Schon die DDR wusste, dass man Nachbarstaaten mit Migranten erpressen kann. Als Begriff ist "Migration als Waffe" umstritten, als Konzept umso erfolgreicher - wie Russland an der EU-Ostgrenze demonstriert.
Die DDR gab sich unschuldig. "Durch das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik kann jeder Ausländer - ungeachtet seiner Nationalität, seiner Rasse, seiner Religion, seiner politischen Überzeugung und seines Herkunftslandes - ohne jegliche Beschränkung im Transit reisen", teilte das SED-Regime der Bundesregierung 1985 mit. Offene Grenzen, ausgerechnet im Mauerstaat?
Der DDR ging es nicht um Reisefreiheit, ihr ging es um Geld und politischen Druck. Sie nutzte den Flughafen Schönefeld, um Flüchtlinge aus Ländern wie Sri Lanka, Ghana, dem Libanon und dem Iran nach West-Berlin und in die Bundesrepublik zu lenken. Per Bus wurden die Ankommenden zum Bahnhof Friedrichstraße gebracht, von dort ging es mit der S-Bahn nach West-Berlin. In einigen Herkunftsländern wurden sogar Anzeigen geschaltet, die einen "schnellen und reibungslosen Transit" in den Westen versprachen.
Insgesamt kamen in den Jahren 1985 und 1986 mehr als 170.000 Asylbewerber in die Bundesrepublik, deutlich mehr als die Hälfte davon über Schönefeld. Angst vor einer "Asylantenschwemme" griff um sich. Für die amerikanische Migrationsforscherin Kelly Greenhill ein klarer Fall: Die DDR setzte Migration als Waffe ein.
"Nach wie vor ein großes Problem"
Das Vorgehen, mit dem Russland und sein Vasallennachbar Belarus seit ein paar Jahren die Europäische Union ärgern, ist alles andere als neu. In einer Mail an ntv.de erläutert Greenhill, Staaten hätten dieses Instrument "mindestens seit den Zeiten des zweiten assyrischen Großreichs" genutzt - einem Imperium, das bis zum Jahr 605 vor Christus Bestand hatte.
Ebenso wenig neu ist der Vorwurf, den Alexander Dobrindt seit einiger Zeit verstärkt an Moskau und Minsk richtet. Neu ist allenfalls der Nachdruck, mit dem der Bundesinnenminister ihn erhebt. "Migration als Waffe einzusetzen, ist nach wie vor ein großes Problem", sagte der CSU-Politiker Anfang der Woche beim Besuch der polnische Ostgrenze. "Wir verurteilen die Instrumentalisierung der Migration und die Nutzung von Migranten als 'Waffe' für politische Zwecke scharf", hieß es ein paar Tage zuvor in einer Erklärung, die Dobrindt und fünf weitere europäische Innenminister auf der Zugspitze verabschiedet hatten.
Die Formulierung "Migration als Waffe" klingt heftig und das soll sie auch. Bereits seit 2021 lockt der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko Migranten und Flüchtlinge aus Ländern wie Afghanistan und dem Irak nach Belarus, um sie an die Grenze zur EU zu bringen. Zunächst ging es ihm vermutlich darum, die EU dazu zu bewegen, die Sanktionen gegen sein Regime zu lockern. Geklappt hat das nicht. Jetzt ist das Ziel möglicherweise schlicht, Polen und Deutschland zu destabilisieren oder das deutsch-polnische Verhältnis zu belasten.
Was auch immer das Motiv ist: Für die Flüchtlinge geht es erst per Flugzeug nach Minsk, dann in Bussen weiter an die Grenzen zu Lettland, Litauen und vor allem Polen. Die wollen die Flüchtlinge jedoch nicht aufnehmen: Die Bilder von Zeltlagern im Niemandsland zwischen Belarus und Polen, in denen Tausende Migranten festsaßen, gingen 2021 um die Welt.
Humanitäre Katastrophe
Das alles erinnert schon sehr an die 1980er Jahre in der DDR - eine Zeit, die ein gewisser Wladimir Putin als KGB-Agent in Dresden verbrachte. Er dürfte mitbekommen haben, was sich damals in Berlin abspielte.
Anders als vor 40 Jahren in Berlin gibt es an der Ostgrenze der Europäischen Union allerdings keinen reibungslosen Transit. Was sich in den Wäldern zwischen Belarus und Polen abspielt, ist eine humanitäre Katastrophe. Teils wochenlang sind Flüchtlinge dort unterwegs. Belarussische Grenzsoldaten drängen die meist erschöpften Menschen ins Nachbarland, wo diese versuchen, sich nach Westen durchzuschlagen. Ein Afghane erzählte der Deutschen Welle unlängst, die belarussischen Soldaten seien aggressiv gewesen und hätten die Flüchtlinge geschlagen. Sie hätten eine Leiter am fünf Meter hohen Stahlzaun an der Grenze aufgestellt und ihn gezwungen, auf der anderen Seite herunterzuspringen.
In Polen ergeht es den Flüchtlingen kaum besser: Wer ihnen dort hilft, macht sich nach polnischem Recht strafbar. Asylbewerber, die es durch oder über den Zaun ins Land schaffen, werden zurückgewiesen, wenn sie entdeckt werden. Ein Recht auf Asyl gibt es in der polnischen Grenzregion zu Belarus nicht mehr. Russland macht es an seiner Grenze zu Finnland und Estland längst ebenso. Und Finnland reagierte ähnlich wie Polen: Vor einem Jahr verabschiedete das Parlament in Helsinki ein Gesetz, das die in Europa eigentlich verbotenen Pushbacks gestattet.
"Das Phänomen ist das Problem, nicht der Begriff"
Die rigide Abschottung nach Osten hat den Segen der Europäischen Union. Um dies zu untermauern, spricht die EU-Kommission bereits seit Jahren davon, dass Belarus "Migration als Waffe" einsetze. Auch gegen Russland erhebt Brüssel den Vorwurf, es nutze "Migration als Waffe im hybriden Krieg gegen die EU". Selbst die grüne Außenministerin Annalena Baerbock verwendete diese Formulierung. Sie war und ist auch ein Signal an Polen: Wir sehen und verstehen eure Probleme.
Auffallend ist, dass Baerbock, Dobrindt und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen allesamt von "Migration als Waffe" sprechen, nicht von "Migranten". Umstritten ist der Begriff dennoch. "Was tun wir, wenn wir auf solche Sprachformeln zurückgreifen?", fragt der Migrationsforscher Felix Bender in einem Text für das Netzwerk Fluchtforschung. "Wir ändern die Perspektive, mit der wir auf Asylsuchende blicken. Diese erscheinen nicht mehr als Menschen, die nach internationalem Schutz vor politischer Verfolgung suchen, sondern als Gefahr."
Kelly Greenhill ist da anderer Meinung. "Der Begriff ist nicht das Problem", so Greenhill zu ntv.de. "Das Phänomen ist das Problem, ebenso wie die unzureichenden politischen Reaktionen darauf." Zudem seien nicht die Migranten und Flüchtlinge selbst die Waffen - sie seien die Opfer und Schachfiguren, die von Staaten und nicht-staatlichen Akteuren als Waffen eingesetzt würden. Den polnischen Umgang mit den Migranten kritisiert sie als politische Instrumentalisierung des belarussischen Vorgehens, um innenpolitische Vorteile zu erzielen. Die Folge: Warschau zeigt sich besonders rigide.
Vier Varianten von "Migration als Waffe"
Aus Greenhills Sicht ist der Einsatz von Migration als Waffe deutlich vielfältiger als das, was Belarus und Russland an ihren Grenzen zur EU inszenieren. In einem bereits 2010 erschienenen Buch listet sie 56 Fälle aus den Jahren 1956 bis 2006 auf, in denen Staaten versuchten, andere Staaten mit Migranten unter Druck zu setzen. Fast drei Viertel davon seien zumindest teilweise erfolgreich gewesen, darunter auch der Schönefeld-Fall aus den 1980er Jahren. Verglichen mit der deutlich geringeren Erfolgsrate militärischer Interventionen seien diese drei Viertel eine beeindruckende Quote.
Derzeit arbeitet Greenhill an einer überarbeiteten Neuauflage ihres Buches. Dabei hat sie "Dutzende weitere Fälle" ermittelt. Sie hält deshalb an ihrer Einschätzung fest, dass Migration als Waffe den Erpresserstaaten "sehr effektiv dabei hilft, ihre Ziele zu erreichen, wenngleich unter hohen humanitären Kosten".
Greenhill unterscheidet vier unterschiedliche Arten, wie Migration als Waffe eingesetzt wird:
- Gesteuerte Migration mit dem Ziel der Enteignung: Unter diese Kategorie fallen beispielsweise sogenannte ethnische Säuberungen.
- Militärisch gesteuerte Migration: Dies sind Vertreibungen, von denen sich der Täter einen unmittelbaren militärischen Vorteil erhofft. Die Vertriebenen werden entweder ausgeplündert oder zum Militärdienst gezwungen.
- Exportiv gesteuerte Migration: Hier handelt es sich sowohl um die Ausweisung politischer Dissidenten, um das eigene System zu stabilisieren, als auch um das, was Belarus und Russland machen: die "Ausweisung" von eigens ins Land geholten Migranten, um Unruhe in anderen Ländern zu stiften.
- Und schließlich die künstlich gesteuerte Zwangsmigration: Darunter fallen tatsächliche oder angedrohte Vertreibungen, mit denen ein Land erpresst werden soll.
In die letzte Kategorie könnte fallen, was Putin in Syrien gemacht hat: Die massive Zerstörung syrischer Städte durch russische Luftangriffe hat ohne Zweifel die Fluchtbewegungen aus Syrien zusätzlich angeheizt. Zumal Russland sogar humanitäre Hilfe für Syrer in Syrien unterbunden hat - mutmaßlich mit dem Ziel, weitere Migrationswellen auszulösen.
Die Reaktion ist ein Dilemma
Ähnlich verhält es sich bis heute in der Ukraine. Die Vertreibung von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern war sicherlich nicht der Hauptgrund für den russischen Überfall vor dreieinhalb Jahren. Aber mittlerweile dürfte es ein wichtiger Aspekt für den fortgesetzten Terror sein, mit dem Russland die Ukraine überzieht.
Für Staaten, die in dieser Form angegriffen werden, ist die Reaktion meist ein Dilemma. Natürlich ist es möglich, dem Erpresser nachzugeben, aber das ist in der Regel keine gute Idee. Eine weitere Möglichkeit sieht Greenhill darin, "die Wirksamkeit des Instruments durch die Aufnahme der Vertriebenen zu verringern". So habe es die Europäische Union im Fall der Flüchtlinge aus der Ukraine gemacht. "Sollte Putin tatsächlich beabsichtigt haben, die EU durch die Vertreibung der Ukrainer unter Druck zu setzen, so hat sie ihm das Instrument aus der Hand genommen, indem sie den Ukrainern ein befristetes Bleiberecht gewährte." Ein solches Vorgehen sei jedoch deutlich einfacher, wenn die betroffene Gruppe ethnisch, kulturell oder religiös "als ungefährlich angesehen" werde. Dass dies dauerhaft funktioniert, ist ebenfalls nicht sicher.
Am anderen Ende der Skala können Zielländer auf künstlich provozierte Migrationsströme reagieren, indem sie mit maximaler Härte reagieren: indem sie ihre Grenzen schließen und versuchen, "das Problem - wie bei gewöhnlichen Migrationsströmen - zu externalisieren", also auszulagern, so Greenhill. Das ist, was die EU derzeit macht.
Die Kohl-Regierung zeigte sich spendabel
Das Problem: Für liberale Demokratien kann es mit hohen politischen und moralischen Kosten verbunden sein, andere Länder zu bestechen, um Migranten fernzuhalten. "Die Missachtung humanitärer und rechtlicher Verpflichtungen kann die einwanderungsfeindliche Stimmung im Inland noch verstärken", sagt Greenhill. "Ein Wettlauf nach unten und die Abwälzung von Verantwortung verringern die Verwundbarkeit langfristig nicht; sie verlagern Probleme nur in die Zukunft, wo sie oft noch größer werden."
Für die DDR jedenfalls lohnte sich das Geschäft mit den Asylbewerbern. Sie kassierte durch den Transport mit der staatlichen Fluggesellschaft und den Verkauf von S-Bahn-Tickets für die Reise in den Westen. Aber das war vermutlich nur ein willkommenes Nebengeschäft. Im Bundestagswahlkampf 1986 sicherte die SPD der SED zu, im Falle eines Wahlsiegs die Staatsbürgerschaft der DDR zu respektieren - was die Bundesrepublik stets abgelehnt hatte.
Zwar verlor die SPD die Wahl im Januar 1987, die DDR-Staatsbürgerschaft wurde nicht anerkannt. Aber die SED hatte nicht nur mit den Sozialdemokraten verhandelt, sondern auch mit der Bundesregierung von Kanzler Helmut Kohl. Nach dem Ende der DDR-Transitregelung zeigte Bonn sich "spendabel", wie der "Spiegel" seinerzeit schrieb. Unter anderem wurden der DDR 300 Millionen Westmark für die Entschwefelung ihrer Braunkohle-Kraftwerke zugesagt.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke