Vor 50 Jahren, mitten im Kalten Krieg, wurde die sogenannte Schlussakte von Helsinki unterzeichnet - ein Erfolg der Entspannungspolitik. Im Westen überwog damals allerdings die Skepsis, ein sowjetischer Dissident sprach gar von einem "Schandfleck" der westlichen Diplomatie. Als klare Sieger sahen sich die Staaten des Warschauer Pakts, allen voran die Sowjetunion. Es war ein Scheinsieg, sagt die Historikerin Yuliya von Saal. "Ohne den KSZE-Prozess wäre die Öffnung der Sowjetunion und damit des ganzen Ostblocks so nicht möglich gewesen."

Lässt sich diese Form der Entspannungspolitik zwischen dem Westen und dem heutigen Russland wiederholen? Yuliya von Saal ist skeptisch. Im Kalten Krieg habe es bei allen Unterschieden auch gemeinsame Interessen gegeben. "Das ist die minimale Voraussetzung, um zu einem Dialog zu kommen. Das haben wir jetzt leider nicht."

ntv.de: Als der KSZE-Prozess begann, gab es bereits die Ostverträge der sozialliberalen Bundesregierung von Willy Brandt, also die Annäherung der Bundesrepublik an die osteuropäischen Staaten; es gab auch den Salt-I-Vertrag, der eine Rüstungsbegrenzung vorsah. War die KSZE nur ein weiterer Schritt in der globalen Entspannungspolitik?

Yuliya von Saal: Ohne die Ostverträge wäre die KSZE nicht möglich gewesen. Denn eigentlich geht die Geschichte des KSZE-Prozesses noch sehr viel weiter zurück, und zwar in die 1950er und 60er Jahre. Schon da gab es seitens der Sowjetunion Initiativen, eine solche Konferenz ins Leben zu rufen. Die vorrangigen Ziele waren damals, die Anbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis zu verhindern, die USA aus Europa fernzuhalten und den Status quo der Nachkriegsgrenzen in Europa zu sichern. Auf diese Vorschläge sind die westeuropäischen Staaten nicht eingegangen. Die Idee konnte erst weiterverfolgt werden, nachdem die Sowjetunion akzeptiert hatte, dass eine Annäherung ohne die USA nicht möglich ist.

Blieb dann als Hauptziel der Sowjetunion im KSZE-Prozess die Anerkennung der Grenzen?

Es gab insgesamt 35 Signatarstaaten der KSZE-Schlussakte. Und so merkwürdig es heute klingen mag: Sehr viele dieser Staaten, auch blockübergreifend, verfolgten unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Ziele. Zudem veränderten sich diese Ziele im Lauf des KSZE-Prozesses. Das gilt auch für die Sowjetunion. Ja, die Bestätigung des territorialen Status quo war eins ihrer wichtigsten Anliegen. Aber die Sowjetunion wollte die multilaterale Diplomatie auch nutzen, um sich ihre Dominanz im Ostblock bestätigen zu lassen. Es ging ihr zudem um wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit: Die Sowjetunion hoffte, von den Fortschritten in Westeuropa zu profitieren. Und natürlich ging es um friedliche Koexistenz, um Annäherung und militärische Eskalationskontrolle.

Das war ein ernsthaftes Ziel der Sowjetunion?

Ja. Dabei spielte auch eine persönliche Komponente eine Rolle: Der damalige Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, hatte den Zweiten Weltkrieg erlebt. Ihm lag daran, eine friedliche Koexistenz im Ost-West-Konflikt zu erreichen. Man versprach sich aber auch eine propagandistische Wirkung: die UdSSR und der sowjetische Generalsekretär als die großen Friedensstifter Europas.

Was wollten die Nato-Staaten erreichen?

Auch hier waren die Interessen unterschiedlich. Der Bundesrepublik ging es vor allem um humanitäre Aspekte. Dies war die Zeit der deutschen Teilung - die Bundesregierung wollte Kontakte zwischen den Menschen in Ost- und Westdeutschland erleichtern. Der DDR wiederum ging es vor allem um eine völkerrechtliche Anerkennung der eigenen Staatlichkeit. Frankreich versprach sich Steigerung des eigenen Einflusses und die Aufrechterhaltung des Dialogs mit dem Osten über den Kulturaustausch. Die USA und Kanada waren in erster Linie an einer Entspannung und Verständigung mit Moskau interessiert. Menschenrechte standen zunächst nicht auf ihrer Agenda. Das veränderte sich im Laufe der 1970er Jahre, unter anderem durch die Wahl von Jimmy Carter zum US-Präsidenten 1976.

Aber in der Schlussakte von Helsinki spielen die Menschenrechte doch eine große Rolle.

Die "Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit" wurde als siebtes Prinzip in die Schlussakte aufgenommen. Und dann war natürlich der "Korb III" humanitären Aspekten gewidmet, auch den "menschlichen Kontakten". Um diese Bestimmungen wurde sehr hart gerungen. Aber sie standen noch nicht so sehr im Mittelpunkt der Konferenz.

Dennoch waren die Zugeständnisse des Ostblocks bei den Menschenrechten ein Erfolg für den Westen.

Damals wurde die Schlussakte im Westen keineswegs als Erfolg gesehen. Im Gegenteil, in den USA überwog eher das Desinteresse und in der Bundesrepublik die Kritik. Auch einige sowjetische Dissidenten waren schwer enttäuscht. Der 1. August 1975 werde "als Schandfleck in die Geschichte der westlichen Diplomatie" eingehen, schrieb beispielsweise Pjotr Grigorenko. Die Einigungen, die es im Bereich der Menschenrechte gab, lagen damals überhaupt nicht im Fokus. Zumal sich einige Prinzipien aus der Schlussakte gegenseitig klar widersprachen. Aber genau das war es, was den KSZE-Prozess am Leben hielt.

Dann war aus der Perspektive des Jahres 1975 die Sowjetunion der große Gewinner von Helsinki?

Im Jahr 1975 fühlte sich die Sowjetunion auf alle Fälle als einer der größten Sieger. Das gilt auch für die Führung der DDR und ihren Wunsch nach internationaler Anerkennung. Dafür waren beide Staaten bereit, ein paar Kröten zu schlucken. Aber man kann die Schlussakte von Helsinki nicht aus der Perspektive von 1975 bewerten. Ohne die Nachfolgekonferenzen und deren Dynamik, ohne die Wirkungen auf die einfache Bevölkerung, wäre die Schlussakte ein Papiertiger ohne Bedeutung geblieben. Wenn man über die Wirkung der Schlussakte von Helsinki spricht, muss man eine spätere Perspektive einnehmen.

Es gibt dieses Foto von DDR-Staatschef Erich Honecker, auf dem er zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und US-Präsident Gerald Ford sitzt. War das für Honecker der Hauptgewinn?

Internationale Anerkennung war eines der Hauptanliegen der DDR. Die Unterzeichnung der Schlussakte wurde dann auch als großer Erfolg gefeiert und der eigenen Bevölkerung entsprechend präsentiert.

Sowohl die sowjetische "Prawda" als auch die SED-Zeitung "Neues Deutschland" veröffentlichten die gesamte Schlussakte. Warum haben die das gemacht?

Das war Teil der Vereinbarung: "Der Text der vorliegenden Schlussakte wird in jedem Teilnehmerstaat veröffentlicht, der ihn so umfassend wie möglich verbreitet und bekanntmacht", heißt es darin. Aber sie hätten das auf einzelne Auszüge beschränken können. Die Sowjetunion ist auch vorher schon völkerrechtlich bindende Vereinbarungen eingegangen, die sie dann nicht vollständig eingehalten hat. Und die Schlussakte war kein völkerrechtlich verbindliches Dokument. Sie haben den Text veröffentlicht, weil sie sich sicher gefühlt haben.

Und dann stand in der "Prawda", dass die Teilnehmerstaaten Menschenrechte und Grundfreiheiten achten werden.

Man war einfach sicher, dass diese Publikation keine Konsequenzen nach sich ziehen würde. Es gab einige wenige Dissidenten, aber keine große, lebendige Menschenrechtsbewegung, weder in der Sowjetunion noch in der DDR. Die Risiken schienen minimal und Konsequenzen beherrschbar zu sein. Und in der Schlussakte stand ja auch, dass es keine Einmischung von außen in innere Angelegenheiten der beteiligten Staaten geben sollte. Aus heutiger Sicht war das ein Pyrrhussieg - ein teuer erkaufter, kurzfristiger Sieg.

Das ist einer der Widersprüche, die Sie angesprochen haben: Einerseits wurde die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten vereinbart, andererseits wurden Menschenrechte und Grundfreiheiten zugesichert.

