Mit dem Krieg gegen den Iran geht Netanjahu ein Risiko ein. Gut möglich, dass es sich für ihn auszahlt. Wer sich allerdings ernsthaft um Israels Sicherheit sorgt, sollte die Politik des Ministerpräsidenten nicht bedingungslos mittragen.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verdankt seine politische Karriere einem Image. Als "Mr. Security" präsentiert er sich seit Jahrzehnten erfolgreich als alternativlos: Demnach bringt nur er den Mumm und die nötige Härte mit, um es mit den Feinden Israels aufzunehmen.
Das auch unter Netanjahus Druck von US-Präsident Donald Trump 2018 aufgekündigte Atomabkommen mit dem Iran hielt er für einen Blankocheck zum Bombenbau. Mehrfach forderte er Militärschläge gegen das Regime in Teheran, das seit Jahrzehnten die Auslöschung Israels propagiert und mit seinen Verbündeten im Jemen oder Libanon eine andauernde Bedrohungskulisse errichtet hat. Doch dazu kam es nie.
Bis jetzt. Mit der Begründung, der Iran sei kurz vor dem Bau der Atombombe, fliegt Israel seit Tagen Luftschläge auf Atomanlagen, aber auch auf Öldepots, Behörden und einen TV-Sender. Der Iran feuerte wiederum bereits Hunderte Raketen auf Israel.
Momentum für Netanjahu
Die Gelegenheit schien aus israelischer Sicht günstig: Hamas und Hisbollah sind massiv geschwächt, der Iran befindet sich seit Jahren in einer Wirtschaftskrise. Der Erzfeind könnte, wenn nicht besiegt, zumindest seiner Militärressourcen entledigt werden. Das macht den Angriff nachvollziehbar, völkerrechtlich legitimiert ist er damit nicht. Zumal sich nicht unabhängig nachprüfen lässt, wie nah Teheran der Bombe tatsächlich ist. Ein CNN-Bericht legt nahe, der Iran sei noch Jahre von der Bombe entfernt, Trump dementiert das. Die Öffentlichkeit wird es vermutlich nie gesichert wissen.
Mit einem Ende der Bedrohung durch den Iran und seiner Achse des Widerstands hätte Netanjahu eines seiner beiden zentralen sicherheitspolitischen Versprechen erreicht. Das Zweite ist: die Unmöglichkeit eines palästinensischen Staates. Denn der Nahost-Konflikt ist, bei aller historischen Komplexität und religiösen Aufladung durch Islamisten und radikale jüdische Siedler, im Grunde ein Territorialkonflikt: um das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer. Es kann keinen nachhaltigen Frieden geben, solange die Palästina-Frage nicht gelöst ist.
Westjordanland wird allmählich annektiert
Netanjahu und seine rechtsextremen Minister arbeiten an dieser Lösung. Das Westjordanland wird über den Siedlungsbau und dessen politische, rechtliche und militärische Absicherung nach und nach annektiert. Die schätzungsweise 2,7 Millionen Palästinenser auf dem Gebiet sind unter der Besatzung grundlegender Bürgerrechte beraubt, die israelische Armee agiert ihnen gegenüber brutal und willkürlich.
Der Überfall der in Gaza herrschenden Hamas vom 7. Oktober 2023 war für Netanjahu und wohl auch für viele Israelis der endgültige Beweis, dass von einem palästinensischen Staat nicht Sicherheit ausgehen würde, sondern Terror. Und zweifellos: Das Massaker war kein Widerstand, es war purer Terrorismus. Die Islamisten sind an keiner friedlichen Koexistenz interessiert.
Zur Wahrheit gehört dennoch, dass Netanjahu die Hamas über Jahre indirekt unterstützt hat, um einen Keil in die palästinensische Unabhängigkeitsbewegung zu treiben. Sein Sicherheitsversprechen an die israelische Bevölkerung löste sich am 7. Oktober vorübergehend in Luft auf.
Der Krieg, der daraufhin im Gazastreifen ausbrach, war zunächst ein Versuch der Wiederherstellung dieser Sicherheit, er war ein legitimer Akt der Selbstverteidigung. Das ist er längst nicht mehr. Die Zehntausenden Toten, die Zerstörung weiter Teile des Küstenstreifens, darunter nahezu aller Krankenhäuser und Schulen, das Vorenthalten humanitärer Hilfe und das Zusammenpferchen einer an Hunger leidenden Bevölkerung von zwei Millionen Menschen auf engstem Raum hat mit einer Bekämpfung der Hamas nichts mehr zu tun.
