Sowohl der jüngste als auch der dienstälteste Abgeordnete im Deutschen Bundestag gehört der Linksfraktion an. Im Interview mit ntv.de sprechen Gregor Gysi (77) und Luke Hoß (23) über die "Klassenkampf"-Rhetorik ihrer Partei, über Sechzehnjahrespläne für junge Abgeordnete und den "inneren Unvereinbarkeitsbeschluss" mit der Union.

ntv.de: Herr Hoß, mit 23 Jahren sind Sie der jüngste Abgeordnete im Bundestag - noch. Einer Ihrer Fraktionskollegen legt sein Mandat aus gesundheitlichen Gründen nieder, seine Nachrückerin ist 22 Jahre alt. Wie fühlt es sich an, mit 23 Jahren zum alten Eisen zu gehören?

Luke Hoß: Stimmt, Lizzy Schubert wird ab 1. August die jüngste Person mit Bundestagsmandat sein. Ich finde es schön, wenn mehr junge Menschen dazukommen. Ob ich der Jüngste bin oder einer unter den Jüngsten, spielt keine große Rolle. Aber von den zehn jüngsten Abgeordneten im Bundestag sind sechs aus der Linksfraktion. Das finde ich bemerkenswert.

Als Luke Hoß auf die Welt kam, waren Sie, Herr Gysi, bereits elf Jahre Abgeordneter im Bundestag. Fällt es Ihnen schwer, junge Leute ernst zu nehmen, die vieles nicht mitbekommen haben, das für ältere Menschen prägend war - zum Beispiel den Mauerfall und die Wiedervereinigung?

Gregor Gysi: Ich habe logischerweise mehr erlebt als er. Und deshalb habe ich mehr Lebenserfahrung. Aber ein 23-Jähriger weiß Dinge und kennt Sachen, bei denen ich als Silberlocke wie ein Idiot davorstehe, mit dem Kopf wackle und sie nicht hinbekomme. Das gleicht sich aus.

Herr Hoß, fühlen Sie sich in Ihrer Fraktion ernst genommen, auch von den älteren Kollegen?

Luke Hoß: Ja, ich habe mich von allen gut aufgenommen gefühlt. Ich weiß nicht, wie das in anderen Fraktionen ist. Aber bei uns stimmt die Basis, wir ziehen alle am gleichen Strang: Wir sind die, die sich mit den Reichen anlegen, damit sich etwas ändert.

Ist das der Kern linker Politik?

Gregor Gysi: Die linke Bewegung ist historisch aus der sozialen Frage heraus entstanden. Im Kommunistischen Manifest steht, dass "die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist". Das heißt, die Freiheit des Einzelnen ist die Voraussetzung der Freiheit aller. In der DDR wurde so getan, als sei es umgekehrt. Da noch nicht alle Menschen auf der Welt frei waren, musste auch der Einzelne in der DDR noch warten. Und am Ende des Kommunistischen Manifests steht der Satz: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Ein Aufruf zu Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Internationalismus. Die ökologische Nachhaltigkeit kam erst sehr viel später dazu.

Luke Hoß: Was hältst du von dem Satz: "Das gute Leben für alle"? Den finde ich sehr treffend. Wir setzen uns für die ein, denen es schlecht geht, damit auch sie ein gutes Leben haben. Wir setzen uns dafür ein, dass es ein friedliches Zusammenleben gibt, in dem auch die Natur geachtet wird.

Gregor Gysi: Auf einem Parteitag hat ein Genosse einmal vorgeschlagen, die Erste Klasse bei der Bahn abzuschaffen. Ich war strikt dagegen. Ich habe gesagt, ich bin für die Abschaffung der Zweiten Klasse. Ich hatte mal ein Wahlkampfplakat, auf dem stand: "Reichtum für alle". Das kam gut an.

Linken-Chefin Ines Schwerdtner spricht ganz selbstverständlich von "Klassenkampf" und will die Linke zu einer "organisierenden Klassenpartei" machen. Fühlen Sie sich wohl mit so einer Rhetorik?

Luke Hoß: Wir leben in einem Klassensystem. Da müssen wir nur auf die Vermögensverteilung schauen: Die reichsten zehn Prozent der Deutschen besitzen mehr als die Hälfte des Vermögens. Das ist eine sehr ungleiche Verteilung. Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Meine Mutter wurde als Alleinerziehende vom Staat im Stich gelassen.

Im Stich gelassen?

Luke Hoß: Als ich klein war, hatte sie am Ende des Monats - wenn es besonders schlimm war - für sich selbst nichts mehr zu essen. Sie hat bei sich gespart, damit mein Bruder und ich versorgt waren. Heute zeigt eine aktuelle Studie des Vereins "Sanktionsfrei", dass das Bürgergeld auch heute oft nicht ausreicht, dass alle im Haushalt satt werden. Für diese Menschen Politik zu machen, das ist Klassenpolitik. Ich fühle mich mit dem Begriff Klassenkampf wohl.

