Oziel Inácio-Stech unterrichtete neun Jahre an der Carl-Bolle-Grundschule in Berlin-Moabit. Bereits im Frühjahr 2023 wandte er sich nach eigenen Angaben erstmals mit dem Vorwurf an die Schulleitung, über Monate hinweg von Schülern beleidigt, ausgegrenzt und herabgewürdigt worden zu sein – auch wegen seiner Homosexualität. In einem konkreten Vorfall, dokumentiert durch ein Gewaltprotokoll, wurde er im Unterricht von einem Schüler massiv beleidigt und bedroht. Muslimische Kinder hätten ihn laut Inácio-Stech als „ekelhaft“, „unrein“ und „eine Familienschande“ beschimpft. Ein Schüler soll gerufen haben: „Der Islam ist hier der Chef.“ Die Reaktion der Schule? Nach Darstellung des Lehrers: Schweigen. Er berichtet von fehlender Rückendeckung durch das Kollegium – und später von Verdächtigungen durch eine Kollegin.
Im Mai 2024 meldet die Kollegin der Schulleitung, Inácio-Stech habe zwei Kindern im Förderraum ein Video über Stolpersteine auf seinem Handy gezeigt und dabei auf Sitzsäcken „sehr nah“ bei ihnen gesessen. In einem anschließenden Gespräch mit der Schulleitung und dem Stellvertreter wird ihm empfohlen, mehr körperliche Distanz zu wahren – mit dem Hinweis, es gebe in der Praxis „Unterschiede“, wie körperliche Nähe wahrgenommen werde, je nachdem, „ob ein Mann oder eine Frau“ Kinder betreue. Diese Formulierung findet sich laut RBB-Recherche in einem internen Schulprotokoll.
Im Juni 2024 rät ein Vertreter des Personalrats Inácio-Stech laut einem Gesprächsprotokoll, das der Sender einsehen konnte, sein pädagogisches Konzept zu überdenken oder einen Schulwechsel zu prüfen. Die Schule werde von vielen Kindern aus traditionell geprägten Elternhäusern besucht – das könne die Akzeptanz von Diversität erschweren. Ob sich dieser Hinweis konkret auf seine Homosexualität bezog, bleibt offen.
Statt Schutz zu erhalten, gerät der Lehrer zunehmend unter Druck. Im September 2024 beschwert er sich demnach bei der Schulleitung, weil ihm der Unterricht im Klassenraum untersagt wurde. Fortan sollte er für alle sichtbar auf dem Flur unterrichten. Auch die Kinder, mit denen er zuvor im Förderunterricht gearbeitet hatte, wurden ihm entzogen. Die Maßnahme wurde zum 1. Oktober 2024 wieder aufgehoben. In Interviews und Stellungnahmen spricht Inácio-Stech rückblickend von Isolation – dienstlich wie persönlich.
Am 4. Dezember 2024 reicht sein Anwalt eine Diskriminierungsbeschwerde bei der Senatsbildungsverwaltung ein – adressiert persönlich an Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch. Das geht aus Unterlagen hervor, die der RBB einsehen konnte. Die Verwaltung bestätigt WELT, dass der Brief zwischen dem 9. und 11. Dezember vorgelegt wurde. Eine inhaltliche Reaktion habe es nicht gegeben, sagt eine Berliner Abgeordnete mit Akteneinsicht WELT.
Heute ist Inácio-Stech krankgeschrieben. Für Fachleute aus der Antidiskriminierungsberatung ist sein Fall kein Einzelfall – aber symptomatisch für ein überfordertes Beschwerdesystem. Und für eine Senatorin, die erst handelt, wenn der öffentliche Druck wächst.
Zuvor hatte es bereits einen ersten Versuch gegeben, Hilfe zu bekommen. Am 3. September 2024 reicht Inácio-Stechs Anwalt eine Diskriminierungsbeschwerde bei der Schulaufsicht Berlin-Mitte ein – wegen homophoben Mobbings und unterlassener Intervention durch die Schule. Die Beschwerde ist durch interne Unterlagen belegt, die der RBB einsehen konnte. Die Schulaufsicht kommt laut Aktenlage rasch zum Ergebnis: keine Diskriminierung. Eine tiefergehende Prüfung ist nicht dokumentiert.
Drei Monate später folgt der zweite Anlauf: eine Beschwerde nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, das Diskriminierung wegen sexueller Orientierung im öffentlichen Dienst verbietet und Behörden verpflichtet, entsprechenden Vorwürfen nachzugehen. Das Schreiben vom 4. Dezember 2024 ging demnach unter anderem an das Büro der Senatorin und enthielt neben den Vorwürfen auch den ausdrücklichen Hinweis, dass die Schulaufsicht Berlin-Mitte wegen ihrer Vorbefassung nicht zuständig sei. Die Abgeordnete, die später Akteneinsicht nahm, bestätigt gegenüber WELT, dass dieser Hinweis in der Verwaltung bekannt war – und dennoch ignoriert wurde.
Ein Referent der Schulaufsicht hatte intern bereits auf eine mögliche eigene Befangenheit hingewiesen – wie die Abgeordnete mit Akteneinsicht WELT bestätigt. Er begründete dies mit seiner früheren Einschätzung, es habe weder Mobbing noch Diskriminierung gegeben. Daher empfahl er, die Beschwerde durch eine andere Person prüfen zu lassen. Trotzdem wird ihm das Verfahren erneut zugewiesen. Eine inhaltliche Rückmeldung an Inácio-Stech erfolgt nicht. Auch ein Gespräch oder eine Anhörung sind nicht dokumentiert.
Auch als das Ermittlungsverfahren gegen ihn im November eingestellt wird – nachdem die betreffenden Kinder ihn laut RBB entlastet und erklärten haben sollen, die Vorwürfe seien ihnen von einer Lehrerin suggeriert worden – bleibt die Bildungsverwaltung stumm. Erst im Januar 2025, als Inácio-Stech sich an die „Süddeutsche Zeitung“ wendet, wird der Fall überhaupt öffentlich bekannt. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits krankgeschrieben.
Akteneinsicht mit Folgen
Am 30. Juni 2025 erhalten Mitglieder aller fünf Fraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus Akteneinsicht in den Fall. Vier Stunden lang werten sie interne Schreiben, Stellungnahmen und E-Mails aus. Danach ist klar: Der Fall wurde nicht gelöst, sondern verwaltungstechnisch verschleppt.
Louis Krüger, bildungspolitischer Sprecher der Berliner Grünen, spricht gegenüber der „Tagesschau“ von einem „Aufsichts- und Leitungsversagen“. Die Akten zeigten strukturelle Schwächen, die über Einzelfehler hinausgingen. „Die Beschwerdestrukturen greifen nicht“, sagt Krüger. Besonders die Rolle von Senatorin Günther-Wünsch bleibe klärungsbedürftig.
Auch Marcel Hopp, bildungspolitischer Sprecher der Berliner SPD, äußert sich deutlich. Der Fall zeige ein „Leitungsproblem“, das sich durch die Unterlagen verfestige. Seine Forderung: ein funktionierendes Monitoringsystem, das frühzeitig eingreift – nicht erst, wenn die Presse eingeschaltet wird.
Für die Senatorin wird es nun politisch heikel. Im Parlament hatte sie zunächst erklärt, den zentralen Anwaltsbrief erst im Mai 2025 gelesen zu haben. Später korrigierte ihr Sprecher die Aussage: Der Brief sei bereits im Dezember 2024 vorgelegt worden. Ein Missbilligungsantrag der Grünen scheiterte knapp – doch der Eindruck mangelnder Transparenz bleibt.
Am Donnerstag äußerte sich Günther-Wünsch erstmals ausführlich im Bildungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses zur Causa Inácio-Stech. Der Ton war sachlich, der Duktus technokratisch. Immer wieder sprach sie von einem „vielschichtigen und komplexen Sachverhalt“, in dem „nicht nur Diskriminierung, sondern auch gegenseitige Mobbingvorwürfe“ und „zahlreiche Stellungnahmen von Beteiligten und Unbeteiligten“ eine Rolle gespielt hätten. Eine einfache Bewertung sei nicht möglich.
Gleichzeitig kündigte sie Konsequenzen an: Die Beschwerdestrukturen sollten überarbeitet, eine zentrale Stelle zur Bearbeitung von Mobbing- und Diskriminierungsvorwürfen eingerichtet werden. Auch die Allgemeinverfügung zum schulischen Notfallplan solle angepasst werden, um für ähnliche Fälle klarere Vorgaben zu schaffen. Schulaufsichten müssten künftig besser qualifiziert und in komplexen Konflikten gezielter unterstützt werden. Bereits laufende Fortbildungen zu Antimobbing und Antidiskriminierung wolle sie „konsequent fortführen“.
Franziska Brychcy, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, erinnert im Gespräch mit WELT daran, dass bereits 2023 Mittel für eine unabhängige Antidiskriminierungsstelle im Bildungsbereich vorgesehen gewesen seien. Die damalige rot-grün-rote Koalition habe entsprechende Planungen erarbeitet – diese seien im schwarz-roten Haushalt 2024 gestrichen worden, auf Betreiben der CDU. Dass nun wieder über zentrale Strukturen diskutiert werde, wirke aus ihrer Sicht „wenig glaubwürdig“.
Ein Sprecher der Senatsbildungsverwaltung widerspricht: Es sei nicht korrekt, dass entsprechende Strukturen gestrichen worden seien. Vielmehr seien die Posten der Antidiskriminierungs- und Antimobbing-Beauftragten nach langer Vakanz wiederbesetzt und aufgewertet worden. Auch die neuen schulischen Notfallpläne enthielten inzwischen klare Regelungen zum Umgang mit Diskriminierung.
Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.
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