Rechtsextreme "Großisrael"-Ideologie
Die israelische Regierung verfolgt inzwischen offenkundig ein anderes Ziel: Die Umsetzung eines "Großisraels", eine Einstaatenlösung ohne Palästinenser. An dessen Ende steht notwendigerweise eine ethnische Säuberung, die derzeit zwar euphemistisch, aber offen als "Umsiedlung" diskutiert wird.
Im Krieg gegen den Iran hält Netanjahu seine Ziele absichtlich ambivalent. Die Zerstörung der Atomanlagen oder der Sturz des Ajatollahs? Alles scheint möglich. Wie lange dieser Krieg andauert, wie blutig er noch wird und mit welchem Ergebnis er endet, ist zum heutigen Zeitpunkt unabsehbar und hängt maßgeblich davon ab, ob die USA in den Konflikt militärisch eintreten.
Sicherlich wäre die Welt ohne Ajatollah Ali Chameinei und seine Revolutionsgarden, die ihr Volk mit äußerster Gewalt unterdrücken, ein besserer Ort. Eine Revolution, wie Netanjahu sie vom iranischen Volk einfordert, könnte ein Produkt des Krieges sein. Nur zu welchem Preis? Ohnehin könnte der Krieg auch ganz anders ausgehen: Die Mullahs könnten sich an der Macht halten und zu dem Schluss kommen, dass nur eine nukleare Bewaffnung eine Überlebensgarantie für sie ist. Ein Risiko, das Netanjahu eingeht.
Nicht die gleichen Fehler machen
Israels Vorgehen in Gaza und dem Westjordanland haben die westlichen Verbündeten lange unterstützt oder ignoriert. Zuletzt jedoch regte sich ungewohnt deutliche Kritik. Nicht vom US-Präsidenten, der mit seiner "Trump-Riviera" ganz eigene Ideen für den Gazastreifen hat, aber aus Großbritannien und Frankreich und sogar aus Deutschland. Mit dem Angriff auf den Iran kam die Kritik sogleich wieder zum Erliegen.
Dass alle Augen nun auf den Iran gerichtet sind, kommt Netanjahu gelegen. Denn für die seit Monaten andauernde humanitäre Katastrophe im Gazastreifen ist kein Ende in Sicht. Wer sich derzeit den von einer umstrittenen US-Organisation betriebenen Verteilzentren nähert, droht, erschossen zu werden. Die Menschen kommen trotzdem - aus Hunger.
Im Krieg mit dem Iran sollten Israels Verbündete - bei aller Solidarität und bei aller realistischen Gefahr aus dem Iran - nicht erneut den Fehler begehen, Netanjahus Politik der Härte unkritisch mitzutragen. Neben dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis Israels muss das Völkerrecht immer ein Maßstab bleiben.
Auch Palästinenser haben Sicherheitsbedürfnisse
Sie dürfen Gaza nicht ignorieren und müssen im Zweifel auf Mahnungen auch Maßnahmen folgen lassen. Und die Verbündeten müssen zu der Einsicht gelangen, dass auch dem palästinensischen Volk ein Recht auf Sicherheit zusteht. Beide Bedürfnisse bedingen sich gegenseitig, nicht zuletzt mit Blick auf eine Annäherung der arabischen Staaten im Nahen Osten an Israel. Es ist illusorisch zu glauben, dass die Unterdrückung oder Vertreibung der Palästinenser zu mehr Sicherheit in Israel führt, im Gegenteil. Sie führt bereits jetzt zu mehr Radikalisierung, mehr Hass.
Ein Ausweg aus der Gewalt scheint derzeit kaum vorstellbar: Zu grausam sind die Folgen der Kriege, zu groß das beidseitige Trauma, zu verfahren die Situation aufgrund historischer Fehler beider Seiten. Doch eine einseitige Klärung des Nahost-Konflikts, wie sie Israels derzeitige Regierung vorantreibt, wäre keine Lösung. Die Prämisse muss ein Leben in Freiheit und Würde für jeden Menschen bleiben, zwischen Jordan und Mittelmeer und darüber hinaus.
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