Gregor Gysi: Sprache muss immer zur Zeit passen. Wenn ich 1990 von Klassenkampf gesprochen hätte, dann hätten die Menschen zurecht gesagt, der Gysi hat ja eine Meise. Inzwischen gibt es ein anderes Denken. Inzwischen ist die Vokabel wieder angebracht.

Herr Hoß hat Aufsehen mit der Ankündigung erregt, er werde von seinen Bezügen als Abgeordneter nur 2500 Euro für sich behalten, den Rest an die Partei überweisen und an soziale Projekte spenden. Wie finden Sie das, Herr Gysi?

Gregor Gysi: Ich mache es ähnlich. Ich zahle an die Partei im Moment monatlich 2600 Euro - an Kreisverband, Landesverband und Bundespartei.

Gibt es da keine Regel für Bundestagsabgeordnete?

Gregor Gysi: Doch, wir sollen zehn Prozent der Diäten an die Bundespartei abführen. Aber für Land und Kreis gibt es keine Regelung. Und ich spende jeden Monat zwischen 3000 und 3500 Euro. Das möchte ich auch so beibehalten, sonst wären viele Einrichtungen in meinem Wahlkreis und anderswo sauer. Denn mit Spenden macht man sich auch ein bisschen beliebt, das will ich gar nicht bestreiten. Aber das sind Einrichtungen, die das dringend benötigen, gerade Jugendeinrichtungen. Die kriegen sonst kein Geld, nüscht.

Erklärtes Ziel Ihrer Partei ist, den Kapitalismus zu "überwinden". Geht das in einem politischen System, in dem alle vier Jahre neu gewählt wird?

Luke Hoß: Das Grundgesetz sagt nicht, dass wir kapitalistisch wirtschaften müssen. Wir könnten das auch mit einem sozialistischen System machen. Wobei ich nicht sehe, dass wir kurz vor den Toren des Sozialismus stehen.

Gregor Gysi: Das glaube ich auch nicht.

Luke Hoß: Aber die Utopie bleibt bestehen.

Gregor Gysi: Helmut Schmidt hat gesagt: "Wer Visionen braucht, soll zum Arzt gehen." Das ist falsch. Eine Partei, die kein politisches Ziel hat, verbraucht sich. Wir hatten nur drei Kanzler mit einer politischen Vision. Konrad Adenauer wollte die Westintegration, Willy Brandt wollte den Ausgleich mit Osteuropa, Helmut Kohl wollte die europäische Integration. Ein Ziel macht die Politik berechenbar. Ludwig Erhard, Helmut Schmidt, Kurt Georg Kiesinger, Gerhard Schröder und auch Angela Merkel haben Deutschland mal besser, mal schlechter verwaltet. Aber mir war nie klar, wo sie mit diesem Land hinwollten.

Wann haben Sie beide sich eigentlich kennengelernt?

Gregor Gysi: Bei der Fraktionsklausur, oder? Da haben wir uns das erste Mal kurz unterhalten. Ich bin sehr für junge Abgeordnete im Bundestag. Ich finde, dass die Sicht der Jugend eingebracht werden muss. Allerdings gebe ich allen jungen Abgeordneten einen Rat, natürlich ungefragt.

Welchen Rat?

Gregor Gysi: Es ist eine Art Sechzehnjahresplan. Ich rate immer, dass sie nach acht Jahren für acht Jahre ausscheiden sollen. In Absprache mit der Partei sollten sie in dieser Zeit etwas anderes machen: in der Dritten Welt oder in der Pflege arbeiten, damit sie das Leben von einer anderen Seite kennenlernen. Und nach den acht Jahren sollen sie dann mit völlig anderen Erfahrungen wieder in den Bundestag zurückkommen. Das habe ich auch Philipp Amthor geraten, vermutlich vergeblich. Aber die meisten fanden den Rat gar nicht so doof.

Die Koalition braucht die Linke im Bundestag für Beschlüsse, die mit Zweidrittelmehrheit herbeigeführt werden müssen, zum Beispiel für die von der Koalition geplante Reform der Schuldenbremse. Wie stehen Sie zu einer Zusammenarbeit mit der Union?

Gregor Gysi: Ich bin immer für Gespräche mit anderen demokratischen Parteien. Natürlich rede ich auch mit der CDU/CSU. Damit das funktioniert, muss sich aber deren Verhältnis zu uns verändern. Zum Beispiel glaube ich, dass wir einen Masken-Untersuchungsausschuss benötigen. Dafür brauchen wir neun Stimmen aus der Regierungskoalition. Die will sie uns nicht geben, erwartet aber, dass wir ihr anderswo zu einer Zweidrittelmehrheit verhelfen. In einer solchen Position muss man kompromissbereit sein. Das sehe ich bei der Union nicht. Letztlich muss die Union sich erst mal durchringen, überhaupt mit uns zu reden - nicht nur dann, wenn es um einen Geschäftsordnungsantrag geht.

