Es ist das Jahr 1999. In Großbritannien floriert die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit sinkt, zum ersten Mal gibt es einen Mindestlohn. Cool Britannia ist voller Optimismus. Auf dem Parteitag der regierenden Sozialdemokraten im südenglischen Bournemouth wird gesungen, getanzt und gelacht. In einem voll besetzten Konferenzsaal tritt der britische Premierminister Tony Blair vor seine Anhänger. Hinter ihm leuchtet eine rote Projektionswand mit den Worten „Für die vielen, nicht die wenigen.“
Fast eine Stunde lang referiert er, nur unterbrochen von Jubelstürmen. Blair hat eine Vision: Großbritannien soll künftig aus einer breiten Mittelschicht bestehen. Chancengleichheit ist sein Versprechen. „Der Klassenkampf“, postuliert er und hebt dabei energisch den Finger, „ist vorbei.“ Am Ende verabschiedet ihn die Menge mit großem Beifall. Blair reckt den Daumen. Das Beste, so glauben sie an diesem Abend, kommt noch.
Ein Vierteljahrhundert später ist Blairs glänzende Vision verblasst. Die Euphorie ist verflogen – geblieben sind alte Strukturen, die sich gegen Veränderung wehren. Auch die Ungleichheit der Einkommen hat sich kaum verringert – im Gegenteil: Die Reichen sind noch wohlhabender geworden.
Bis heute ist es Großbritannien nicht gelungen, die unsichtbaren Mauern des Klassensystems einzureißen. Das reicht zurück bis ins Mittelalter, als die Gesellschaft streng nach Geburtsrecht in Adel, Klerus und Bauern unterteilt war. Noch immer halten die Mauern, obgleich sie stellenweise Risse bekommen haben. Zwar arbeiten heute anteilsmäßig mehr Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund in Führungspositionen, aber die Elite ist weiterhin überwiegend männlich und weiß. Die Leiter nach oben ist schmal und wackelig, und nur wenige schaffen es, sie zu erklimmen. Das Bildungssystem, die lukrativsten Wirtschaftssektoren und die Politik begünstigen jene, die aus privilegierten Verhältnissen stammen.
Der Adel hat heute weniger Einfluss – und doch steht er weiter im Schaufenster der Nation. Er ist fest mit dem politischen System verwoben, steuerliche Vorteile inklusive. An seine Seite ist eine neue Spitze getreten – Unternehmer, Investoren, Anwälte –, die mit dem wirtschaftlichen Wandel, der Deindustrialisierung und dem Aufstieg Londons zur Finanzmetropole in Machtpositionen entstanden ist.
„Eine wohlhabende Elite nimmt entscheidenden Einfluss auf die Politik“, sagt der Soziologieprofessor Sam Friedman von der London School of Economics, der LSE. Zusammen mit seinem Kollegen Aaron Reeves hat er zuletzt mit dem Buch „Born to Rule“ eine umfassende empirische Untersuchung der britischen Oberschicht veröffentlicht.
Weil sich an den sozialen Unterschieden wenig ändert, wächst in der Mittelschicht der Frust. Das Vertrauen in die Politik ist erschüttert. 79 Prozent glauben, dass Politiker den Bezug zum Rest der Gesellschaft verloren haben. Also regt sich Widerstand: Die Oberschicht gilt nicht mehr als unantastbar. Immer weniger Menschen unterstützen die Monarchie. Mehr als die Hälfte der Briten befürwortet höhere Spitzensteuersätze.
25 Jahre nach Blairs wegweisender Rede greift die seit vorigem Sommer amtierende Labour-Regierung die Vision ihres damaligen Premiers auf – und will sie verwirklichen. Höchste Priorität hat dabei das Durchbrechen der „class ceiling“, der unsichtbaren Barriere für den Aufstieg.
Zumindest auf dem Papier steht Labour für den Bruch mit Traditionen: Premier Keir Starmer stammt als Sohn eines Werkzeugmachers und einer Krankenschwester aus einfachen Verhältnissen. Nur acht Prozent seiner Regierungsmitglieder haben eine Privatschule besucht. Unter Blair waren es noch 30 Prozent, unter dem konservativen Premier Rishi Sunak 60 Prozent. Bildungsministerin Bridget Phillipson nennt das Kabinett das „klassenbewussteste“ seit Langem.
