Der Mann, den Friedrich Merz an diesem Freitag in Berlin trifft, hat in den Abgrund geschaut. Beinahe wäre sein Land von einem prorussischen Ultranationalisten übernommen worden. Es war knapp, doch dann war er selbst es, der die schicksalhafte Präsidentschaftswahl in Rumänien gewann.

Nicusor Dan ist seit gut 50 Tagen im Amt. Die Aufgaben, die sich vor ihm auftun, sind gewaltig, die Mehrheit seiner Regierung dünn. Er führt ein Land an, das der US-Vizepräsident J.D. Vance vor einigen Monaten als Beispiel für Europas angeblich verkommenes Demokratieverständnis anführte; ein Land, das als Frontstaat der Nato russischen Destabilisierungsversuchen ausgesetzt ist, das unter Armut, Korruption und gesellschaftlicher Spaltung leidet. Und das Dan nun wieder in die Spur bringen will.

Beobachter sehen ihn als letzte Chance für Rumänien. Ähnlich wie Merz in Deutschland, dessen Regierung Markus Söder im Februar als „letzte Patrone der Demokratie“ bezeichnet hat, als die eine Gelegenheit, die Menschen mit guter Politik zu überzeugen, bevor die Extremisten übernehmen – oder zumindest so stark werden, dass sie jede Bildung einer gemäßigten Regierung zunichtemachen. Das also haben die beiden Männer gemeinsam. Nur dass die Lage in Rumänien ungleich dramatischer ist als in Deutschland.

Kurze Erinnerung an die Ereignisse in Rumänien: Ende 2024 trat ein radikaler Kandidat auf den Plan, der die westliche Orientierung des Landes infrage stellte: Calin Georgescu. Er gewann völlig überraschend die erste Runde der Präsidentschaftswahl. Das Verfassungsgericht annullierte die Wahl, nachdem sich erwiesen hatte, dass Georgescus Unterstützer mit manipulierten Social-Media-Kampagnen operiert hatten. Bei der Wiederholung der Präsidentenwahl im Mai, bei der Georgescu disqualifiziert war, setzte sich der unabhängige liberale und prowestliche Dan knapp gegen den russlandnahen Rechtsaußen-Kandidaten George Simion durch. Aber die Ursachen, die das Land beinahe kippen ließen, bestehen nach wie vor.

„Dan hat ein knappes Mandat, eine wackelige Regierung und steht vor enormen Herausforderungen“, sagt Oliver Jens Schmitt, Professor an der Universität Wien, der zu Faschismus in Osteuropa und speziell in Rumänien forscht. Das Land stehe mit einem Haushaltsdefizit von neun Prozent buchstäblich am Abgrund.

Gemeint ist damit die Lücke zwischen den staatlichen Einnahmen und Ausgaben im Jahresbudget. Ein Defizit von neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist extrem hoch – Rumänien ist europäischer Spitzenreiter – und liegt deutlich über dem in der EU erlaubten Grenzwert von drei Prozent. Die Kommission hat bereits gedroht, Fördergelder zu streichen, sah aber bislang davon ab, weil Dans neue Regierung ein ambitioniertes Sparprogramm vorgestellt hat.

Premier Ilie Bolojan kündigte dafür unter anderem Stelleneinsparungen im öffentlichen Dienst und eine Anhebung der Mehrwertsteuer an. Letzteres hatte Dan im Wahlkampf noch ausgeschlossen, und schon jetzt regt sich Widerstand gegen den harten Kurs.

Es ist bei Weitem nicht Rumäniens einzige Baustelle. „Das Land befindet sich in einer schweren Vertrauenskrise und war Ziel eines massiven hybriden Angriffs aus Russland“, sagt Schmitt. „Das Hauptproblem des Landes ist das fehlende Vertrauen in Staat, Politik und Institutionen. Viele Menschen sind voller Zorn auf ein Staatssystem, in dem sich privilegierte Gruppen nach Belieben bedienen.“ Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International landete Rumänien im vergangenen Jahr auf Platz 65 von 180 Ländern.

