Auf dem SPD-Parteitag hat sich "eine frei flottierende Unzufriedenheit Luft verschafft", sagt der Politologe Wolfgang Schroeder. Die ganze Aufstellung der SPD passe nur noch bedingt zu ihrem Selbstverständnis als Partei der kleinen Leute. "Daraus ergeben sich Schieflagen, die bei den Wählerinnen und Wählern so ankommen, dass die SPD als eine Partei wirkt, die nicht weiß, wer sie ist, wo sie hinwill und wie sie weiter gehen kann." Schroeder sagt, die SPD müsse stärker auf "die untere Gerechtigkeitslinie" achten.
ntv.de: Beim SPD-Parteitag in Berlin ist Lars Klingbeil bei der Wahl zum Parteivorsitzenden massiv abgestraft worden. Ist er nachhaltig geschwächt?
Wolfgang Schroeder: Abgestraft wurde er, ob er massiv geschwächt ist, hängt auch davon ab, welche Schlüsse er daraus zieht. Also, ob es ihm gelingt, die Partei für seinen Kurs zu gewinnen, was bisher noch nicht der Fall ist. Es ist ein höchst problematischer Vorgang, wenn ein Parteivorsitzender, der das sozialdemokratische Machtzentrum in Partei und Koalition darstellen will, ein so schlechtes Ergebnis erhält. Das zeigt: Diese Partei ist nicht so steuerbar, wie das in vergangenen Zeiten über das Zusammenspiel mit den Landesverbänden teilweise der Fall gewesen ist. Bei Klingbeils Wahl hat sich eine frei flottierende Unzufriedenheit Luft verschafft, die am Ende den ganzen Parteitag als depressive Veranstaltung erscheinen lässt, die eher den Charakter eines unprofessionellen Hühnerhaufens abbildet.
Aber?
Aus dieser Lage kann Klingbeil auch wieder herauskommen. Er muss den Warnschuss aber auch als Weckruf begreifen. Dabei geht es um mehr als nur um ein anderes Kommunizieren und mehr Personen in der Partei zu beteiligen. Früher hatte man inhaltlich lautstarke Kontroversen; heute scheint es leiser, aber machtpolitisch nicht weniger unversöhnlich. Eine Partei ist ja nicht nur eine Arena des Ringens um den innerparteilichen Kurs. Am Ende muss sie auch eine Solidarorganisation sein, sonst kann sie im Wettbewerb mit den anderen Parteien nicht bestehen.
Bärbel Bas hat eine Zustimmung von 95 Prozent bekommen. Ist sie jetzt die Stärkere der beiden Parteivorsitzenden?
Das glaube ich nicht. Sie hat dieses Amt ja nicht aus eigener Kraft angestrebt, sondern musste gewissermaßen erst dazu überredet werden. Meine Vermutung ist, dass bei ihr der kooperative Teamgeist stärker ist als der Wille zur Führung. Würde mich sehr wundern, wenn sie jetzt sagen würde: 'Ich habe ein super Wahlergebnis und du, lieber Lars, hast dich unterzuordnen.' Klingbeil ist der Vizekanzler, er ist der Architekt dieser Regierung, er hat die wesentliche Richtungsentscheidung der Koalition mit dem Sondervermögen und der Reform des Grundgesetzes auf den Weg gebracht, er hat die Mannschaft zusammengestellt. Das Machtzentrum der SPD sehe ich weiterhin im Finanzministerium. Aber es steht unter Beobachtung; der Vertrauensvorschuss ist geschmolzen und er muss sich bewähren.
Die SPD will in den kommenden zwei Jahren ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten. Kann der Prozess die Krise der SPD abfedern?
In der aktuellen Lage der SPD fehlen ihr noch die Voraussetzungen, um einen Grundsatzprogrammprozess zu führen, der ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird. Auf jeden Fall ist die SPD viele Antworten schuldig. Es geht um ihre gesamte Aufstellung als Partei. Die passt nur noch bedingt zum Selbstverständnis der SPD als Partei der kleinen Leute, als Partei, die eine Brücke zwischen Unterschichten und aufgeklärtem Bürgertum sein will. Daraus ergeben sich Schieflagen, die bei den Wählerinnen und Wählern so ankommen, dass die SPD als eine Partei wirkt, die nicht weiß, wer sie ist, wo sie hinwill und wie sie weiter gehen kann.
Hat der CDU ihr Programmprozess nicht bei der Neuaufstellung unter Friedrich Merz geholfen?
Sagen wir mal so: Dieser Prozess hat die CDU nicht behindert. Geholfen hat der Union sicherlich, dass durch den Programmprozess Vertreter der unterschiedlichen Parteiflügel eingebunden werden konnten. Sie haben auch thematisch stärker akzentuiert, vor allem in der Migrationsfrage. Insofern kann ein Programmprozess für eine Partei eine wertvolle Integrationsinstanz sein, wenn sie weiß, wer sie ist und wohin sie will. Zudem muss das Ganze gut vorbereitet und strukturiert werden.
Auch die SPD wird das in einem Zeithorizont von zwei Jahren natürlich hinbekommen. Aber ob sie es auch so hinbekommt, dass es sie wirklich weiterbringt? Das ist doch die entscheidende Frage. Man könnte ja auch noch einmal in sich gehen und sagen, dass mit dieser oberflächlichen und ideenlosen Attitüde der letzten Jahre kein Blumentopf zu gewinnen ist: Wir wollen erst einmal klären, was überhaupt unsere Probleme sind, welche Fragen daraus resultieren und was für Antworten denkbar sind. Das würde ich als notwendige Voraussetzung sehen, um einen solchen Prozess überhaupt in Gang zu setzen.
Die CDU hat es in gut zwei Jahren geschafft.
Die SPD ist nicht die CDU. Die SPD ist zumindest in ihrem eigenen Selbstverständnis eine Programmpartei, die CDU ist eine pragmatische, in der Regel reaktive Partei. Auch das neue CDU-Programm enthält im Vergleich zu den früheren Programmen kaum Veränderungen grundsätzlicher Art. Was die CDU gemacht hat, war eine homöopathische Beteiligungsaktion, um sich selbst zu vergewissern und zu stabilisieren. Das könnte die SPD auch machen, aber unterhalb der Ebene eines anspruchsvollen und richtungsweisenden Grundsatzprogramms.
In diesem Sinne hat sich die SPD auch stark an die CDU angepasst. Ein Grundsatzprogrammprozess ist nicht einfach das Ergebnis von Wille und Vorstellung. Aber jetzt ist das so entschieden. Und da wenig an Voraussetzungen geklärt sind, gibt es dann eben Legitimation durch Verfahren. Das funktioniert; aber ob es innovativ ist? Ein Vorteil ist sicher, dass ein solcher Prozess Öffentlichkeit bringt. Dann sehen die Leute: Die tun was, die kümmern sich, die versuchen wenigstens ihre eigene Organisation auf die Höhe der Zeit zu bringen.
Wie haben Sie die Debatte über Frieden und Russland am Freitag wahrgenommen? Ist die Haltung von Ralf Stegner und Co. ein Problem für Klingbeil?
Auf jeden Fall. Das ist eine grundsätzliche Infragestellung des Regierungs- und Parteikurses. Da hätte ich erwartet, dass Klingbeil von Anfang an klare Kante zeigt und sagt: 'Olaf Scholz hat die Zeitenwende-Rede gehalten, ich die Tiergartenrede. Wir sind konfrontiert mit einem imperialen Aggressor, der sich andere Länder einverleiben will und keine Bereitschaft zu echten Verhandlungen zeigt. Wir brauchen ein progressives Sicherheitsverständnis und nicht ein romantisches Unsicherheitsverständnis. Und gleichzeitig machen wir viel Diplomatie, auch wenn das immer wieder bestritten wird.' Aber richtig ist gleichwohl, dass zu verhindern ist, dass das Militärische dominiert und der Militarismus blüht.
Klingbeil hat auf dem Parteitag gesagt, dass es mit ihm "keinen anderen Weg in der Ukraine-Politik unserer Partei geben wird".
Trotzdem ist da in der Kommunikation und Haltung noch viel Luft nach oben. Wenn der grundlegende Kurs der Partei in einer wesentlichen Frage unserer Zeit torpediert wird, dann ist das kein normaler Debattenbeitrag. Und das muss ein Vorsitzender auch klar herausstellen. Dann wird er zwar nicht Everybody's Darling sein, aber er kann seine Autorität durch eine klare Positionierung steigern.
Im Mittelpunkt vieler Reden stand der Appell an den innerparteilichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt, auch das Versprechen, verstärkt die Interessen der Arbeitnehmer in den Blick zu nehmen. Aber eine echte Idee, warum die SPD in den Umfragen und bei der Bundestagswahl so abgestürzt ist, scheint die Partei nicht zu haben. Oder haben Sie entsprechende Ideen wahrgenommen?
Das ist aber keine Frage, die erst mit den letzten Wahlen virulent geworden ist. Dahinter stecken vielmehr einerseits sozialstrukturelle, gesellschaftliche Wandlungsprozesse, auf die die SPD keine substantiellen Antworten geben konnte. Die Nachfrage hat sich verändert. Was wollen jene, die in den unteren und mittleren Sozialschichten leben? Andererseits ist der Parteienwettbewerb in der sozialen Frage enger geworden. Die soziale Frage ist schon lange nicht mehr das Alleinstellungsmerkmal der SPD; sie konkurriert hier gegen Linke, Grüne, teilweise das BSW, und in einzelnen Feldern ist auch die Union engagiert. Einen spezifischen und neuen SPD-Zugang zu den unteren und mittleren Schichten, die in starkem Maße auf den Sozialstaat angewiesen sind, hat die SPD bislang nicht gefunden. Somit kam es am Ende dazu, dass die unteren Schichten sich vom Diskurs der SPD entkoppelten.
Vielleicht kann ein Programmprozess neue Perspektiven eröffnen. Dann muss man neben der vorhandenen Perspektive einer kooperativen und sozialen Gesellschaft aber auch die harten Punkte mitdenken, Antworten auf die eigenen Zielkonflikte und inneren Widersprüche geben. Wenn man das nicht einmal versucht, dann braucht man sich auch nicht zu wundern, dass man keine Anschlussfähigkeit an die gesellschaftlichen Problemlagen findet. Eine Partei, die vor allem glättet, unter den Tisch kehrt und bestenfalls durch Geld und Bürokratie auszubalancieren sucht, ist weder kulturell noch politisch anschlussfähig.
An was denken Sie konkret?
Ein Beispiel: Über das Bürgergeld spricht die Sozialdemokratie immer als etwas, das den Leuten zusteht, als Teil des Sozialstaats und des Demokratieversprechens. Das ist wichtig und richtig. Zugleich sind Zuwendungen, die nicht durch eine Gegenleistung legitimiert sind, nicht nur besonders begründungspflichtig, sie kollidieren im Hinblick auf gewisse Gruppen auch mit der Ethik der Arbeits- und Leistungsgesellschaft. Solche Debatten überlässt die SPD häufig den Konservativen, den Neoliberalen und den Rechten. Das ist aber falsch, wie wir seit Jahren schon an den Wählerbewegungen sehen.
Denn es gibt zwei Gerechtigkeitslinien für die SPD: einmal jene zwischen oben und unten - die enorme Reichtumskonzentration auf der einen und eine eklatante Prekarität auf der anderen Seite. Die spielten in den Sonntagsreden der Sozialdemokratie eine prominente Rolle; wenn sie regiert, tritt diese Rhetorik und eine mögliche dazu gehörende Praxis eher in den Hintergrund.
Und die zweite Gerechtigkeitslinie?
Das ist die zwischen denen, die arbeiten und wenig haben, und denen, die nicht arbeiten. Diese zweite Gerechtigkeitslinie muss die SPD, wenn sie die unteren und mittleren Gruppen erreichen will, viel ernster nehmen. Sie muss klar sagen: Wir sind die Partei der Arbeit, wir versuchen, dazu beizutragen, dass alle, die können, Teil der Arbeitsgesellschaft werden. Und unser Versprechen ist, dass die Arbeitsgesellschaft dort, wo sie schlecht ist, reformiert wird.
Warum sollte die untere Gerechtigkeitslinie wichtiger für die SPD sein?
Sie ist für den Erfolg bei Wahlen wichtiger, weil mehr Menschen damit verbunden sind. Weil sie nicht nur eine abstrakte Reichtumsgröße abbildet, sondern in die konkreten Lebenslagen und Alltage hineinreicht. Die Kassiererin im Supermarkt fragt sich, wie es sein kann, dass sie bei einem Achtstundentag und harter Arbeit nur einige Hundert Euro mehr bekommt als jemand, der gar nicht arbeiten geht. Die SPD darf nicht skandalisieren, dass Menschen ohne Arbeit einen Bedarf gedeckt bekommen. Aber sie muss deutlich machen, dass sie vor allem darum bemüht ist, dass Menschen in Arbeit kommen. Und dass die mehr haben müssen als diejenigen, die keiner Arbeit nachgehen.
Und die obere Gerechtigkeitslinie?
Die ist emotional eher leichter zu mobilisieren. Das wurde auf dem Parteitag ja auch verschiedentlich gemacht: Redner haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass Eigentums- und Einkommensverhältnisse immer weiter ins Ungleichgewicht kommen. Aber auch da muss man am Ball bleiben, das muss man wohl kampagnenmäßig durchspielen und kann das nicht nur ab und zu bei Wahlen und bei Parteitagen aufblitzen lassen.
Mit Wolfgang Schroeder sprach Hubertus Volmer
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