Labour will die Erbschaftssteuer erhöhen, steuerliche Vorteile für Reiche verringern und es der alten sowie der neuen Oberschicht, wohlhabenden Nichtadeligen in opulenten Herrenhäusern sowie dem Adel, der bis heute qua Geburt politische Ämter bekleidet, ungemütlich machen. Dabei bekommt die Partei Rückenwind – sogar aus der Elite selbst. Weniger Privilegierten will sie den Traum vom Aufstieg erfüllen. Doch gelingt es dieses Mal, an einer Ordnung zu rütteln, die so tief im sozialen Gefüge des Landes verankert ist?
Prunk und Privilegien
In der Grafschaft Lincolnshire erhebt sich zwischen sanften Hügeln und bescheidenen Häusern ein Herrenhaus wie ein König über sein Volk. Roter Backstein, Ecktürme, Kuppeldächer: Die Doddington Hall steht hier seit dem 16. Jahrhundert, erbaut im elisabethanischen Stil. Zwei kunstvoll geschnittene Buchsbaumhecken in Form eines Einhorns flankieren die Eingangstür.
Das Wappentier geht zurück auf Oberstleutnant George Jarvis, der in den Napoleonischen Kriegen für die britische Armee kämpfte und das Haus 1830 erbte. Heute ist Doddington Hall im Besitz von Claire Birch, geborene Jarvis, die hier mit ihrem Mann James lebt, einem Ex-Manager von Goldman Sachs. Die Hausherrin trägt Jeans und Pullover und empfängt ihren Besuch im Seitenflügel. Die Wände sind zur Hälfte mit Holz vertäfelt, darüber hängen ein großer Spiegel, Landschaftsgemälde in goldenen Rahmen und kunstvoll verzierte Säbel. „James wird Sie gleich durchs Haus führen.“ Sie selbst hat heute viel zu tun, das Anwesen ist ein Fulltime-Job.
Doddington Hall ist eines von gut 2500 erhaltenen Herrenhäusern im Land. Die meisten sind bis heute in Privatbesitz. Sie sind nicht nur architektonische Meisterwerke, sondern spiegeln das zwiespältige Verhältnis der Briten zu ihrer Geschichte wider. Die Anwesen gelten zunehmend als Relikte einer Zeit, in der sich die Oberschicht durch ausbeuterische Kolonialpraktiken und auf Kosten der hart arbeitenden Unterschicht bereicherte.
Doch sie verkörpern auch den Glanz des Empire. Die Extravaganz vergangener Zeiten – weitläufige Ländereien, vergoldete Badewannen, opulente Kronleuchter – fasziniert noch immer viele Menschen. Serien und Filme wie „The Crown“ und „Downton Abbey“ oder „Saltburn“, gedreht im nahe gelegenen Drayton-Herrenhaus, sehen Millionen. Doddington Hall empfängt pro Jahr gut 35.000 Besucher.
James Birch, ein Mann mit einem vorsichtigen Lächeln, in dunkelblauem Karo-Hemd und Chino-Hose, führt durch das Haus – vorbei an überlebensgroßen Familienporträts, schweren Orientteppichen, Polstersesseln mit geschwungenen Armlehnen und kunstvoll geschnitzten Kommoden, bis hinauf aufs Dach, von wo sich der Blick über den Landsitz öffnet: Schmale Kieswege führen entlang eine Parterre-Anlage mit geometrischen Buchsbaum-Hecken und durch Wiesen aus blühenden Krokussen und Narzissen. Das Anwesen der Familie erstreckt sich über 2000 Hektar. „Diese Häuser wecken Nostalgie“, sagt Birch später beim Mittagessen im Besucher-Restaurant des Landsitzes. „Sie stehen für eine Zeit des stilvollen Lebens und des Wohlstands.“
Eigentümer wie die Birches, die ihre Anwesen als Bestandteil der Kultur erhalten und für Besucher öffnen, profitieren von Steuervergünstigungen. Die Regelung soll nach dem Willen der Regierung das „nationale Erbe bewahren“, da viele Häuser nach dem Zweiten Weltkrieg wegen hoher Steuern, fehlender Arbeitskräfte und hoher Instandhaltungskosten abgerissen werden mussten. Auch die staatlich geförderte Organisation English Heritage unterstützt mit Restaurierungen, Öffentlichkeitsarbeit und Spenden. Die Kosten sind enorm. Die Doddington Hall verschlingt mehr als eine halbe Million Euro pro Jahr, rechnet Birch vor. Finanziert wird das unter anderem durch Eintrittsgelder, Hochzeiten und die Geschäfte auf dem Anwesen.
Soziologieprofessor Reeves kritisiert, dass mit den Steuervergünstigungen nicht nur kulturelles Erbe bewahrt werde – vielmehr zementierten sie „die Machtposition der Elite“. Die Herrenhäuser sind ein Symbol historischer Klassenunterschiede, das gibt auch Birch unumwunden zu. „Aber die Zeiten haben sich geändert.“ Soziale Ungleichheit gebe es zwar nach wie vor, aber nicht mehr so stark wie früher, sagt er. „Und viele Besitzer dieser Häuser sind längst nicht so wohlhabend, wie man denkt.“ Seine Familie könne die Kosten gerade so stemmen – in manchen Jahren verzeichneten sie hohe Verluste.
In England und Wales gehört schätzungsweise noch immer etwa ein Drittel des Landes der Aristokratie und der Gentry, dem Landadel, zu dem auch Familie Birch zählt. In Zeiten akuter Wohnungsnot verschafft dies den Landbesitzern eine starke Verhandlungsposition. Viele adlige Familien verpachten ihre Ländereien oder vermieten darauf errichtete Immobilien, damit sie ihr Eigentum über Generationen hinweg sichern und weitervererben können. Die Familie Birch folgt dieser Tradition. Auf einem Teil ihrer Ländereien baute sie Mietshäuser für ihre Angestellten. Ein anderer Teil ist hingegen in ein 400-jähriges Renaturierungsprogramm eingebunden. Ein Verkauf steht nicht zur Debatte – das Anwesen soll später an ihre drei Kinder übergehen.
Labour will genau das erschweren. Ab nächstem Jahr soll der Freibetrag für landwirtschaftliches und gewerbliches Vermögen im Erbfall auf eine Million Pfund (rund 1,2 Millionen Euro) begrenzt werden. Darüber hinaus soll ein Steuersatz von 20 Prozent gelten. Wohlhabende Eigentümer solcher Anwesen „sollten ihren fairen Anteil leisten“, zitierte der „Guardian“ einen Regierungsmitarbeiter. James Birch hält diese Reform für gerecht, kritisiert jedoch, dass sie seine Familie „völlig unvorbereitet“ treffe. Er fürchtet, dass auf sie zusätzliche Abgaben in Höhe von umgerechnet gut 3,5 Millionen Euro zukommen. In diesem Fall müssten sie Teile ihres Anwesens verkaufen, da sie nicht genug einnehmen.
Adel oder Aufbruch
Die alten Eliten bestimmen nicht nur über ihr Land, sondern auch über die Politik. Wer an einem sitzungsfreien Freitag durch das House of Lords streift, trifft auf Touristengruppen, die sich durch die tiefroten Sitzreihen der Lords Chamber im Westminster Palace schlängeln. An kühlen Frühlingstagen wie diesem zieht es durchs Oberhaus, denn niemand heizt, wenn die noblen Herrschaften nicht zugegen sind.
An der Stirnseite des Raumes prangt ein goldener Thron, darüber ein kunstvoll geschnitzter, vergoldeter Baldachin. Von hier aus hält der Monarch bei der jährlichen Parlamentseröffnung die „King’s Speech“, in der er die Gesetzesvorhaben der Regierung vorstellt. Als König Charles III. vergangenen Juli diesen Thron bestieg, spiegelten seine Worte die Mission der Labour-Regierung wider: Die Gesetzgebung werde auf den „Prinzipien der Sicherheit, Gerechtigkeit und Chancengleichheit“ beruhen.
Die Aristokratie hält sich bis heute fest im politischen System. Offiziell dient das Parlament dem König: Er eröffnet es, ernennt die Regierung und bestätigt Gesetze. Diese Aufgaben sind zwar nur noch zeremoniell – der Monarch folgt in der Regel dem Rat des Premiers. Doch im House of Lords hat der Adel weiterhin Mitspracherecht.
