Während sich in der Türkei ein kurdischer Frühling andeutet, droht den Kurden im Nachbarland Syrien der Autonomieverlust. Beides nutzt Präsident Erdoğan. In beiden Ländern wird die Minderheit für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert - und im Zweifel fallengelassen.

Gewiss, es ist ein bemerkenswerter symbolischer Schritt: Dutzende Kämpfer der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) haben vor gut einer Woche im nordirakischen Sulaimaniyya ihre Waffen niedergelegt. Vor den Augen der Weltpresse übergaben sie ihre Gewehre dem Feuer. Schön inszenierte Bilder, die mit viel Skepsis betrachtet werden sollten - noch gibt es viele offene Fragen, und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan instrumentalisiert die Inszenierung bereits zu seinen Gunsten.

Indem er den hartnäckigsten politischen und militärischen Konflikt in der Türkei beendet, der in vier Jahrzehnten rund 40.000 Menschenleben gefordert hat, will er die große kurdische Minderheit auf seine Seite ziehen. Mit diesem radikalen Kurs versucht Erdoğan, seine Macht über das 85 Millionen Einwohner zählende Nato-Schwergewicht zu behalten. Gleichzeitig ist es ein Zeichen für seine innenpolitisch schwindende Popularität. Nachdem die AKP und auch Erdoğan bei zahlreichen Wahlen in den vergangenen Jahren mit Stimmenverlusten zu kämpfen hatten, weiß der Langzeitherrscher, dass dies seine letzte Chance ist, seine Position als Präsident - möglicherweise auf Lebenszeit - zu festigen. Ansonsten riskiert er, von der politischen Bühne zu verschwinden. Um vorgezogene Neuwahlen zu provozieren, damit er überhaupt für eine weitere Amtszeit antreten könnte, braucht Erdoğan die Stimmen der Kurden im Parlament.

"Jerusalem-Bündnis" aus Türken, Kurden und Arabern

Wenig verwunderlich also, dass es auf seinem Facebook-Account salbungsvoll heißt: "Die Türkische Republik ist das gemeinsame Zuhause und das gemeinsame Dach für uns alle." Am Samstag, einen Tag nach der Waffenniederlegung, sprach er bei einer Tagung seiner regierenden AKP mehrfach von einem neuen "Jerusalem-Bündnis" aus "Türken, Kurden und Arabern" und verdeutlichte damit seine regionalen Großmachtträume. "Damaskus ist unsere gemeinsame Stadt. Diyarbakır ist unsere gemeinsame Stadt." Dann zählte er weitere Städtenamen aus der Türkei, aus dem Irak und aus Syrien auf: "Mardin, Mossul, Kirkuk, Sulaimaniyya, Erbil, Aleppo, Hatay, Istanbul und Ankara sind unsere gemeinsamen Städte." Trotz aller Unterschiede seien Türken und Kurden gemeinsam die Türkei. "Heute beginnt die neue Türkei", kündigte Erdoğan an.

Wie diese "neue Türkei" mit einer absoluten Gleichberechtigung von türkischer Mehrheitsgesellschaft und kurdischer Minderheit - immerhin rund fünfzehn bis zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung - gelingen könnte, ließ er offen. Weder die bis dato in der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation geltende PKK noch die Regierung haben bisher offiziell einen Fahrplan vorgelegt, wie es nun weitergehen soll. Auch hat Erdoğan keine Versprechen dazu gemacht, welche Gegenleistung die kurdischen Kämpfer für ihre Selbstentwaffnung erwarten können.

Schachzug zum eigenen Machterhalt

Die PKK will eine Generalamnestie für ihre Mitglieder. Soll heißen: Die Kämpfer aus den nordirakischen Kandil-Bergen sollen in die Türkei zurückkehren können, die politischen Gefangenen freigelassen werden. Aber die PKK ist keine homogene Gruppe. So ist nicht klar, ob bewaffnete Anhänger im Irak und in Syrien ihre Waffen ohne konkrete Zugeständnisse und deren Umsetzung von der türkischen Regierung abgeben werden.

Erdoğans Ziel ist es, gemeinsam in einer "Volksallianz" seiner AKP mit der ultranationalistischen MHP und der prokurdischen DEM Gesetzesänderungen voranzutreiben. Sprich: Wenn die Kurden mit ihm kooperieren und ihm ihre Stimmen geben, gibt es Veränderungen zu ihren Gunsten. Wie aber soll eine Koalition zwischen so konträren Parteien wie der rechtsextremen MHP und der linken DEM gelingen? Dies wäre in etwa vergleichbar, als wenn in Deutschland die Linken mit der AfD koalieren würden. MHP-Chef Devlet Bahçeli hatte 2007 noch die Hinrichtung von PKK-Gründer Abdullah Öcalan gefordert - die jetzige Kehrtwende ist als politischer Schachzug zum eigenen Machterhalt also absolut durchschaubar.

Kommt Demirtaş jetzt frei?

Neben den ideologischen Welten, welche die Parteien trennen, gibt es noch zahlreiche Hürden für eine gelingende Zusammenarbeit. Die DEM forderte schon vor der Auflösung der PKK, dass die seit 2015 zu Dutzenden eingesetzten staatlichen Zwangsverwalter in den kurdischen Kommunen abgesetzt werden. Dürfen nun die demokratisch gewählten Politiker zurück auf ihre Posten? Und der seit 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, der erst im vergangenen Jahr noch zu 42 Jahren Gefängnis verurteilt wurde - kommt er frei? Auch viele andere Fragen bleiben vorerst offen, und Ultranationalisten auf beiden Seiten sind nicht an politischen Lösungen interessiert. Der ganze Prozess erfolge "weder unter internationaler Aufsicht, noch gibt es ein Reintegrationsprogramm oder rechtliche Garantien", warnt Yaşar Aydın vom Berliner Centrum für angewandte Türkeistudien in einem Beitrag auf der Homepage des Deutschen Instituts für internationale Politik und Sicherheit.

Hinzu kommt die hochemotionale gesellschaftliche Zerrissenheit. Auf beiden Seiten gibt es Tausende Familien, die gefallene Angehörige betrauern. Für die Versöhnung braucht es mehr als eine symbolische Niederlegung der Waffen. Ohne dass die Türkei zu Rechtsstaatlichkeit zurückkehre und ohne Gleichberechtigung sei ein dauerhafter Frieden nicht zu erreichen, kommentierte denn auch Oppositionsführer Özgür Özel den aktuellen Vorgang. Der Chef der sozialdemokratischen CHP steht quasi mit einem Bein im Gefängnis. Rund fünfzehn CHP-Bürgermeister und 200 Parteimitglieder wurden dieses Jahr innerhalb weniger Monate festgenommen.

Was jahrelang kurdische Politiker erlitten, widerfährt momentan den Sozialdemokraten: Gefängnis, Amtsenthebung, Spaltung. Am Mittwoch musste sich der seit März inhaftierte Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu vor Gericht verantworten. Der populäre CHP-Politiker, der als größter Widersacher Erdoğans gilt, warnte im Gerichtssaal in Istanbul mit Blick auf die Gespräche zwischen der MHP und der DEM: "Ich gehöre zu denen, die an die nächste Generation denken, nicht an die nächste Wahl." Kurze Zeit später wurde er wegen Beleidigung und Bedrohung eines Staatsanwalts zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt.

Annäherung in der Türkei - Zuspitzung in Syrien

Während in der Türkei eine nationalistisch-konservativ gelenkte Liberalisierung in der Kurdenfrage wieder möglich erscheint, droht der autonomen kurdischen Selbstverwaltung in Nord und Ostsyrien das Ende: Tom Barrack, US-Botschafter in Ankara sowie Gesandter für Syrien, fordert eine Angliederung von Rojava an die neue Regierung in Damaskus. Die US-Regierung von Präsident Donald Trump, so Barrack, würde ein "freies Kurdistan" in Syrien nicht unterstützen. Washington sei kein "Babysitter" und werde nicht immer in Syrien stationiert bleiben. Gleichzeitig lobt er die türkische Verteidigungsindustrie und fordert, dass die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), ein der PKK nahestehendes kurdisches Militärbündnis, sich in das syrische Militär integrieren sollen - was diese ablehnen.

Zum einen fühlen sich die Kurden durch die USA im Stich gelassen. Jahrelang haben sie mit US-Unterstützung in Syrien gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat gekämpft. Nach SDF-Angaben starben dabei rund 20.000 Kämpfer. "Sie haben nicht nur im Interesse der Region, sondern auch der internationalen Gemeinschaft gekämpft - unter großen Opfern", sagt Mehmet Tanrıverdi, stellvertretender Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland. "Dass nun ausgerechnet die USA, die von diesem Einsatz profitiert haben, eine klare Absage an die Selbstverwaltung in Rojava senden, empfinden wir als Verrat an diesen Errungenschaften und an den Werten, die sie selbst vertreten - nämlich Demokratie, Gleichberechtigung und Minderheitenschutz."

Für Erdoğan ein Erfolg

Die SDF fordern Sicherheitsgarantien von den USA, zumal sie die Regierung in Damaskus als islamistisch betrachten. Zum anderen wäre damit das seit 2012 aufgebaute selbstverwaltete Projekt Rojava, das sie mit ihren eigenen Streitkräften beschützten, beendet. Womit auch ein wichtiges Ziel Erdoğans erreicht wäre: kein autonomes Kurdistan an der eigenen Grenze.

Für Tanrıverdi wäre eine de facto Auflösung von Rojava ein Rückschritt. "Eine Rückkehr zur Unterdrückung, Verleugnung und politischen Marginalisierung." Er findet: "International würde es ein fatales Signal senden: Dass der Einsatz für Freiheit und Demokratie sich nicht lohnt, dass geopolitische Interessen letztlich immer über Menschenrechte siegen. Es würde auch autoritäre Kräfte ermutigen, weiterhin mit Gewalt gegen Minderheiten vorzugehen - ohne Konsequenzen befürchten zu müssen."

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