Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt die Bändigung des „Rechts zum Krieg“ als Eckpfeiler unserer Weltordnung. Die UN-Charta hat das Gewaltmonopol in die Hände des Sicherheitsrats gelegt und öffnet bis zum Einschreiten dieses Weltdirektoriums das Fenster für Selbstverteidigung nur für den Fall eines „bewaffneten Angriffs“. Wann immer der Sicherheitsrat – wie in allen großen Konflikten – durch Dissens der fünf Vetomächte blockiert ist, lenkt sich der Blick auf ebendieses Fenster der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung.

Der Militärschlag Israels gegen die Atomanlagen Irans und andere militärische Ziele lässt mit voller Wucht die Frage aufbrechen, wann sich das Zeitfenster für Selbstverteidigung gegen einen Überfall öffnet. Die schroffe Kritik deutscher Völkerrechtler an diesem Präventivschlag kontrastiert mit der Bekräftigung des israelischen Selbstverteidigungsrechts durch die G 7. Dabei sind Deutschland und andere westliche Staaten als Partner, ja Bürgen der israelischen Sicherheit und Lieferanten von Waffen zur völkervertraglichen Vergewisserung auch der eigenen Rolle angehalten.

Die militärische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat die zeitliche Dimension der Selbstverteidigung stark verändert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließ die Nachricht von der Mobilisierung feindlicher Reiche auskömmlich Zeit für eine wirksame Verteidigung. Noch vor nicht allzu langer Zeit forderten deutsche Völkerrechtslehrer, dass ein Angriff schon im Gange sein muss. Die Sorge vor einer vorschnellen Eskalation des Konflikts dominierte. Dabei enthoben der Schutzschirm der USA in der alten Bundesrepublik Recht und Politik vor einem allzu scharfen Nachdenken über die Stufen der Bedrohung.

Aber schon der Sechstagekrieg hatte gezeigt, dass das Zuwarten bis zum Angriff nicht mehr modernen Konfliktszenarien entspricht. Nicht das Rollen der Panzerketten über die Grenze und die Alarmsirenen bestimmen die militärische Reaktionsschwelle, sondern drei Faktoren: die erkennbare Aggressionsabsicht der gegnerischen Regierung, das militärische Angriffspotential und die Verteidigungsfähigkeit des bedrohten Staates.

So hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass schon der unmittelbar bevorstehende Angriff (imminent attack) das Recht zur Selbstverteidigung auslöst. Dies bedeutet, dass in allernächster Zeit mit einem Angriff zu rechnen ist. Hier liegt auch für viele eine nicht weiter verschiebbare Grenze.

Ausdehnung der präventiven Selbstverteidigung

Unter dem Eindruck des internationalen Terrorismus und völlig unberechenbarer Gewaltregime mit Zugriff auf Massenvernichtungswaffen hat vor allem die Sicherheitsstrategie von George W. Bush 2002 eine Ausdehnung der Selbstverteidigung auf vorbeugende Zerstörung solcher Vernichtungspotentiale in Anspruch genommen, auch wenn über einen drohenden Angriff noch starke Unsicherheit besteht.

Der blamable Auftritt der USA vor dem UN-Sicherheitsrat mit substanzlosen Behauptungen zu Massenvernichtungswaffen des Irak hat diese Argumentationslinie beschädigt, obwohl es hier nicht um Selbstverteidigung ging. Rechtliche Glaubwürdigkeit hängt eben auch an sauberer Beweisführung.

Vor allem europäische Völkerrechtslehrer haben mit Empörung jede Ausdehnung präventiver Selbstverteidigung verworfen. Etwas verständnisvoller, aber im Ergebnis ablehnend, hat sich auch ein Expertengremium der Vereinten Nationen mit der neuen Doktrin vorbeugender Selbstverteidigung auseinandergesetzt. Wir dürfen aber getrost davon ausgehen, dass die strategische Planung aller Großmächte auf dieser vorbeugenden Selbstverteidigung aufbaut – sofern diese Mächte sich überhaupt von völkerrechtlichen Schranken leiten lassen.

Die aktuelle Bedrohung Israels wirkt wie ein Lackmustest für die präventive Selbstverteidigung und deren Grenzen. Das Völkerrecht kann nur dann Legitimität bewahren, wenn es existenziellen Sicherheitsbelangen der einzelnen Staaten Rechnung trägt und zugleich einem Abgleiten in beliebige Rechtsfertigungsrhetorik wehrt. Im Völkerrecht darf die Unterwerfung unter das Gewaltverbot trotz existenzieller Bedrohung nicht Befolgungsanreize zunichtemachen.

Daher muss es für zulässige Selbstverteidigung darauf ankommen, ob beim Aufbau eines Vernichtungspotentials und erkennbarer Aggressionsabsicht des Gegners ein Zuwarten mit einem Abwehrschlag zumutbar ist. Im Falle des Iran hat das Regime mit seinen krakenhaften Satelliten im Nahen Osten überdeutlich seine Absicht bekundet und tätig manifestiert, Israel von der Landkarte zu tilgen. Die Internationale Atomenergiebehörde hat gerade jetzt eine Verletzung von Kooperationspflichten durch Teheran festgestellt.

Auch wenn wir nicht genau wissen sollten, wie weit das Nuklearprogramm des Iran fortgeschritten ist, bleibt die Sorge vor einem sich schließenden Zeitfenster: Ab einem nicht fernliegenden Zeitpunkt wäre damit zu rechnen, dass über das gesamte Land verstreute und in Bergmassiven eingebunkerte Raketenbasen es unmöglich machen, das nukleare Vernichtungspotential auszuschalten oder auch nur die Trägersysteme zu zerstören.

Nachweis der existenziellen Bedrohungslage

Im Ergebnis kommt es darauf an, ob Israel glaubwürdige Anhaltspunkte für eine fortgeschrittene Nuklearrüstung des Mullah-Regimes und wachsende Barrieren für einen erfolgreichen Präventivschlag präsentieren kann. Dann hat die Berufung auf ein sich schließendes Zeitfenster und die Unzumutbarkeit eines Zuwartens auch auf Verhandlungslösungen rechtliche Überzeugungskraft.

Auf diesen Nachweis der existenziellen Bedrohungslage sollten auch diejenigen bestehen, die für eine neue Balance von Gewaltverbot und Selbsterhaltung in einer instabilen Weltordnung mit außer Kontrolle geratener Hochrüstung plädieren. Ein Gleichklang geltend gemachter Bedrohung mit dem kommunizierten Geheimwissen der westlichen Partner ist dabei mehr als hilfreich.

Eine noch verbleibende rechtliche Grauzone im Vorfeld eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs schafft nicht nur eine gewisse Unsicherheit. Sie bedeutet auch eine konstruktive Ambiguität, die den potenziellen Aggressor vor fortschreitender Aufrüstung mit Massenvernichtungswaffen warnt, ihm also gewissermaßen den roten Bereich mit möglicher Selbstverteidigung signalisiert. Umgekehrt mahnt sie den abwehrwilligen Staat, die zeitnahe Existenzbedrohung so zu begründen, dass sie zumindest für die zum Völkerrecht stehenden Staaten plausibel ist.

Matthias Herdegen lehrt Völkerrecht an der Universität Bonn. Zu seinen jüngsten Büchern gehören „Kampf um die Weltordnung“ und „Heile Welt in der Zeitenwende“.

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