Die Kammer stammt aus der Feudalzeit, als sie mehrheitlich aus Adligen und Gentry bestand, die den König berieten. Bis heute können nur Männer einen der für den Erbadel reservierten Plätze einnehmen. Im Jahr 1999 wollte die Regierung Blair die Erbadligen abschaffen, einigte sich nach langen Verhandlungen jedoch auf eine Reduzierung von gut 750 auf 92 Männer. Die meisten Mitglieder werden vom Premier ernannt – ehemalige Politiker, Wirtschaftsexperten oder Personen, die sich um das Land verdient gemacht haben. Manchmal erhalten auch fragwürdige Kandidaten einen Sitz. So ernannte der konservative Premierminister Boris Johnson den Tory-Großspender Peter Cruddas, der ihn bei der Wahl zum Parteivorsitzenden finanziell unterstützt hatte, zum Lord.
Im Oberhaus werden Gesetze debattiert, beraten und blockiert. Da die Sitzungen manchmal stundenlang dauern, nickt schon mal jemand ein. Kein Wunder: Das Durchschnittsalter liegt bei 70 Jahren. Die Titel „Life Peers“ werden auf Lebenszeit vergeben, und da mehr Mitglieder ernannt werden als ausscheiden, wächst das House of Lords stetig. Heute gibt es 832 aktive Mitglieder – bei 400 Sitzen. Stärkste Fraktion sind die Konservativen.Doch selbst die verbleibenden 92 Erbadligen sollen bald Geschichte sein. Die Labour-Regierung plant, das Reformwerk Blairs zu vollenden und erbliche Adelstitel endgültig abzuschaffen, auch will sie das Renteneintrittsalter für Life Peers auf 80 Jahre festlegen. Eine große Mehrheit der Bevölkerung unterstützt das – knapp zwei Drittel lehnen den Erbadel im Oberhaus ab.
Aber leicht lassen sich die Erbadligen nicht verjagen, schon gar nicht Charles Courtenay, einer der lautstärksten Verteidiger alter Traditionen. Zum Interview verabredet sich der Earl of Devon in einem Café neben Westminster Abbey, wo einst Queen Elizabeth II. gekrönt wurde. Damals glaubten die Menschen noch an die Einheit von Krone und Volk. Die erste live übertragene Krönung sahen fast 27 Millionen Briten – bei 36 Millionen Einwohnern im Land. Die Monarchie war nahezu unumstritten. Charles’ Krönung sahen nur mehr 18 Millionen. In Umfragen ist die Zustimmung für die Monarchie stark gesunken: Nur noch etwa die Hälfte befürwortet sie.
Graf Charles trägt Tweedjackett und Pullover über dem Hemd, er spricht ruhig und unaufgeregt – als hätte er nichts zu befürchten. Mit 49 Jahren zählt er zu den jüngsten Mitgliedern des House of Lords – ganz im Gegensatz zu seinem fast 500 Jahre alten Adelstitel, einem der ältesten im Oberhaus. Übernommen hat er ihn nach dem Tod seines Vaters, Hugh Courtenay. „Wir geben dem Parlament Kontinuität in unsicheren Zeiten“, sagt der aktuelle Earl of Devon. „Während Politiker oft nur in fünfjährigen Wahlzyklen denken, verfolgen die Erbadligen eine langfristige, generationenübergreifende Perspektive.“ Courtenay hält es für akzeptabel, dass manche durch die Geburt ein politisches Mitspracherecht erhalten. „Vererbung ist ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Gefüges“, sagt er. „Wir geben Grundbesitz, Eigentum, Namen und genetische Eigenschaften weiter.“
Die Gesellschaftsordnung, von der Courtenay spricht, kommt ihm in vielerlei Hinsicht zugute. An freien Tagen zieht er sich auf Powderham zurück, dem Schloss seiner Vorfahren in Südengland. Dort lebt er mit seiner Frau, einer amerikanischen Schauspielerin, und drei Kindern. Zählt er sich zur Oberschicht? Darüber denke er nicht nach. „Ich bin ein Aristokrat – was das bedeutet, liegt nicht in meiner Hand.“ Dass soziale Herkunft den Erfolg bestimmt, glaubt er nicht: „Unser Klassensystem ist durchlässig.“
Tatsächlich sind Macht und Einfluss nicht mehr nur eine Frage des Stammbaums, es ist längst nicht allein der Adel, der eine exponierte Stellung einnimmt. Mit der oft versprochenen Chancengleichheit hat das jedoch wenig zu tun, wie der Besuch in einem Townhouse in Westminster zeigt.
Konservativ und kapitalstark
Es überrascht nicht, dass Jacob Rees-Mogg seinen Besuch in einem Zweireiher mit feinem Hemd und Krawatte empfängt. Der formelle Stil ist sein Markenzeichen. Gerüchten zufolge besitzt er keine Jeans. Sir Jacob, wie ihn seine Angestellten nennen, gehört zu den umstrittensten Politikern des Landes. Der Erzkonservative, der bei der Wahl im Juli seinen Sitz im Unterhaus verlor, hat sich vor Jahren als Brexit-Hardliner einen Namen gemacht. Seine Anhänger verehren ihn, seine Gegner halten ihn für einen reaktionären Sektierer.
Der 56-Jährige führt eine Treppe hinauf zu seinem Arbeitszimmer, vorbei an Gemälden historischer Persönlichkeiten. Die Bilder stammen aus der Sammlung seiner Frau Helena, Tochter einer bedeutenden Kunstsammlerin und eine der vermögendsten Frauen des Landes. Eines der Gemälde habe er selbst aufgehängt, erzählt Rees-Mogg. Dabei sei er auf Weinkisten balanciert, während sein Sohn die Leiter hielt. „Ich bin eigentlich kein DIY-Mann“, sagt er verschmitzt. Also niemand, der zu Hause die Dinge selbst in die Hand nimmt.
In einem anderen Lebensbereich sieht das anders aus. Rees-Mogg verkörpert die Elite, die sich mit dem Strukturwandel des Landes an die Spitze befördert hat. Bereits mit elf Jahren, schreibt sein Biograf Michael A. Ashcroft, habe er sein Taschengeld in Aktien investiert und in der Schule die „Financial Times“ gelesen. Er war Gründer einer Investmentfirma, Tory-Abgeordneter, „Leader of the House of Commons“, Staatssekretär und Wirtschaftsminister. Das Vermögen des Ehepaars Rees-Mogg wird auf über 118 Millionen Euro geschätzt. Selfmade, zumindest zum Teil.
Den Aufstieg verdankt Rees-Moggs auch seinem Vater. William Rees-Mogg war als Chefredakteur der „Times“ bestens vernetzt und verschaffte ihm früh Zugang zu den Mächtigen. Zu seinen ersten Kindheitserinnerungen gehöre, wie er mit seinem Vater den Landsitz des Premierministers besucht habe, so Ashcroft. Sein Vater soll ihm auch Jobs in der Finanzbranche verschafft und den Einstieg in die Politik erleichtert haben.
„Er hatte einen enormen Einfluss auf mein Leben und meine politische Prägung“, sagt Rees-Mogg in seinem Arbeitszimmer, in dem sich die prachtvolle Kunstausstellung fortsetzt. Ein Kronleuchter taucht die dunklen viktorianischen Holzmöbel in grelles Licht. Auf einem wuchtigen Kaffeetisch liegt ein Rosenkranz – Rees-Mogg ist streng-gläubiger Katholik. Daneben ein vollendetes „Downton Abbey“-Puzzle – das Werk eines seiner Söhne. Der ist heute nicht zu Hause, sondern in Eton, einem der exklusivsten Internate der Welt. Die privilegierte Herkunft öffnete bereits Rees-Mogg die Türen der Privatschule, später studierte er in Oxford.
Wie sieht er das Vorhaben von Labour, die Klassenschranken zu sprengen? „Völliger Unsinn“, lautet seine Antwort. „Keine Gesellschaft kann absolute Gleichheit erreichen, weil wir alle in unterschiedliche Familien hineingeboren werden. Aber hat jemand, der clever ist, eine Chance, in diesem Land erfolgreich zu sein? Ja, auf jeden Fall.“
Gowns und Geheimclubs
Die Realität sieht jedoch oft anders aus. Klugheit allein reicht kaum, um es ganz nach oben zu schaffen. Vielmehr hat sich eine gut geölte Maschinerie etabliert, die eine kleine Elite an die Macht bringt. Ein wichtiger Teil davon: Netzwerke. Wer Einfluss erlangen will, muss sie bereits in jungen Jahren knüpfen – an Orten wie Oxford.
