Erzkonservative und Rechtsradikale machen Stimmung gegen die Bundesverfassungsgerichtskandidatin Brosius-Gersdorf. Die Unterstellung: Sie wolle auch sehr späte Abtreibungen ermöglichen. Ein Missverständnis. Der Juristin geht es um etwas ganz anderes.
In nur wenigen Wochen wandelte sich Frauke Brosius-Gersdorf von einer anerkannten Verfassungsrechtlerin zu einer Symbolfigur eines scharfen gesellschaftspolitischen Streits: Soll das ungeborene Leben uneingeschränkt Menschenwürde genießen oder erst ab der Geburt? Und wie lässt sich der uralte Konflikt zwischen Schutz des Lebens und Selbstbestimmung der Schwangeren verfassungskonform lösen?
Der Stein des Anstoßes war ein Satz aus einer Expertenanhörung im Bundestag: Brosius-Gersdorf sagte dort, dass es "gute Gründe" gebe, "dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt". Schnell formierte sich ein Empörungssturm, der teils bewusst aus dem Kontext gerissen war. Brosius-Gersdorf reagierte mit einer klaren Stellungnahme: "Es stellt eine Verunglimpfung dar, aus dieser Position eine Legalisierung der Abtreibung bis zur Geburt abzuleiten". Sie betonte: "Selbst wenn die Menschenwürde erst für den Menschen ab Geburt gelten sollte, wäre das ungeborene Leben nicht schutzlos. Ihm steht ab Nidation das Grundrecht auf Leben zu, wofür ich stets eingetreten bin." Nidation meint die Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter.
Brosius-Gersdorfs Klarstellung ist entscheidend, denn sie hebt das vielschichtige und sensibel austarierte Spannungsfeld hervor, in dem die Juristin ihre Position verortet.
Menschenwürden lassen sich nicht gegeneinander abwägen
Brosius-Gersdorf hat klar aufgezeigt, dass die gegenwärtige Rechtslage im Bereich Schwangerschaftsabbruch inkonsistent ist und auf einem verfassungsrechtlich problematischen Kompromiss beruht. In ihrer Stellungnahme schrieb sie: "Unter der herrschenden rechtsdogmatischen Prämisse der Nichtabwägungsfähigkeit der Menschenwürde mit Grundrechten Dritter wie der Schwangeren wäre ein Schwangerschaftsabbruch unter keinen Umständen zulässig. Auch ein Abbruch wegen medizinischer Indikation bei Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Frau schiede dann aus. Es ist aber die seit langem bestehende Rechtslage, dass ein Abbruch bei medizinischer Indikation zulässig ist. Mein Bestreben und meine Aufgabe als Wissenschaftlerin war und ist es, auf diese Problematik und auf Inkonsistenzen im bestehenden Recht hinzuweisen sowie Lösungsmöglichkeiten für eine widerspruchsfreie Regelung des Schwangerschaftsabbruchs aufzuzeigen."
Dieses Dilemma ist zentral: Das Grundgesetz schützt die Menschenwürde als absolutes Grundrecht, das nicht relativiert oder gegeneinander gestellt werden darf. Die Praxis jedoch, etwa mithilfe von Paragraf 218 Strafgesetzbuch, erlaubt Abbrüche, was formal einer Abwägung zwischen gleichartigen Menschenwürden entspricht - eine juristisch kaum haltbare Situation. Brosius-Gersdorf kritisiert, dass die geltende Strafrechtsregelung den Konflikt lediglich durch Kompromisse überdeckt, anstatt ihn aufzulösen.
Abstufung des Rechts auf Leben
Um diesen verfassungsdogmatischen Widerspruch zu lösen, schlägt Brosius-Gersdorf ein gestuftes Modell vor, das die Gewichtung von Grundrechten über die Entwicklungsphasen der Schwangerschaft differenziert:
- In den ersten zwölf Wochen - der Frühphase - steht das Menschenwürdigkeits- und Selbstbestimmungsrecht der Frau über dem Lebensrecht des Embryos. Das begründet die Legalität von Abtreibungen in dieser Phase.
- Im weiteren Verlauf wächst die Schutzwürdigkeit des Embryos: Sein Lebensrecht erhält ab der Spätphase ein größeres Gewicht, sodass späte Abtreibungen stärker reguliert werden sollten.
In einem Interview bei "Markus Lanz" sagte die Jura-Professorin hierzu: "Dahinter steht ein hochsensibler Güterkonflikt. Für die Auflösung dieses Konflikts war für mich entscheidend, dass die Grundrechte des Embryos und die Grundrechte der Frau nicht in allen Phasen der Schwangerschaft gleich zu gewichten sind." Dieses Modell versucht, die Rechtswirklichkeit abzubilden, in der Frauen besonders in der Frühphase ein legitimes Selbstbestimmungsrecht besitzen, das aber das ungeborene Leben keineswegs schutzlos lässt: Es bleibt durch das Grundrecht auf Leben, Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes geschützt - wenn auch als abwägbares Grundrecht.
Das juristische Dilemma bleibt
Und genau hier liegt der Knackpunkt: Die Menschenwürde der Frau ist ein absolutes, unantastbares Grundrecht. Wird sie allein der Schwangeren zugeschrieben, kann sie in Konfliktfällen mit dem abwägbaren Lebensrecht des Embryos praktisch niemals zurücktreten. Dadurch entsteht ein neues, wenn auch verändertes Spannungsfeld: Wie kann das Lebensrecht des Embryos in der Spätphase faktisch an Bedeutung gewinnen, wenn das unantastbare Menschenwürdigkeitsrecht der Frau immer vorrangig bleibt? Oder: Könnte es so - obwohl von Brosius-Gersdorf nicht gewollt - also doch zur Legalisierung von Abtreibungen bis zur Geburt kommen?
In manchen juristischen Fachkreisen wird hervorgehoben, dass das Stufenmodell zwar formal mehr Klarheit schafft, aber aus dogmatischer Sicht unzureichend darlegt, wie die Grundrechte tatsächlich gegeneinander abgewogen werden können - oder ob das Lebensrecht des Embryos so jemals real "durchsetzbar" ist. Das bedeutet, Brosius-Gersdorfs Modell schafft kein dogmatisches Ende des Dilemmas, sondern verlegt es in eine neue Konstellation, die weiterhin auf praktische Kompromisse und graduelle Schutzkonzepte angewiesen ist.
Vertretbare Kritik, aber keine politische Verzerrung
Diese juristische Kritik ist nachvollziehbar und wichtig für eine ernsthafte Debatte. Gleichzeitig hat Brosius-Gersdorf mehrfach bekräftigt, dass sie es ablehnt, ihr eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur Geburt zuzuschreiben: "Ich habe für eine Legalisierung in der sehr frühen Phase der Schwangerschaft plädiert. Späte Abbrüche sollen weiterhin verboten bleiben." Ihr Ziel ist ein verfassungskonformer Ausgleich zwischen Selbstbestimmung und Lebensschutz, keine vollständige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs über alle Phasen hinweg.
Der Fall Brosius-Gersdorf zeigt exemplarisch, wie hoch die Spannung im deutschen Verfassungsrecht zwischen Schutz des Lebens, Selbstbestimmung und absoluter Menschenwürde ist. Ihr Stufenmodell ist ein mutiger und differenzierter Versuch, dieses Spannungsfeld juristisch pragmatisch abzubilden - mit klarer Gewichtung der beteiligten Grundrechte über die Schwangerschaft hinweg.
Doch offensichtlich ist, dass auch dieses Modell dogmatisch nicht frei von Widersprüchen ist und weiterhin auf Kompromisse angewiesen bleibt, um den Schutz des Ungeborenen neben dem verfassungsrechtlich herausgehobenen Schutz der Frau zu gewährleisten. Kritik an diesen dogmatischen Herausforderungen ist sachgerecht - politische Verzerrungen und Verleumdungen aber nicht. Brosius-Gersdorfs Ansatz lädt zu einem ehrlichen und differenzierten Dialog ein, in dem es um den schwierigen Ausgleich zwischen Grundrechten geht - ohne Simplifizierungen, aber mit Respekt für die Komplexität und den hohen Anspruch unseres Rechtsstaates.
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