Sie meinen den 6. Mai, als Friedrich Merz nur mithilfe der Linken den zweiten Wahlgang bekommen hat, in dem Union und SPD ihn dann doch noch zum Kanzler wählen konnten.

Luke Hoß: Als wir das erste Mal in der Fraktion über den Unvereinbarkeitsbeschluss der Union gesprochen haben, da habe ich mir gedacht: Moment, ich habe eigentlich auch einen Unvereinbarkeitsbeschluss, einen mit der Union. Das sind die, die Politik gegen unsere Leute machen! Die verachten Arbeiterinnen und Arbeiter, die verachten Rentnerinnen und Rentner. Carsten Linnemann sagt, Rentner würden zu wenig arbeiten. Jede Woche beschließt der Bundestag die nächste Entrechtung von Geflüchteten. Da rufe ich doch nicht Hurra, wenn es heißt, dass wir mit der Union zusammenarbeiten. Aber die Frage für uns muss sein: Wie können wir das Leben der Menschen verbessern, die uns gewählt haben? Mit einer Abschaffung oder Reform der Schuldenbremse wäre das möglich. Wenn wir da konkrete Verbesserungen erreichen könnten, wäre das gut. Dafür würde ich auch meinen inneren Unvereinbarkeitsbeschluss überwinden.

Gregor Gysi: Spätestens am 6. Mai hätte die CDU/CSU sagen müssen: Wir reden lieber mit den Linken und nicht mit der AfD. Aber es gibt bei denen einen Teil, der lieber mit der AfD spricht. Das Thema ist bei der Union noch nicht entschieden.

Hätten Sie am Freitag vor einer Woche den Kandidaten der Union gewählt?

Luke Hoß: Das Spiel, das die Union mit unserer Demokratie spielt, halte ich für brandgefährlich. Erst werden die Stimmen der AfD für den eigenen Kandidaten in Kauf genommen, weil man aus ideologischer Verblendung eine Zusammenarbeit mit der Linken ausschließt: Wir hatten ein eigenes Vorschlagsrecht gefordert, so wie es allen demokratischen Parteien zustehen sollte. Dann steigt man, Hand in Hand mit der AfD und rechtsextremen Portalen, in eine Hetzkampagne gegen eine anerkannte Staatsrechtsprofessorin ein. Das schadet nachhaltig dem so wichtigen Vertrauen ins Bundesverfassungsgericht. Wie sich die Situation konkret bis zu einer tatsächlichen Abstimmung entwickelt hätte, lässt sich nur mutmaßen. Davon wäre auch mein Abstimmungsverhalten abhängig gewesen. Aber die Frage wird sich ja vermutlich bald wieder stellen.

Gregor Gysi: Seit Jahrzehnten ist es so, dass die Union bei den Kandidaten der SPD rummeckert, wenn die ihr etwas zu links erscheinen. Aber die anderen dürfen nicht meckern, wenn die Union einen Paul Kirchhof aufstellt, der so schwarz ist, dass er noch im Keller einen Schatten wirft. [Anm.: Kirchhof war von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht.] Übrigens wurde 2020 mit Ines Härtel die erste Person aus Ostdeutschland Verfassungsrichterin - und sie ist bis heute die einzige Ostdeutsche unter den sechzehn Richterinnen und Richtern. Nach 35 Jahren!

Spielt dieses Ost-West-Ding für Sie noch eine Rolle, Herr Hoß?

Luke Hoß: Mein Wissen über die DDR und über die Wiedervereinigung habe ich vor allem aus dem Geschichtsunterricht. Sonst hat das keine Rolle gespielt.

Gregor Gysi: Du kommst ja auch aus einem Sonderstaat in Deutschland, aus Bayern.

Luke Hoß: Ich komme eigentlich aus Baden-Württemberg, ich bin erst zum Studium nach Passau. (lacht)

Gregor Gysi: Das ist auch ein Sonderstaat. (lacht)

Beim Thema Ost/West geht es ja vor allem um Vorbehalte gegen die jeweils anderen.

Luke Hoß: Das hat meine Sozialisierung nicht gerade geprägt, muss ich ehrlich sagen.

Gregor Gysi: Das ist im Osten anders. Da hat die ältere Generation das Thema auf die nächste und übernächste Generation übertragen. Das ist im Westen nicht passiert.

Luke Hoß: Die sind ja auch nicht so betroffen.

Gregor Gysi: Der Grundfehler der Deutschen Einheit war, dass sich der Westen nicht für das Leben in der DDR interessiert hat. Deshalb wurde auch nichts aus der DDR übernommen - nicht mal die Polikliniken, die es nun wirklich verdient gehabt hätten.

Mit Gregor Gysi und Luke Hoß sprachen Hubertus Volmer und Rebecca Wegmann

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