Am Harris Manchester College wird das Abendessen serviert. Stimmengewirr erfüllt den Speisesaal. Drei lange Tafeln sind gedeckt, Studierende stehen an den Tischen. Als sich die schwere Holztür öffnet, verstummen die Gespräche. Eine Gruppe in akademischen Roben schreitet zum „High Table“ an der Stirnseite des Raums – dort speisen die Dozenten. Ein Chor singt, die Rektorin spricht ein Gebet, dann beginnt das dreigängige Dinner. Während einige Colleges an täglichen formellen Abendessen festhalten, speisen Studenten und Dozenten am Harris Manchester College nur noch zweimal pro Woche so festlich – ein Versuch, sich von der traditionellen „Town and Gown“-Mentalität zu lösen, die Studenten rituell von der Stadtbevölkerung trennt.
Dennoch sind diese Abende der Höhepunkt der Woche: Die Stimmung ist ausgelassen, die Studenten haben sich herausgeputzt: in Abendkleidern, Anzügen, Hemden, manche tragen darüber ihre akademischen Roben, die Gowns. Zwar wächst unter den jungen Leuten das Bewusstsein für die Geschichte dieser hierarchischen Traditionen, doch zugleich bleibt der Stolz, Teil eines exklusiven Clubs zu sein.
Oxford zählt neben Cambridge und der LSE zu den besten Universitäten des Landes. Die Plätze sind begehrt: 2023 lag die Annahmequote bei 16 Prozent. Privatschulen fungieren als Einflugschneise zu den Eliteuniversitäten – doch landen darf dort nur, wer sich das Ticket leisten kann. Die prestigeträchtigste Einrichtung – Eton – kostet jährlich 70.000 Euro. Trotzdem bleiben Privatschulabsolventen überrepräsentiert: 2023 stellten sie 32 Prozent der Studenten.
„Privatschulen sind ein zentraler Mechanismus zur Selbstreproduktion der Elite“, sagt der Soziologe Friedman. Dort würden die Schüler früh mit den sozialen Codes der Oberschicht und den exklusiven Gesellschaften und Sportvereinen der Eliteuniversitäten vertraut gemacht. Absolventen berichten, wie sich an ihren Schulen ganz selbstverständlich informelle Netzwerke bilden – etwa durch ihre regionale Herkunft, Urlaube an denselben Orten oder elterliche Golf- und Jagdausflüge.
„Privilegierte fördern oft ihresgleichen“, sagt Friedman, „nicht primär aufgrund von Leistung, sondern aufgrund gemeinsamer kultureller Prägungen. So verbleibt die Macht dort, wo sie schon immer war. Die Kombination aus erstklassiger Ausbildung und sozialem Kapital ermöglicht Zugang zur Macht: 2019 gaben 39 Prozent der Spitzenkräfte in Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft an, eine Privatschule besucht zu haben – in der Gesamtbevölkerung lag der Anteil bei sieben Prozent.
Um das Zweiklassensystem im Bildungswesen aufzubrechen und mehr Schüler ins staatliche System zu lenken, setzt die Regierung mit Reformen an: Seit dem Frühjahr gilt auf Schulgebühren von Privatschulen eine Mehrwertsteuer von 20 Prozent. Außerdem erhalten wohltätige Privatschulen keine Ermäßigung mehr bei der Grundsteuer. Daraus entstehende Einnahmen in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro jährlich sollen in das staatliche Schulsystem fließen.
Wie diese Selbstreproduktion funktioniert, lässt sich in Oxford beobachten. „Die Kontakte, die ich hier geknüpft habe, sind Freundschaften fürs Leben und können auch beruflich nützlich sein“, sagt Gabriel Kaufmann, Präsident der Studentenvereinigung am Harris Manchester College. Wer eine Karriere in Westminster anstrebt, findet die richtigen Anlaufstellen, etwa in der Oxford University Conservative Association oder der renommierten Oxford Union Society – Kaderschmieden für Premierminister wie Margaret Thatcher, David Cameron und Theresa May – und auch Tony Blair. Rees-Mogg hatte hier zentrale Positionen inne.