Die Wut vieler Menschen schuf den perfekten Nährboden für externe Akteure wie Russland, im Präsidentschaftswahlkampf Ende 2024 eine hybride Kampagne zugunsten des Rechtsaußen-Kandidaten Georgescu zu fahren. Er wurde deklassifizierten Geheimdienstinformationen zufolge mit koordinierten Desinformationskampagnen auf TikTok, Telegram und anderen Plattformen gestützt, für die Moskau verantwortlich gemacht wird.

Das Problem: Die Beweise, die die Regierung präsentierte, waren nach Ansicht von Experten nicht ausreichend, um eine so folgenschwere Entscheidung wie eine Wahlannullierung zu rechtfertigen. Was genau passiert war, ist bis heute unbekannt. Viele Menschen fühlten sich ihrer Stimme beraubt. Sie argwöhnen, ein „tiefer Staat“ habe den demokratischen Prozess ausgebremst.

Auch Schmitt sieht eine Unterwanderung von Rumäniens Institutionen, allerdings aus einer anderen Richtung. „Prorussische Kreise haben sich im rumänischen Staat festgesetzt“, sagt Schmitt. „Es handelt sich um tief verankerte Strukturen in Teilen der Geheimdienste, der Armee und der orthodoxen Kirche. Bisher ist nicht erkennbar, dass Dan dagegen wirksam vorgehen kann.“

Ein dramatisches Urteil über ein Land, das als Nato-Schlüsselland gilt. Rumänien ist Anrainer des Schwarzen Meeres, das im Ukraine-Krieg zum geopolitischen Brennpunkt geworden ist, und Drehscheibe für Militärhilfe aus dem Westen für das angegriffene Land.

Minenabwehrmission im Schwarzen Meer

Gemeinsam mit Bulgarien und der Türkei beteiligt sich Bukarest zudem an einer Minenabwehrmission. Es gibt Überlegungen, diese trilaterale Kooperation deutlich auszuweiten. Diskutiert wird, den Schutz kritischer maritimer Infrastruktur zu stärken, etwa von Gaspipelines, Unterseekabeln oder Offshore-Plattformen.

Hintergrund ist die wachsende Bedrohung durch Russland, das das Schwarze Meer gezielt destabilisiert: durch Seeminen, Störungen von Navigationssystemen und hybride Sabotageaktionen. Militärisch und politisch rückt das westliche Schwarze Meer damit zunehmend in den Fokus.

Zugleich entsteht in Rumänien der größte Nato-Stützpunkt in Europa. Die Luftwaffenbasis Mihail Kogalniceanu soll zu einer neuen Stadt heranwachsen, ähnlich dem Militärflugplatz Ramstein in Rheinland-Pfalz. Rund zehntausend Soldaten aus Rumänien und verbündeten Staaten sollen mitsamt ihren Familien hier unterkommen.

„Rumänien sollte neben Polen der zweite zentrale Pfeiler europäischer Sicherheit im Osten sein“, sagt Schmitt. Ein Pfeiler kann indes nur tragen, wenn er auf festem Grund steht. Was in den vergangenen Monaten in Rumänien passiert ist, spricht nicht dafür – und somit steht Dan vor gewaltigen Aufgaben.

Das gilt auch für den Besuch bei Merz in Berlin. „Deutschland ist Rumäniens wichtigster Handelspartner und klare Signale aus Berlin machen in Bukarest Eindruck“, sagt Schmitt. Konkrete deutsche Unterstützung ist aus rumänischer Sicht ebenso wichtig wie symbolische Unterstützung. Wie der deutsche Bundeskanzler den rumänischen Präsidenten empfängt, wird daher unter genauer Beobachtung stehen.

Carolina Drüten ist Türkei-Korrespondentin mit Sitz in Istanbul. Sie berichtet außerdem über Griechenland, die Länder des westlichen Balkans, Rumänien und die Republik Moldau. Im Auftrag von WELT ist sie als Autorin und Live-Berichterstatterin für den Fernsehsender unterwegs.

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