Grünen-Chef Felix Banaszak will dorthin, „wo es brennt“, so das Motto seiner Sommertour, die im Osten beginnt in Eisenach, Westthüringen, Bürgerdialog. Aus der Gegend, aus Gotha, erreichte den Parteivorstand im Juli ein „verzweifelter Hilfeschrei“ von kommunalen Grünen als Brief. Es sei gefährlich geworden, Grüner im ländlichen Thüringen zu sein, heißt es darin,
In Eisenach ist am Montagabend das Schaufenster des Grünen-Büros mit irgendetwas beschmiert, auf dem Marktplatz ein paar Meter weiter schwenken zwölf überwiegend männliche und alte Personen eine „Ami go home“-Flagge, einer trägt das Neonazi-Zeichen „Schwarze Sonne“ auf dem Handgelenk. Die Straße runter strömen Dutzende in die „Kulturkneipe Schorschl“, um den grünen Co-Vorsitzenden Banaszak zu sehen. Einige sind Grünen-Mitglieder, Polizeischutz gibt es nicht.
Auch Felix Kalbe, Mitverfasser des Hilfeschrei-Briefs, ist gekommen. In Interviews hatte er angekündigt, sich Montagabend mit Banaszak austauschen zu wollen, TV-Kameras sind da. Alle fragen: Was hilft gegen die zunehmende politische Gewalt?
Kalbe sagt, noch draußen vor der Tür, er habe zwei Wünsche. Erstens: müsse man „mehr Zeit gewinnen, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, um der Spaltung entgegenzuwirken“. Aber diese Chance habe man ohne die Strukturen einer Landtagsfraktion mit Büros überall nicht mehr. Zweitens, gerichtet an Innenminister Georg Maier (SPD): mehr Prävention, etwa durch mehr Sicherheit, Streifen und Kontaktpolizisten.
Die Konsequenz aus Kalbes Sicht: immer mehr Gewalt auf der Straße, „am helllichten Tag. Wir hatten um die Mittagszeit einen Anschlag auf unser Büro. Ein Parteifreund wurde mitten am Tag auf der Straße mit Boxschlägen angegriffen.“ Das alles geschah in Gotha.
Für Eisenach, wo die rechtsextreme Kampfgruppe „Knockout 51“ herkommt, sagt die junge Grünen-Stadträtin Nele Bär: „Richtig sicher fühle ich mich nicht mehr.“ Sie hätten bis jetzt das Glück gehabt, noch nicht körperlich angegriffen worden zu sein, aber die Stimmung habe sich verschärft: „Beleidigung, Bedrohungen und Sachbeschädigung gehören auch zu unserem Alltag dazu.“ Sie berichtet etwa von Ausspucken vor Wahlkampfständen. Bär glaubt: Sehr viele Vorfälle zeigten viele Parteimitglieder gar nicht mehr an, „weil so viele Verfahren eh eingestellt werden“.
Ein Kriminalstatistik-Zwischenstand für das vergangene Jahr in Gesamtdeutschland besagte: Die Grünen werden unter allen Parteien am häufigsten Opfer von Straftaten, die AfD aber häufiger von Gewaltdelikten. Konkrete Zahlen für Gotha oder Eisenach konnten die Behörden zunächst nicht bereitstellen. Aber: Auch die Thüringer AfD sagt: Bedrohungen und Beschimpfungen seien so üblich geworden, dass eine gewisse Normalisierung eingetreten sei – und „nicht jeder einzelne Vorfall dem Landesverband gemeldet oder gar Anzeige erstattet“ werde, denn Ermittlungsverfahren würden „häufig ergebnislos eingestellt“.
„Normal“ oder „alltäglich“ fällt häufig im Kontext Gewalt gegen Engagierte. Auch im Brief aus Gotha steht: Sprüche wie „‚Euch Grüne hängen wir auf‘ waren alltäglich.“
87 Minuten vergehen im „Schorschl“ ab seinem erstem „Prost“, bis es um den Brief geht. Dabei, er sagt viele andere Sätze vorher, fragt der Co-Parteichef: „Wie viel Sicherheit kann eine Partei eigentlich für ihre Ehrenamtlichen schaffen? Und wo sind auch ihre Möglichkeiten endlich, weil es eigentlich die Sicherheitsbehörden sind, die dafür sorgen müssen, dass man hier angstfrei bei den Grünen, den Linken oder den Sozialdemokraten sein kann?“
Und dann die Gretchenfrage: „Dann ist aber trotzdem auch die Frage“, sagt Banaszak, „was können wir sozusagen an unserer Programmarbeit ändern, an unserer Kommunikation, um zum Beispiel vielleicht weniger Feindbild zu sein in den ostdeutschen Ländern?“ Könnten die Grünen bestimmte Debatten, etwa die über Krieg und Frieden anders führen?
„In Ostdeutschland ist Eigenheim oft das einzige Hab und Gut“
Überlegungen zu Ost-Sensibilität in diesem Komplex hatte Banaszak schon in einem Strategiepapier für die Parteiarbeit in den ostdeutschen Ländern ausgearbeitet. Die Analyse: Die Grünen hätten den Friedensbegriff verloren an AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht, die ihn nun vor sich her trügen. Es sei zu viel über Waffengattungen gesprochen und zu wenig ihrer Grünen-Politik aus dem Friedensziel heraus begründet worden.