Und dann sind da noch die berüchtigten Geheimgesellschaften an Universitäten, die nach wie vor den Mächtigen von morgen nützen, obwohl wachsende Kritik ihren Einfluss geschmälert hat. Die seit Jahrhunderten bestehenden „Old Boys“-Netzwerke sind bekannt für Dekadenz, bizarre Rituale, exzessiven Alkoholkonsum, Vandalismus – und ihre einflussreichen Mitglieder. David Cameron bestreitet bis heute vehement eine Behauptung, wonach er für die Aufnahme in die „Piers Gaveston Society“ seinen Penis in den Mund eines toten Schweins gesteckt haben soll. Auch der „Bullingdon Club“, ein elitärer Herren-Dining-Club, ist für seine Exzesse bekannt. Boris Johnson soll andere Alumni noch Jahre später mit „Buller, Buller, Buller“ begrüßt haben. Rees-Mogg hingegen beteuert, nie dazugehört zu haben. „Dafür war ich nicht stylish genug“, sagt er schmunzelnd.
Von Eton und Oxford ist der Weg in die obersten Etagen nur noch ein kurzer. Doch wer sind die Menschen, die an der Spitze Großbritanniens stehen? Und welchen Einfluss üben sie aus? Friedman und Reeves definieren gut 30.000 Menschen als Elite. Deren politische Orientierung ist den Wissenschaftlern zufolge mehrheitlich moderat bis Mitte-links. Besonders einflussreich innerhalb dieser Schlüsselakteure ist jedoch eine kleinere Fraktion: die sogenannte Wohlstandselite. Sie gehört zum obersten ein Prozent der Vermögenden – etwa 6000 Personen. Politisch sind sie deutlich aktiver als andere Mitglieder der Elite, weil sie häufiger an Parteien spenden und engere persönliche Netzwerke zu Entscheidungsträgern pflegen.
„Weil sie sowohl Einfluss als auch Geld haben, können sie ihre politischen Überzeugungen in konkretes Handeln übersetzen“, erklärt Friedman. Doch diese politische Gesinnung unterscheide sich deutlich vom Rest der Elite: „Ihre Mitglieder tendieren stark nach rechts, lehnen Steuererhöhungen für Reiche ab, sehen soziale Ungleichheit seltener als Problem und bewerten das Empire positiver.“ Die Interessen dieser kleinen, aber mächtigen Gruppe spiegeln sich in der Politik wider, erklärt er weiter. „Großbritannien wird historisch konservativ regiert, und selbst die aktuelle, bestenfalls moderate Labour-Regierung scheut die Konfrontation mit den Großunternehmen.“
Politik und Privatwirtschaft
Wahrscheinlich liegt das auch an der Verzahnung von Privatsektor und politischer Elite, die in Großbritannien besonders eng ist. Politiker wechseln mühelos zwischen Regierung und Wirtschaft, profitieren von Netzwerken und sichern sich so Einfluss und Macht. Der fliegende Wechsel zwischen Politik und Privatwirtschaft – bekannt als Revolving Door, Drehtür – wird hierzulande weitaus entspannter gehandhabt als in anderen Ländern. Während in Deutschland ehemaligen Regierungsmitgliedern der Gang in die Privatwirtschaft für bis zu 18 Monate untersagt werden kann, gibt es in Großbritannien keine vergleichbare gesetzliche Karenzzeit.
Oft nutzen Ex-Politiker ihre alten Kontakte, um politische Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. So lobbyierte der Ex-Premier Cameron als Berater eines Finanzunternehmens für ein staatliches Corona-Kreditprogramm – geschadet hat es ihm nicht. Die Drehtür rotierte weiter: 2023 ernannte Rishi Sunak Cameron zum Außenminister. Da er für das Amt Mitglied einer Parlamentskammer sein musste, erhob Sunak ihn kurzerhand ins House of Lords.
