Von der Uferböschung blickt man auf den Staudamm von Saporischschja. Eine monumentale Wand aus Beton. Unten funkeln die Wellen des Dnipro, am Horizont rauchen die Schlote der Fabriken. Der Staudamm, unter Stalin in Betrieb genommen, ist ein Sinnbild für die Industrialisierung der Sowjetunion und er ist das Wahrzeichen von Saporischschja.
Um die Industriestadt im Südosten der Ukraine tobt ein heftiger Kampf, militärisch und propagandistisch. Russlands Präsident Wladimir Putin hat sie 2022 samt der umliegenden Region und der drei Oblaste Cherson, Donezk und Luhansk zu russischem Staatsgebiet erklärt – ohne, dass seine Soldaten die Stadt jemals eingenommen haben. Seither wird sie von den Russen wahlweise als Kriegsziel militärischer Eroberung ausgegeben oder als Vorbedingung für einen möglichen Frieden gefordert.
Obwohl das für Kiew ausgeschlossen ist, sehen amerikanische Diplomaten den Rückzug der Ukraine aus Saporischschja und der annektierten Gebiete als möglichen Weg zur Beendigung des Krieges. Die Menschen dort wollen jedenfalls nicht kampflos aufgeben – und berufen sich auf ihre kriegerischen Vorfahren.
Oleksander Zechelnyk blickt auf den Staudamm. Der bärtige Mittfünfziger ist Fremdenführer und bringt oft Soldaten aus der ganzen Ukraine hinauf auf diese Uferböschung. Aber nicht wegen des Panoramablicks auf den Staudamm. Er zeigt auf helle Felsen, die aus dem Wasser ragen: „Die Felsen sind wie die Geschichte der Ukraine. Sie sind aus den Tiefen des Dnipro plötzlich wieder aufgetaucht und sie erinnern uns daran, wer wir eigentlich sind.“
Der Wasserspiegel sank, nachdem die Russen vor zwei Jahren weiter flussabwärts den Kachowka-Staudamm zerstört hatten, mit katastrophalen Auswirkungen auf Menschen und Natur. Da wurden plötzlich die Felsen im Dnipro wieder sichtbar, die hier jahrhundertelang als natürliche Furt dienten. Archäologen haben zudem alte Holzboote gefunden, Münzen und Kanonenkugeln – Relikte aus der Kosakenzeit. „Denn Saporischschja, das ist die Stadt der Kosaken“, sagt Zechelnyk.
Er führt weiter über die Flussinsel Hortyca. Sie ist zentral für die Mythologie des modernen ukrainischen Staats. Das liegt an den Palisaden, dem Dutzend Holzhäuschen und der Kirche, die auf dem Hügel über dem Ufer stehen.
Das kleine Freilichtmuseum ist eine Rekonstruktion der wichtigsten Kosakensiedlung der Ukraine, ein nationales Kulturerbe. „Die Kosaken gehören zu uns, zur Identität der Ukrainer. Wir sind als militärische Nation entstanden und sind es immer geblieben“, sagt Zechelnyk, der für den Museumskomplex arbeitet.
Die Kosaken waren ein Kriegervolk, das sich vor 500 Jahren entlang des Dnipro ausbreitete. Abenteurer, Abtrünnige und geflohene Leibeigene, die in der weiten ukrainischen Steppe Siedlungen errichteten und sich mit ihrer gefürchteten Saporoger Armee gegen die Angriffe ihrer stärkeren Nachbarn wehrten: Polen, Russen, Türken und Tataren.
Auf der Insel Hortyca hatten sie ihre bedeutendste Siedlung errichtet, eine Art Hauptstadt und das politische Zentrum ihrer Kriegerdemokratie. Sie gilt in der Ukraine als Wurzel ihrer Unabhängigkeit und Staatlichkeit.
„Nachfahren der Kosaken“
„Geschichte ist für die Soldaten wichtig, denn wirkliche Geschichte motiviert zum Kampf“, sagt Zechelnyk zwischen den Holzhäuschen. „Die meisten unserer Soldaten sehen sich als Nachfahren der Kosaken.“ Er selbst ist nicht nur Fremdenführer, sondern auch Veteran. Ab 2022 hat er Saporischschja vor den Russen verteidigt, als Infanterist, eineinhalb Jahre lang, solange es seine Gesundheit erlaubt hat. Nur 30 Kilometer südlich der Stadtgrenze wurden die Russen aufgehalten – dort verläuft bis heute die Front.
Weit mehr als eine halbe Million Menschen leben in der Stadt, die meisten von ihnen sprechen Russisch. Sie leben unter täglichem Beschuss und Putins Okkupationsdrohung. „Unsere Regierung wird Saporischschja sicher nicht aufgeben“, sagt Ihor. Auch er spricht Russisch. Er steht an einer Ampel am Sobornyi Prospekt, der langen und schnurgeraden Hauptstraße, die durch die gesamte Stadt führt.
Laute Lastwagen donnern an den Wohnhochhäusern aus der Stalinzeit vorbei. Zwei ältere Nachbarinnen mischen sich ein: „Putin hat uns nicht eingenommen. Und unsere Verfassung verbietet es, unsere Gebiete abzutreten“, sagt Alexandra. Ihre Freundin Tatjana wird laut: „Davon träumt der Kreml doch! Wir werden Saporischschja nicht hergeben. Das hier ist das Land der Kosaken, die Wiege des Kosakentums! Wir werden kämpfen um unsere Stadt!“
Schon 2014 haben die Einwohner gezeigt, was sie von der russischen Welt halten. Nur einige Straßen weiter, am 13. April, dem sogenannten „Eiersonntag“. Damals hatten prorussische Aktivisten für den bereits geflohenen und abgesetzten Ex-Präsidenten Viktor Janukowytsch demonstriert. Solche russlandfreundlichen Aufmärsche gab es in vielen großen Städten überall im Süden und Osten der Ukraine.
Aber während sie in Donezk und Luhansk von paramilitärischen Einheiten unterstützt wurden, Regierungsgebäude besetzten und separatistische Republiken ausriefen, endete der Versuch in Saporischschja mit der Demütigung der prorussischen Kräfte. Sie wurden von proukrainischen Demonstranten gestoppt, stundenlang eingekesselt und schließlich mit Mehl und Eiern beworfen. Saporischschja blieb ukrainisch, eine separatistische „Saporoger Volksrepublik“ wurde verhindert.
Für Natalia Lobach ein wichtiges Zeichen des Widerstands. „Die russische Propaganda behauptet, dass die Menschen in der Süd- und Ostukraine zu Russland wollen. Ich will zeigen, dass das nicht so ist“, erzählt die Grafikdesignerin in einem Café in Saporischschja.
Bekannt geworden ist sie durch ihre Kriegsplakate. Ihre Bildsprache ist einfach wie aggressiv, in Schwarz und Rot auf weißem Grund. Da ertrinkt etwa ein russischer Soldat in einem Meer von Blut, darüber der Schriftzug „Asowsches Meer“. Bilder, inspiriert von Szenen aus Städten, die im Frühjahr 2022 von der russischen Armee besetzt worden sind: Frauen, die sich Panzern in den Weg stellen, spontane Demonstrationen tausender Menschen gegen die Okkupanten.
Lobach hat täglich neue Grafiken im Internet veröffentlicht, später wurden sie im Stadtzentrum von Saporischschja ausgestellt. Ikonische Bilder, die den Widerstand der Bevölkerung gegen Russland versinnbildlichen. „Aus einem spontanen Gefühl der Wut heraus“, sagt sie.
Vor dem Café versucht ein Mann, mit Verlängerungskabeln seinen Tesla aufzuladen. Daneben steht ein Geländewagen der Armee mit Störsendern gegen Drohnen. Fast täglich werden die Bewohner von russischen Drohnen, Raketen oder Gleitbomben terrorisiert.
Einmal sei eine Rakete keine hundert Meter neben ihr eingeschlagen, erzählt Lobach. Nur durch ein Wunder sei sie unverletzt geblieben. Eine andere hätte fast ihre Wohnung zerstört. „Nun, man gewöhnt sich dran, egal, wie falsch es ist“, sagt sie. Den ganzen Krieg hat sie in Saporischschja verbracht.
Auch Iwan will bleiben. Vor vier Monaten hat er an der Hauptstraße sein eigenes Café eröffnet. „Liberty“ heißt es und wird vom Konterfei der Freiheitsstatue geschmückt. Hinter der Espressomaschine hängt ein Fähnchen des nationalistischen Asow-Regiments, daneben, auf schwarzem Grund, das Bild eines Kosaken mit Flinte.
Das Café ist beliebt bei Soldaten, denn Iwan gibt ihnen Rabatt. Obwohl er erst 24 Jahre alt ist, ist er bereits Veteran. Als Nationalgardist hat er im Frühjahr 2022 Mariupol verteidigt, einen Monat lang unter heftigen Verlusten, bis seine Einheit den Kontakt zu ihren Kommandeuren verlor.
Als Zivilist verkleidet, versuchte er zu fliehen, wurde aber von den Russen gefangen genommen. Es folgten acht Monate Kriegsgefangenschaft, bis er durch einen Gefangenenaustausch freikam. „Ich hatte Glück. Aber mich quält der Gedanke an meine Kameraden, die nicht rausgekommen sind“, sagt Iwan. Dass Saporischschja ukrainisch bleibt, daran hat er keinen Zweifel. „Auch der Laden läuft gut, ich bin ruhig.“
In der kleinen Kosakenkirche auf der Dniproinsel Hortyca blicken die Ikonen stumm von den Wänden, es riecht nach Weihrauch, die Holzdielen knacken unter den Stiefeln. Männer und Frauen stehen im Halbkreis zusammen, viele von ihnen tragen Militärjacken. Sie schauen auf einen offenen Sarg. Darin liegt ein Mann mit Schnurrbart, die Kleidung in Flecktarn. Auf der Stirn ein Band mit Ikonen, ein Strauß roter Rosen liegt zu seinen Füßen.
„Wir verabschieden heute einen Hauptmann, der im Dienst an der Front von einer russischen Drohne getötet wurde. Er lässt seine Frau zurück und seinen kleinen Sohn, der keine vier Jahre alt ist“, sagt Pater Stepan, der Militärkaplan in der kleinen Kirche. Vor dem Sarg steht die weinende Witwe. Sie wird von einer Frau gestützt, ihr Gesicht ist verzerrt vom Schmerz, davor die gefalteten Hände.
Pater Stepans Gewand ist olivgrün, über der Brust hängt eine goldene Stola. „Dies ist ein besonderer Ort. Es ist eine Kirche, in der man Helden begräbt“, sagt er. Dutzende Male hat er das bereits getan. Dann hebt er die Stimme. Liturgischer Gesang erfüllt das kleine Gotteshaus und übertönt das Schluchzen der Trauernden.
Der Tote war Polizist. Er hat sich freiwillig der Armee angeschlossen, um seine Stadt zu verteidigen. Gefallen ist er an der Front, nur 45 Autominuten südlich von Saporischschja. „Wir blicken auf diesen toten Soldaten und sehen, wie eine neue Ära ukrainischer Identität erwacht“, sagt Pater Stepan mit tragender Stimme. „Wir sehen die Würde des Kriegers und den Ruhm der Kosaken. Sie werden unseren Kriegsgeist stärken.“
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