juden tagtäglich entgegenschlägt. Seit dem 7. Oktober 2023 beobachten wir eine dramatische Zuspitzung des Antisemitismus in Deutschland“, so Schuster zu WELT.
„Neben den Straftaten aus dem rechtsextremen Spektrum – einem Milieu, das längst nicht mehr am Rand unserer Gesellschaft steht, sondern über seinen parlamentarischen Arm salonfähig geworden ist –, nimmt der islamistisch motivierte Antisemitismus immer weiter zu“, sagte Schuster mit Blick auf den Aufstieg der AfD und den grassierenden Islamismus. „Diese Radikalisierung darf nicht zur neuen Normalität werden.“
Schuster fordert entschiedenes Handeln gegen den Judenhass. „Was wir jetzt brauchen, ist keine Betroffenheitsrhetorik, sondern einen Staat, der konsequent durchgreift und antisemitische Straftaten in allen Erscheinungsformen bekämpft“, so der Zentralratspräsident.
Auch die Linke hält weitere Maßnahmen für dringend notwendig. „Jede antisemitische Straftat ist eine zu viel, und es passiert viel zu wenig, um Antisemitismus wirksam zu bekämpfen“, sagte Bünger WELT. „Besonders wichtig wären verlässlich finanzierte Bildungsinitiativen sowie Beratungsangebote für Betroffene von antisemitischen Anfeindungen und Gewalttaten.“ Hierbei passiere zu wenig, die Zivilgesellschaft stehe als Trägerin jener Projekte und Angebote „stärker unter Druck als je zuvor“.
Bünger fordert zudem einen anderen Umgang mit propalästinensischen Protesten. „Was der Bekämpfung von Antisemitismus überhaupt nicht hilft, ist, wenn legitime Proteste gegen israelische Kriegsverbrechen in Gaza als antisemitisch diffamiert oder gar kriminalisiert werden“, so die Linke-Politikerin. Die Linke stritt zuletzt heftig über ihre Position zu Israel und den Gaza-Krieg. Mehrere teils prominente Mitglieder traten in Folge aus und warfen der Partei Antisemitismus vor.
„Ebenso schädlich ist es, wenn deutsche Politiker Antisemitismus als vermeintlich importiertes Problem bezeichnen, dem man mit einer noch härteren Ausweisungspolitik und Abschiebungen begegnen könne“, sagt Bünger. „Das ist eine unerträgliche Verharmlosung des europäischen Antisemitismus, der eine lange Geschichte hat und besonders des Vernichtungsantisemitismus der Nazis.“
Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Er berichtet zudem regelmäßig über Antisemitismus, Strafprozesse und Kriminalität.
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