Erst im April hat die Regierung ein weiteres Privileg der Elite abgeschafft, um die Kluft Arm und Reich zu verringern. Der „Non-Domiciled-Status“ ermöglichte es wohlhabenden Ausländern sowie Briten mit ausländischen Wurzeln, Auslandseinkünfte vom Fiskus fernzuhalten. Jetzt werden Abgaben in Großbritannien fällig. Erste Folgen ließen sich in der Mitte Mai von der „Sunday Times“ veröffentlichten Rangliste der vermögendsten Menschen im Land ablesen: Die Zahl der Milliardäre sank im vergangenen Jahr von 165 auf 156. Nie in der 37-jährigen Geschichte des Rankings haben so viele Superreiche das Vereinigte Königreich auf einmal verlassen.
Standpunkte statt Stammbaum
Nicht nur die Labour-Regierung will den Status quo kippen. Manchmal regt sich der Widerstand sogar innerhalb der Institutionen, wie im Fall von Carmen Smith. Die 29-Jährige bittet zum Gespräch in ihr Büro in Westminster. Im vergangenen Jahr ist die Waliserin als jüngstes Mitglied der Geschichte ins Oberhaus eingezogen – ausgewählt in einem internen Verfahren ihrer Mitte-links-Partei Plaid Cymru, nachdem ein Abgeordneter zurückgetreten war.
In ihrem Büro geht es weit weniger prachtvoll zu als im nur wenige Hundert Meter entfernten Westminster Palace. Die weißen Wände und der graue Teppichboden erinnern mehr an ein Kranken-, denn an ein Königshaus. Auf Smiths Schreibtisch liegt ein Buch mit dem Titel „The Power of the People“, an der Wand hängt ein Druck der Lichtinstallation „New Dawn“ von Mary Branson, eine Hommage an die Suffragetten-Bewegung, die für das Frauenwahlrecht kämpfte.
Die ehemalige Aktivistin Smith betrachtet ihre Arbeit als einen Akt des Protests.„Leute wie ich landen normalerweise nicht hier“, sagt sie. Während den meisten Lords der Weg geebnet wurde, musste sie ihn sich erst freikämpfen. Smith wuchs in armen Verhältnissen in Wales auf und kümmerte sich gemeinsam mit ihrer Mutter um ihren demenzkranken Vater. Ihren Titel „Baroness of Llanfaes“ wählte sie in Anlehnung an die Sozialbausiedlung, in der sie aufwuchs. Der ganze zeremonielle Pomp? Völlig übertrieben, findet sie. Für ihre erste Rede lieh sie sich eine Robe aus Kunstpelz. Ihren Titel erwähnt sie nur ungern; er schaffe „eine Hierarchie über einer bestehenden Hierarchie“, konstatiert sie.
Für Smith ist das britische Parlament vor allem eines: „ein Club“. Auch die Grundidee des House of Lords lehnt sie ab. „Ich glaube nicht an ein ungewähltes Haus.“ Stattdessen plädiert sie dafür, das Oberhaus durch eine demokratisch gewählte Kammer zu ersetzen, welche die Regionen und Nationen des Vereinigten Königreichs repräsentativ widerspiegeln soll. „Politik braucht Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen“, sagt sie. „Viele Abgeordnete verteidigen die Existenz von Privatschulen, weil sie selbst dort waren oder ihre Kinder und Enkel dorthin schicken.“ Smiths Ideen sind keineswegs unrealistisch. Auch die Sozialdemokraten streben eine demokratisch gewählte Kammer an. 55 Prozent der Briten unterstützen diesen Plan.
Gelingt Labour der ersehnte Wandel? Kann die Regierung die Klassenschranken durchbrechen? Die Pläne sind mindestens ehrgeizig. Von großen Teilen der Bevölkerung, der die Vormachtstellung einer privilegierten Minderheit zunehmend missfällt, mag sie Rückenwind erhalten. Soziologieprofessor Sam Friedman lobt das Vorgehen: „Selbst weitaus radikalere Labour-Regierungen haben sich nicht an die Besteuerung von Privatschulen herangewagt.“ Dennoch dämpft er allzu hohe Erwartungen. Es gebe „einen Unterschied zwischen dem, woran man glaubt, und dem, was man umsetzen kann“. Die Elite, sagt er, „wird ihren Status nicht kampflos aufgeben.“
Als Tony Blair 1999 vor seine Anhänger trat, erklärte er den Klassenkampf voreilig für beendet. Darauf ließ er einen weiteren Satz folgen. „Der Kampf für wahre Gleichheit beginnt jetzt.“ Seine Worte gelten noch immer.
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