Zwischen den schneebedeckten Gipfeln des Ararat scheint in Armeniens Hauptstadt Jerewan die Zeit stillzustehen. Das Land ist gefangen zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen postsowjetischer Abhängigkeit und westlicher Sehnsucht. Moskau – jahrzehntelang Schutzmacht und strategischer Verbündeter – hat sich weitgehend zurückgezogen. Brüssel wirkt noch fern, der Weg dorthin ist ungewiss. Und dennoch wächst die Sorge: die Angst, vergessen zu werden – oder schlimmer noch, das nächste Ziel von Kremlchef Wladimir Putin zu sein.
Russland galt über Jahrzehnte als Armeniens Schutzmacht – militärisch, wirtschaftlich, politisch. Russische Truppen waren im Land stationiert, wichtige Infrastrukturen unter Moskauer Kontrolle. Doch dieses Vertrauen zerbrach im Herbst 2023, als Aserbaidschan die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach militärisch einnahm und Russland tatenlos zusah.
Dabei war Moskau vertraglich zum Schutz verpflichtet. Armenien ist Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), einer Art postsowjetischer Nato. Doch die russischen Friedenstruppen griffen nicht ein. Für viele Armenier war das ein Schock – und ein politisches Erwachen. Premierminister Nikol Paschinjan sprach später von einem „strategischen Fehler“, sich so eng an Russland gebunden zu haben. Anfang 2024 fror Armenien seine Mitgliedschaft in der OVKS ein – ein symbolischer, aber bedeutsamer Schritt.
Der Westen als Hoffnungsträger
Der außenpolitische Kompass Armeniens zeigt seither in eine neue Richtung. Im März 2025 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Einleitung des EU-Beitrittsprozesses, ein klares Signal der Westorientierung. Ziel ist es, das bestehende Partnerschaftsabkommen (CEPA) mit der EU zu vertiefen – in der Hoffnung auf politische Rückendeckung, wirtschaftliche Entwicklung und langfristige Sicherheit.
Ein deutliches Zeichen der Abkehr von Russland war auch der Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof im März 2024. Wohl wissend, dass dort ein Haftbefehl gegen Wladimir Putin vorliegt. Noch markanter war die Teilnahme an gemeinsamen Militärübungen mit den USA – ein außenpolitischer Tabubruch.
Doch die Westbindung verläuft nicht reibungslos. „Kein europäisches Land ist derzeit bereit, dieses Armenien in die Familie der Europäischen Union aufzunehmen“, warnt Journalist Tatul Hakobyan im Gespräch mit WELT. Es mangele an rechtsstaatlichen Standards, demokratischer Stabilität – und einer durchgängig europäisch orientierten Bevölkerung.
Im Demokratieindex 2024 der Economist Intelligence Unit liegt Armenien mit einem Wert von 5,35 (auf einer Skala von 0 bis 10) im Bereich der „Hybridregime“ – deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Auch der Korruptionswahrnehmungsindex 2024 von Transparency International bescheinigt Armenien nur 47 von 100 Punkten – ein Hinweis auf anhaltende strukturelle Defizite. Der Rechtsstaatlichkeitsindikator der Weltbank kritisiert vor allem politische Einflussnahme, ineffiziente Verfahren und eine schwache Justiz.
Ohne grundlegende Reformen wird der Weg in die Europäische Union kaum zu bewältigen sein. Und dennoch ist die Richtung klar.
Die Angst als Antrieb
In der Bevölkerung hat ein grundlegender Bewusstseinswandel eingesetzt. „Allen wurde klar, dass Russland nicht unser Verbündeter, sondern unser Feind ist“, sagt Hovsep Khurshudyan vom Thinktank Free Citizen. Viele Armenier ziehen ihre eigenen Lehren aus dem Ukraine-Krieg. Die Angst, das nächste Opfer neoimperialer Ambitionen zu werden, sitzt tief und stärkt die gesellschaftliche Unterstützung für eine Westbindung.
Wie Georgien 2008 und die Ukraine 2014 und 2022 schlägt auch Armenien den Weg der strategischen Distanz zum Kreml ein – in vollem Bewusstsein der Risiken. Es ist ein Akt der Selbstbehauptung in einem geopolitischen Vakuum.
Teil der neuen außenpolitischen Strategie ist auch die vorsichtige Normalisierung der Beziehungen zur Türkei und zu Aserbaidschan. Trotz der historisch belasteten Vergangenheit, insbesondere im Hinblick auf den Genozid von 1915, dessen Anerkennung von der türkischen Seite bis heute abgelehnt wird, wurden im Jahr 2022 direkte diplomatische Gespräche mit Ankara aufgenommen.
„Was 1915 passiert ist, war ein Genozid. Die Türken akzeptieren das nicht. Aber vielleicht ist es möglich, voranzukommen, indem wir akzeptieren, dass wir in dieser Frage uneinig sind“, sagt Hakobyan. Für ihn ist klar: Nur über Dialog könne langfristig ein Bewusstseinswandel in der türkischen Gesellschaft stattfinden.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke