Kurz vor dem SPD-Bundesparteitag entbrennt ein Grundsatzstreit über den Umgang mit Russland und die Aufrüstungspläne der Bundesregierung. Das vom Ex-Fraktionsvorsitzenden Mützenich mitgetragene Manifest ist ein Frontalangriff auf Parteichef Klingbeil und Verteidigungsminister Pistorius.

"Neue Parteiführung, in die Regierung gerettet, wir haben verstanden und machen ab jetzt alles besser als zu Ampelzeiten, Glück auf!" Grob zusammengefasst lautete so bislang das Drehbuch der Parteispitze für den SPD-Bundesparteitag am letzten Juniwochenende in Berlin. Die drei Tage sollten den vorläufigen Abschluss bilden für die Aufarbeitung des SPD-Wahldebakels am 23. Februar. Parteichef Lars Klingbeil hat viel Mühe darauf verwendet, dass es so kommt, damit sich seine Partei fortan in Ruhe und in Regierungsverantwortung Schritt für Schritt wieder berappelt. Diese Pläne sind passé: Die SPD hat plötzlich eine denkbar schwierige Debatte an den Hacken: Was soll es heute und künftig eigentlich heißen, eine "Friedenspartei" zu sein?

Losgetreten haben diese Debatte Ralf und Rolf: der langjährige SPD-Außenpolitiker und Linksaußen, Ralf Stegner, sowie der langjährige Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. Beide gehören zu den maßgeblichen Unterzeichnern eines "Manifests" der SPD-Friedenskreise. Und mit den beiden haben drei weitere Bundestagsabgeordnete, einige Landtagsabgeordnete, Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans und sehr, sehr viele ehemalige Größen der Partei den fast vier Seiten langen Text unterschrieben. Dieser ist - in der gewählten Form und Wortwahl - ein Frontalangriff auf den Kurs des Vorsitzenden Klingbeil, des Verteidigungsministers Boris Pistorius sowie der schwarz-roten Bundesregierung insgesamt.

Die Autoren fordern eine "schrittweise Rückkehr zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland". Sie stellen den Kurs der Nato mit höheren Ausgaben für Rüstung und mehr Personal infrage: "Eine Rückkehr zu einer Politik der reinen Abschreckung ohne Rüstungskontrolle und der Hochrüstung würde Europa nicht sicherer machen." Sie fordern eine "Friedenspolitik mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit" mit Russland, statt gegen Russland. Sie listen Versäumnisse und Fehler der Nato-Staaten auf, weshalb "einseitige Schuldzuweisungen" mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine nicht weiterhelfen würden. Sie zweifeln die Gefahr eines baldigen Angriffs Russlands auf die Bundesrepublik an, auch weil die europäischen Nato-Streitkräfte der russischen Armee jetzt schon überlegen seien.

"Wir hätten die Debatte weiterführen müssen"

Faktisch stellt sich das Manifest gegen den von Klingbeil vorangetrieben Parteitagsbeschluss vom Dezember 2023. Mit diesem wollte der damals noch frisch amtierende Vorsitzende die SPD außenpolitisch neu aufstellen und einen Schlussstrich ziehen unter die langjährige, fatale Russland-Nähe deutscher Sozialdemokraten. "Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren", sagte Klingbeil vor eineinhalb Jahren. Doch redete auf dem Parteitag auch der damalige Fraktionschef Mützenich, und der sagte unter großem Applaus, es sei eine "Schande", die frühere Entspannungspolitik "in eine Linie mit dem Angriffskrieg" auf die Ukraine zu stellen.

Sozialdemokraten wie Stegner und Mützenich hatten zwar ein Einsehen, dass sie Putins aggressiven Imperialismus unterschätzt hatten. Den Kurs der Deeskalation durch Nähe zu Moskau, politischen Austausch und wirtschaftliche Verflechtung erachteten sie aber weiter als prinzipiell richtig. In der Person Mützenich war diese SPD-Position während der Ampel-Regierungszeit an prominenter Stelle vertreten. Das war für den ohnehin oft unschlüssig wirkenden Bundeskanzler Olaf Scholz zwar nicht immer angenehm, andererseits organisierte ihm Mützenich eine stets spurende Bundestagsfraktion. Die begehrte auch dann noch nicht gegen Kapitän Scholz auf, als alle Abgeordneten längst an Deck versammelt waren und den nahenden Eisberg namens Bundestagswahl immer näher kommen sahen.

"Die SPD-Führung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie auf diese Schieflage zwischen Beschluss und Stimmung in der Partei nicht reagiert hat", sagt der inzwischen aus der Politik ausgeschiedene SPD-Außenpolitiker Michael Roth zu ntv.de. "Wir hätten die Debatte weiterführen müssen, statt diese abzuheften." Aus dem Parteivorstand kommt am Tag nach der Veröffentlichung des Manifests im Magazin "Stern" wenig. "Die SPD ist in dieser Sache inhaltlich breit aufgestellt", heißt es lediglich aus dem Willy-Brandt-Haus. "Und das ist auch gut, wir sind Volkspartei. Das ist also ein Beitrag zur Debatte." Dass Russland der Aggressor ist und Deutschland die Ukraine unterstütze, stehe hingegen nicht zur Debatte.

Pistorius weist Manifest scharf zurück

Roth selbst war wegen seiner mit Verve vorgetragenen Forderungen nach entschiedenerer Unterstützung der Ukraine irgendwann isoliert, nicht zuletzt dank Mützenich. "Mich verwundert, dass der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende einer von der eigenen Partei getragenen Regierung und dem eigenen Verteidigungsminister - dem beliebtesten Politiker des Landes - derartig ein Bein zu stellen versucht", sagt Roth nun. "Derselbe Fraktionsvorsitzende übrigens, der mir immer wieder vorgeworfen hatte, die Solidarität der Partei mit mir massiv überzustrapazieren." Diesmal könnte eben dieser Vorwurf Mützenich selbst treffen.

"Dieses Papier ist Realitätsverweigerung. Es missbraucht den Wunsch der Menschen in unserem Land nach Ende des furchtbaren Krieges in der Ukraine", heißt es in einer Reaktion von Verteidigungsminister Pistorius scharf. Er vermisse in dem Manifest die Feststellung, dass sich Wladimir Putin Verhandlungen und Deeskalation verweigere, nicht die Ukraine und ihre Unterstützerländer. "Verhandlungen bricht er ab. Und wenn er sie führt, bombardiert er gleichzeitig mit noch größerer Härte und Brutalität die Städte in der Ukraine", so Pistorius.

Mützenichs Nachfolger, Fraktionschef Matthias Miersch, distanziert sich ebenfalls: Das Papier von Stegner und Co. sei ein Debattenbeitrag, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Das ist legitim, auch wenn ich zentrale Grundannahmen ausdrücklich nicht teile." Miersch sagt: "Natürlich bleibt Diplomatie oberstes Gebot. Aber wir müssen auch ehrlich sagen: Viele Gesprächsangebote - auch vom Bundeskanzler Olaf Scholz - sind ausgeschlagen worden. Wladimir Putin lässt bislang nicht mit sich reden."

Stegner verteidigt sich

Erwartungsgemäß kritisch kommentiert der frühere Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Roth, das Papier. "Das sogenannte Manifest ist kein Debattenbeitrag, das ist Geschichtsklitterung", sagt Roth ntv.de. Dass russische Sicherheitsinteressen nicht beachtet worden seien, sei "grober Unsinn". In der ntv-Sendung Frühstart sagte der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sebastian Fiedler, er sei "irritiert, verstört und verärgert" über das Papier. "Da ist sogar von Zusammenarbeit mit Russland die Rede, also mit einem Kriegsverbrecher, der sich darauf vorbereitet, auf weitere Angriffsziele in den Blick zu nehmen."

Stegner verteidigt sich am Nachmittag im Gespräch mit ntv: "Aufrüstung kann nicht die einzige Lösung sein." Man müsse auch mit Regierungen sprechen, die einem überhaupt nicht gefallen, damit der Krieg aufhöre und nicht jeden Tag Menschen sterben. Es gehe nicht darum, die Hände zu Russland auszustrecken. "Dass Putin ein Kriegsverbrecher ist, bestreitet niemand. Sondern es geht darum, was ist eigentlich die Alternative, wenn man nicht mehr redet."

Auch in vergangenen Zeiten habe es mit nicht-demokratischen Regierungen Konfliktbewältigungen, Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen gegeben, um dafür zu sorgen, dass wieder Frieden herrsche in der Welt. "Das wünschen sich ganz viele Menschen, wir auch. Daran ist nichts problematisch, sondern ein sinnvoller Beitrag zur Programmdebatte in der SPD." Fraglich bleibt, warum Stegner denn Weg eines offenen Briefs gewählt hat, für den er vorab Unterstützer hinter den Kulissen gesucht hat. Die Parteiveteranen haben die Debatte eben nicht in Absprache mit der SPD-Führung forciert, sondern erzwingen sie mit der Veröffentlichung eines teils im scharfen Widerspruch zur Parteilinie stehenden Positionspapiers.

Wallstein: Kein Angriff auf SPD-Führung

Rückenwind bekommen Stegner und Mützenich vom SPD-Nachwuchs, insbesondere mit Blick auf die Aufrüstungsdebatte. "Hätten wir 2024 tatsächlich 3,5 Prozent des BIP ausschließlich für traditionelle Verteidigung aufgewendet, wären das über 150 Milliarden Euro gewesen. Das sind von der Realität weitestgehend entkoppelte Mondzahlen", sagt Juso-Chef Philipp Türmer dem "Stern".

Zu den Unterzeichnerinnen gehört auch die Brandenburger SPD-Bundestagsabgeordnete Maja Wallstein, die das Manifest nicht als Angriff auf ihre Parteiführung und den Aufrüstungskurs der Bundesregierung verstanden wissen will. "Es geht mir nicht darum, einen Streit in der SPD vom Zaun zu brechen. Es geht mir darum, offene Debatten darüber zu führen, wie wir langfristig auch wieder zu einer Abrüstungsperspektive kommen", sagt Wallstein ntv.de. "Mir ist klar, dass Friedensgespräche ohne Abschreckung mit dieser russischen Regierung völlig unrealistisch sind. Dennoch darf die Herstellung unserer Verteidigungsfähigkeit nicht in endlose Aufrüstungsspiralen münden, die wir als eine neue Normalität verstehen."

Wallstein gehört zu den relativ vielen ostdeutschen Unterzeichnern des Manifests. Gerade im Osten hat die SPD bei der Bundestagswahl besonders herbe Verluste erlitten. Die militärische Unterstützung der Ukraine sowie der wirtschaftliche Kontaktabbruch zu Russland sind zwischen Schwerin und Erfurt schwerer vermittelbar als im Rest der Republik. Darüber, wie die SPD künftig im Osten wieder Land gewinnen könnte und wie sie künftig Friedens- und Verteidigungspolitik gewinnbringend verknüpfen will, gibt ein vom Bundesvorstand verabschiedeter Leitantrag zum Bundesparteitag keine Auskunft. Vielleicht erklärt auch das die Unterstützung für ein Positionspapier, dessen Sprengkraft die SPD absehbar beschäftigen wird.

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