Ja. Natürlich hätte die Sowjetunion den siebten Grundsatz am liebsten nicht in die Liste der insgesamt zehn Prinzipien aufgenommen. Um dieses Prinzip wurde mit insgesamt 56 Sitzungen am längsten verhandelt. Und immer, wenn später die Rede auf Menschenrechtsverstöße kam, konterte die Sowjetunion mit einem Verweis auf die Nichteinmischung. Ein weiteres Beispiel: Im Prinzip drei wurde die Unverletzlichkeit der Grenzen anerkannt. Die Betonung lag aber auf gewaltsamer Änderung der Grenzen, während das Prinzip acht mit dem "Selbstbestimmungsrecht der Völker" das Prinzip drei relativierte, da es die Möglichkeit der gewaltfreien Änderung beinhaltete. Dieses Prinzip wurde auf Druck der westlichen Teilnehmerstaaten in den Katalog aufgenommen und war besonders für die Bundesrepublik wichtig.

1976 wurde in Moskau eine "Helsinki-Gruppe" gegründet, im selben Jahr wurde eine solche Gruppe in der Ukraine gebildet. Von der KSZE angestoßen waren auch die Charta 77 in der Tschechoslowakei und Solidarność in Polen. All diese Gruppen wurden von den jeweiligen Staaten bekämpft. Warum war die Schlussakte trotzdem so bedeutsam?

In der Entstehung der Menschenrechts- und Bürgerrechtsbewegung in den Warschauer-Pakt-Staaten sehe ich den größten Erfolg des KSZE-Prozesses. Die Schlussakte von Helsinki wurde zu ihrer Zitiergrundlage sowohl gegenüber der eigenen Regierung als auch gegenüber den Signatarstaaten. Natürlich wurden diese Gruppen vom Machtapparat unter Druck gesetzt. Aber es gab ein Zeitfenster, in dem allein die Moskauer Helsinki-Gruppe 195 Dokumente mit protokollierten Verstößen gegen die in Helsinki vereinbarten Bestimmungen und über 30 schriftliche Appelle an die KSZE-Signatarstaaten übermittelte.

Worin lag da der Erfolg?

Auch hier ist der Erfolg langfristig zu sehen. Durch diese Dokumentation und dadurch, dass die Verstöße an die anderen Staaten gemeldet wurden, haben sie es geschafft, dass Menschenrechte überhaupt auf die Agenda der internationalen Beziehungen gekommen sind. Denn es war auch ihr Verdienst, dass die USA in den 70er Jahren die Menschenrechte in den Fokus genommen haben. Moskauer Helsinki Gruppe stand im Austausch mit der von Millicent Fenwick gegründeten US-Helsinki-Kommission, die erst nach einer Reise von 19 Abgeordneten des amerikanischen Kongresses in die Sowjetunion und nach dem Austausch mit sowjetischen Dissidenten ihre Arbeit aufnahm. Wenn wir uns die Nachfolgekonferenzen anschauen, zum Beispiel Belgrad 1977/78 und Madrid 1980 bis 1983, dann waren die Menschenrechte sehr viel wichtiger als noch in Helsinki. Das war ein absolutes Novum, auch wenn die einzelnen Menschenrechtsgruppen immer stärker unter Druck gesetzt wurden. Einzelne Aktivisten wurden eingesperrt, teilweise in die Psychiatrie gesteckt. Andere sind ausgewandert. Aber die haben dann häufig die Arbeit im Ausland fortgesetzt. Zum Beispiel Ljudmila Alexejewa, eine der Gründerinnen der Moskauer Gruppe. Ihre Arbeit in den USA war sehr wichtig. Sie hat viel dafür getan, um die westliche Öffentlichkeit für das, was in der Sowjetunion passierte, zu sensibilisieren.

Unterm Strich war der KSZE-Prozess für den Warschauer Pakt und vor allem für die Sowjetunion also kontraproduktiv.

Aus heutiger Sicht, ja. Zumindest für die sowjetische Führung; für viele Menschen in der Sowjetunion galt das natürlich nicht, für sie war die KSZE ein Gewinn. Nach der Unterzeichnung der Schlussakte kam es nicht nur zur Bildung von Bürgerrechtsgruppen, es gab auch tatsächlich eine vorübergehende Besserung der Lage für viele Menschen im Ostblock. Zum Beispiel stiegen die Zahlen der Ausreisen von Deutschstämmigen an - aus Polen, aus der UdSSR, auch aus Rumänien. Auch in der DDR stieg die Zahl der Ausreiseanträge. Das war alles auf die KSZE-Schlussakte zurückzuführen. Auch wenn das zeitlich begrenzt war.

Wie lange hielt das an?

Für die Sowjetunion und die anderen Staaten des Warschauer Pakts war natürlich nicht hinnehmbar, dass die Menschen sich bei Ausreiseanträgen auf die KSZE-Akte beriefen. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre wurde die Politik wieder deutlich restriktiver, vor allem in der Sowjetunion, wo es ja auch viele Menschen gab, die nach Israel auswandern wollten.

Welche Rolle spielten die Nachfolgekonferenzen?

Ihre Bedeutung liegt vor allem darin, dass man sich weiterhin traf. Denn die Spannungen zwischen Ost und West nahmen Ende der 1970er Jahre zu, etwa durch den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan oder den Nato-Doppelbeschluss 1979. Es begann eine neue Phase des Rüstungswettlaufs. Dass dieses Gesprächsforum beibehalten wurde, war schon viel wert. Und eben in der Aufwertung der Menschenrechte als Gegenstand der Diplomatie. Das hatte auch einen Effekt auf die westlichen Gesellschaften, mit der Folge, dass ein internationales Netzwerk von Menschenrechtsgruppen entstand. Und ich sehe einen dritten Effekt.

Worin lag der?

Meine These ist, dass der KSZE-Prozess eine Grundlage für die demokratischen Reformen in der Sowjetunion in den späten 1980er Jahren unter Michail Gorbatschow lieferte und diese Reformen auch absicherte. Ohne den KSZE-Prozess, ohne die wiederkehrenden Treffen und Ausweitung der politischen zur militärischen Entspannung, wäre die Öffnung der Sowjetunion und damit des ganzen Ostblocks so nicht möglich gewesen. Sowohl Gorbatschows Philosophie des "neuen Denkens" als auch die Priorisierung der allgemeinmenschlichen Werte gegenüber dem Klassenkampf und die damit einhergehende Erweiterung des Sicherheitsbegriffs um die neuen humanitären Aspekte hatten ihre Wurzeln in der KSZE-Schlussakte und formten sich unter Wirkung des KSZE-Prozesses aus. In den späten 1980er Jahren waren es nicht mehr die Dissidenten, sondern die Liberalen im Apparat, die mit den KSZE-Vereinbarungen argumentierten.

1994 wurde die KSZE in OSZE umbenannt, in "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa". Offiziell gibt es die OSZE sogar noch. Spielt sie aktuell irgendeine Rolle?

Ich würde sagen, dass die OSZE durchaus noch eine Rolle spielt. Sie hat ein Konfliktverhütungszentrum, einen Hochkommissar für nationale Minderheiten, sie führt unzählige Feldmissionen und Wahlbeobachtermissionen durch. Wir sind in der heutigen Zeit viel zu sehr mit Kriegen und Krisen konfrontiert, um uns vorstellen zu können, dass die OSZE erfolgreiche Arbeit macht. Aber die OSZE ist nicht bedeutungslos, wenn auch mit geringer politischer Macht.

Der derzeitige Konflikt zwischen Russland und dem Westen wird häufig mit dem Kalten Krieg verglichen. Lässt sich aus dem KSZE-Prozess für die Welt von heute lernen?

Die Lage, in der wir uns heute befinden, ist eine andere als die Zeit der 1970er Jahre. Das liegt daran, dass Russland - anders als damals die Sowjetunion - nicht an Frieden in Europa interessiert ist. Das ist der Fakt, von dem wir ausgehen müssen: Russland will keinen Frieden in Europa. Deshalb fehlt die Basis für einen vergleichbaren Dialog. Ich habe erwähnt, dass es im KSZE-Prozess unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Interessen gab, aber in den 70er Jahren hatten beide Blöcke ein gemeinsames Interesse: Deeskalation und friedliche Koexistenz. Das ist die minimale Voraussetzung, um zu einem Dialog zu kommen. Das haben wir jetzt leider nicht. Es gibt diesen minimalen Konsens mit Russland nicht. Für die Beendigung Russlands Krieges in der Ukraine können wir einen Dialog wie den KSZE-Prozess daher leider nicht als Instrument nutzen. Russland setzt auf Macht und Gewalt, nicht auf Normen oder auf eine regelbasierte Ordnung; Putin führt einen hybriden Krieg gegen die westlichen Demokratien, gegen europäische Werte und verstößt gegen all die vor 50 Jahren in Helsinki vereinbarten Prinzipien und Normen.

Mit Yuliya von Saal sprach Hubertus Volmer

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