Banaszak ist also vorbereitet, als ein Mann im Israel-und-Palästina-Friedenstauben-T-Shirt in Eisenach wissen will: „Was ist aus meiner alten Friedens-, Umwelt- und Klimaschutzpartei geworden?“ Der Mann kritisiert auch Waffenlieferungen an die Ukraine.
Banaszak sagt ihm: „Wenn man Menschen, die eine andere Auffassung als ich haben, automatisch zu Putin-Verstehern oder zu Kreml-Propagandisten erklärt, dann muss man sich nicht wundern, wenn die gesellschaftliche Polarisierung immer größer wird.“ Auch der Mann mit dem Friedenstauben-T-Shirt applaudiert höflich, als Banaszak seine lange Antwort schließt. Nur: Banaszak kann das nicht jedem Zweifler so ausführlich erklären.
Für Felix Kalbe, den Briefschreiber aus Gotha, liegt hier der Kern des Problems: „Gerade so einen drastischen Positionswechsel wie den der Grünen beim Thema Aufrüstung und Waffenlieferungen kriegt man nur hin, wenn man Leute vor Ort hat, die ihn erklären können“, sagt er draußen nach Banaszaks Auftritt. Die meisten inklusive des Parteichefs sind mindestens beim zweiten Bier.
Kalbe sagt, beim Parteitag der Grünen in Düsseldorf 2022, wo es um Zustimmung zur Lieferung schwerer Waffen für die Ukraine ging, sei er im Vorfeld siche gewesen, mit Nein zu stimmen. Dann sei er in die Ukraine gereist, nach Lwiw, in ein Krankenhaus, um Hilfslieferungen zu überbringen, habe mit jungen Männern mit Fronterfahrung gesprochen. „Danach war für mich klar: Ich muss mit Ja stimmen. Aber um das zu erklären, braucht man die Leute vor Ort.“
Das ist die Kommunikation; das andere ist Banaszaks Programmatik-Frage. Luis Schäfer, einer der Landeschefs in Thüringen, sagt vor dem „Schorschl“, die Grünen müssten ihre Programmatik erweitern, nicht alte aufgeben. Die Frage sei: „Wie docken wir als Bündnis 90/Die Grünen in Thüringen, im Osten an?“ Dazu müsse man zum Beispiel wissen, etwa „zur damaligen Debatte des Heizungsgesetzes: Wenn man im Westdeutschen ein Eigenheim hat, dann gilt man in großen Teilen eher als wohlhabend. In Ostdeutschland ist das Eigenheim oft das einzige Hab und Gut, ohne Geld, um es dort hinein zu investieren.“
Und man müsse die „sozialen Fragen“ stellen, jene nach der „Rente, nach dem Vermögen, oder: Was kann ich mir in Ostdeutschland leisten? Was könnte ich mir Westdeutschland leisten? Als IT-Ingenieur würde ich in Westdeutschland deutlich mehr verdienen, das treibt den Wegzug und damit die Folgen des demografischen Wandels, der im Osten besonders stark ist“, sagt Schäfer. Das Thema müsse in der Gesamtpartei Beachtung finden.
Banaszak hatte drinnen auch eine Idee geäußert, wie man die Grünen beim Verbreiten solcher Ideen im Osten stärken könnte, neben direkter finanzieller Unterstützung: „Vielleicht“, sagt er, „findet sich ja auch jemand, der Lust hat, nachdem es keine Landtagsfraktion mehr in Thüringen gibt, ein Regionalbüro neben dem von Katrin Göring-Eckardt hier in Thüringen aufzumachen.“
Er selbst eröffnet derzeit eine Abgeordnetenbüro-Zweigstelle in Brandenburg an der Havel. Bedeutet: grünes Personal vor Ort, das wiederum den verbliebenen ehrenamtlichen Politikern helfen kann, neben der Ratsarbeit unter die Leute zu gehen. Manche vorm „Schorschl“ sagen: Allein mal wieder ins Gespräch zu kommen, statt in Telegram- und Social-Media-Blasen übereinander zu sprechen, würde so vieles besser machen.
Aber Gesprächspartner finden sich schwer bei einer Drei-Prozent-Partei, wie es die Thüringer Grünen sind. Besuche von Spitzenleuten wie Banaszak, auch das wird im Gothaer Brief moniert, sind selten. Noch seltener sind grüne Bürgermeister, die man auf solchen Veranstaltungen treffen könnte. Einen von ihnen ermuntert dessen minderjähriger Sohn zum Pressegespräch. Der ehrenamtliche grüne Ortsteilbürgermeister will anonym bleiben, nicht raus aus seinem kleinen Ort in die „Hassblase“ gezogen werden.
„Die Leute haben das Denken im Kopf, dass die Grünen Klimakleber sind“, sagt der 17-Jährige, offenkundig stolz auf den Vater. Aber wenn die Menschen einmal sehen würden, wenn mit einem Grünen „im Dorf wieder was passiert, die Wege wieder in Schuss gebracht sind, es wieder ein Dorffest“ gebe, dann ändere sich das Bild.
Es sei denn, aus Berlin kommen Störsignale, wie von Grüne-Jugend-Chefin Jette Nietzard. In einem Podcast sinnierte sie unter anderem über Gewaltanwendung im Fall eines Bundestagswahl-Siegs der AfD 2029. Montagabend gegen Mitternacht ist das aber kein Thema in Eisenach – Banaszak diskutiert noch geduldig mit dem Mann im Israel-Palästina-Shirt, der Russland und Israel gleichsetzt.
Jan Alexander Casper berichtet für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke