Es ist kurz nach neun am Dienstagabend in Kiew, als ein kurzer Moment der Besinnung die Hektik des Protests unterbricht. Dicht gedrängt, Schulter an Schulter, stehen Tausende Demonstrierende auf dem Platz vor dem Präsidentenbüro und singen die ukrainische Nationalhymne.
Es sind vor allem junge Menschen gekommen – nicht nur Studenten, sondern auch Soldaten in Uniform. Viele von ihnen halten selbstgemalte Plakate in die Höhe. Auf einem steht: „Korruption liebt Stille.“ Auf einem anderen: „Stoppt das Gesetz!“
Gemeint ist das Gesetz Nr. 12414, das am Dienstag vom ukrainischen Parlament verabschiedet wurde und landesweit für einen Aufschrei gesorgt hat. Auch in Städten wie Lwiw und Odessa gingen Menschen auf die Straße – es sind die ersten größeren Proteste gegen die Regierung seit Beginn der russischen Invasion vor dreieinhalb Jahren. Sie fallen in eine Zeit, in der Russlands Armee entlang der gesamten Frontlinie langsam vorrückt und die ukrainische Zivilbevölkerung massenhaft mit nächtlichen Drohnenangriffen terrorisiert.
Das neue Gesetz sieht vor, die Unabhängigkeit des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) und der dazugehörigen Sonderstaatsanwaltschaft (SAPO) deutlich einzuschränken. Beide Institutionen sollen künftig der Kontrolle des Generalstaatsanwalts unterstellt werden – einer Person, die vom Präsidenten ernannt wird. Gerade im Kontext des geltenden Kriegsrechts bedeutet das eine tiefgreifende Machtverschiebung, die es der Regierung zumindest indirekt erlaubt, Einfluss auf Korruptionsermittlungen zu nehmen.
Viele Demonstranten hofften bis zuletzt, Präsident Wolodymyr Selenskyj würde das Gesetz angesichts der öffentlichen Kritik stoppen. Doch am späten Dienstagabend wurde auf der Website des Parlaments vermerkt, dass Selenskyj es unterzeichnet hatte. In einer Videobotschaft nach Mitternacht verteidigte er die Entscheidung. Man müsse die Antikorruptionsbehörden von russischem Einfluss säubern, erklärte er: „Die Antikorruptionsstruktur wird weiterarbeiten – aber ohne russische Einflüsse. Alles muss davon befreit werden.“
Zugleich kritisierte er NABU und SAPO für eine angeblich mangelnde Effizienz. Besonders bei schwerwiegenden Korruptionsfällen rund um Ukrainer, die sich ins Ausland abgesetzt hätten, gebe es keine Fortschritte. Er habe am Dienstag mit den Leitern beider Institutionen telefoniert, so Selenskyj.
Kritiker wie Transparency International bewerten das neue Gesetz dagegen als weiteren Versuch der Regierung, unabhängige Institutionen gezielt zu schwächen. In den vergangenen Tagen hatte der ukrainische Geheimdienst SBU Razzien gegen aktuelle und ehemalige Anti-Korruptionsbeamte durchgeführt. Laut NABU fanden über 70 Durchsuchungen statt, 15 Mitarbeitende waren betroffen – ohne richterliche Anordnung und auf Grundlage vager Vorwürfe. Der SBU rechtfertigte sein Vorgehen mit dem Vorwurf, einige NABU-Ermittler hätten Fluchthilfe für Ukrainer geleistet, ein Mitarbeiter soll sogar für den russischen Geheimdienst gearbeitet haben.
In Kiew wiederum wird spekuliert, die Razzien könnten eine Reaktion auf Ermittlungen gegen Ex-Minister Oleksij Tschernyschow sein – einen engen Vertrauten des Präsidenten. Er soll sich laut Korruptionsjägern während seiner Amtszeit illegal bereichert haben, streitet die Vorwürfe jedoch ab. „Es geht darum, NABU und SAPO zum Schweigen zu bringen – genau in dem Moment, in dem sie Selenskyjs innerem Zirkel gefährlich nahekommen“, teilte das nicht-staatliche Anticorruption Action Center (AntAC) auf „X“ mit.
„Die Ukraine ist nicht Russland!“
Laut AntAC stellt das neue Gesetz auch „eine direkte Bedrohung für den EU-Kurs der Ukraine“ dar. Transparenz und die Unabhängigkeit zentraler Institutionen seien Grundvoraussetzungen für einen möglichen Beitritt. EU-Kommissarin Marta Kos nannte das neue Gesetz einen „ernsthaften Rückschritt“ auf dem Weg zum EU-Beitritt. Ein Sprecher der EU-Kommission warnte, die finanzielle Unterstützung für die Ukraine sei an eine demokratische Regierungsführung geknüpft.
Bei den Protesten am Dienstagabend in Kiew war die Sorge vieler deutlich zu spüren, das Land entwickele sich zu einer Autokratie. „Sie ruinieren gerade unsere Demokratie“, sagte die 36-jährige Marie im Gespräch mit WELT. „Ich erwarte, dass er (Selenskyj, d. Red.) uns hört und dieses quasi-russische Gesetz zurücknimmt. Wir wollen unser Land gemeinsam aufbauen. Wir haben eine Stimme, und wir werden sie erheben.“
Auch der 21-jährige Matthew, gehüllt in eine ukrainische Flagge, zeigte sich tief besorgt: „Ich habe große Angst, dass wir unsere Demokratie verlieren. Unsere Regierung hat heute die wichtigsten Institutionen abgeschafft, die gegen Korruption gekämpft haben.“ Dann rief er einen Slogan, der an diesem Abend immer wieder zu hören war: „Die Ukraine ist nicht Russland!“
Präsident Selenskyj, der Umfragen zufolge in der Ukraine weiterhin großes Ansehen genießt, wurde bei den Protesten nur vereinzelt direkt kritisiert. Deutlich häufiger richtete sich der Unmut gegen AndriJ Jermak, den Leiter des Präsidialbüros. Er gilt als mächtigster Mann im Land nach Selenskyj – manche bezeichnen ihn sogar als „Schattenpräsidenten“.
Die Veruntreuung staatlicher Mittel bleibt ein anhaltendes Problem in der Ukraine. Der Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) von Transparency International stuft das Land als das korrupteste Europas ein – nur Russland schneidet noch schlechter ab. Weltweit liegt die Ukraine in dem Ranking auf Rang 105 von 180 Staaten.
Gleichzeitig berichten ukrainische Korruptionsjägerinnen, dass das Land in den vergangenen Jahren auch Fortschritte gemacht habe. Doch der Krieg bremse sie in ihrer Arbeit aus. Behörden hielten viele Dokumente mit Verweis auf das Militärgeheimnis unter Verschluss.
Trotzdem kamen immer wieder Vorwürfe ans Licht. Anfang 2023 zum Beispiel, stand das Verteidigungsministerium im Visier, sogar der Job des damaligen Ministers Oleksij Resnikow war zwischenzeitlich in Gefahr. Die Beschaffungsstelle stand unter Verdacht, Verträge für die Verpflegung von Soldaten zu krass überhöhten Preisen abgeschlossen zu haben. Es ging damals um 330 Millionen Euro.
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