Am 1. Juni erlebten die polnischen Liberalen ihr blaues Wunder. Der geschätzte, weltgewandte und sprachbegabte Warschauer Stadtpräsident, Ex-Minister und Ex-Europaabgeordnete Rafal Trzaskowski war laut Nachwahlbefragungen eines Instituts polnischer Staatspräsident. Bereits zwei Stunden später zeigten die Hochrechnungen einen minimalen Vorsprung seines nationalkonservativen Gegenspielers Karol Nawrocki an. Und mit 50,9 Prozent der etwa 21 Millionen abgegebenen Stimmen blieb er mit etwa 360.000 zwar nicht groß, aber eindeutig.
Nawrocki wurde für den Wahlkampf von Jaroslaw Kaczynski, dem Strippenzieher der 2023 von der Macht verdrängten populistischen „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hervorgezaubert. Der 42-jährige studierte Historiker mit schillernden Kontakten zur Danziger Halbwelt, der sich gern auch mal mit Fußball-Hooligans prügelte, wird jetzt erst als Staatsoberhaupt seine Erfahrungen mit der großen Politik sammeln.
Bis zuletzt war er als Direktor des Danziger Museums des Zweiten Weltkriegs und danach als Chef des Instituts des Nationalen Gedenkens ein williger und robuster Vollzieher der nationalkonservativen Vergangenheitspolitik der PiS. Nun wird er als Staatspräsident nicht nur Denkmale besuchen und Orden verleihen, sondern auch Verurteilte begnadigen, Richter, Generäle, Professoren und Botschafter ernennen, Premierminister und Minister vereidigen, zu Nato-Gipfeln reisen und Staatsoberhäupter treffen.
Er werde nun mehr über die Zukunft als über die Vergangenheit Polens in Europa und der Welt nachdenken müssen, bemerkte der angesehene Alt-Staatspräsident Polens, Aleksander Kwasniewski. Nawrocki ist ambitioniert und strahlt Machtbewusstsein und Kampfeswillen aus. Wie lernfähig und willens er sein wird, die Umwelt nicht nur als Boxring, sondern auch als ein Geflecht von Vernetzungen jenseits des eigenen „Stammes“ zu begreifen, bleibt abzuwarten.
Gespaltene Gesellschaft
Das beginnt im eigenen Land. Polen ist – wie viele Länder – innerlich gespalten in verschiedene politische Strömungen. Trzaskowski hat zwar die Präsidentschaftswahl zum zweiten Mal verloren, aber zehn Millionen Wähler haben für ihn gestimmt. Und nicht zu vergessen: Auch Willy Brandt, François Mitterrand und Jacques Chirac schafften es bei Bundestags- beziehungsweise den Präsidentschaftswahlen in Frankreich erst beim dritten Mal.
Das weltoffene Polen, das in den Groß- und mittleren Städten seine Hausmacht hat, ist nach wie vor da. Selbst wenn die Mehrheit der Polen konservativ tickt. Doch die unter Ministerpräsident Donald Tusk regierende Koalition von konservativen, liberalen und linken Gruppierungen hat es schwerer als vergleichbare Koalitionen in Deutschland. Ihre inneren Zerwürfnisse sind einer der Gründe für Trzaskowskis Niederlage.
Ein anderer war wohl Tusks Fehlkalkulation, wegen der drohenden Vetos des PiS-treuen Noch-Präsidenten Andrzej Duda mit fundamentalen Gesetzesvorlagen bis zu den Präsidentschaftswahlen zu warten. Das hat der Regierung den Vorwurf der Untätigkeit und nicht eingelösten Versprechen eingebracht. Diesen Fehler wird Tusk jetzt wettmachen müssen.
Die PiS triumphiert und sieht in Nawrockis Sieg eine Rote Karte für die Regierenden. Tusk – selbst ein machtbewusster Fan des Danziger Fußballclubs – kündigte ein Vertrauensvotum, die Verschlankung seiner Regierung und eine Offensive mit bereits vorbereiteten Gesetzesvorlagen an.
Es ist schwer vorstellbar, dass seine Koalition jetzt schon auseinanderfliegt. Die Präsidentschaftswahl kündigt vielmehr tief greifende tektonische Verschiebungen in der polnischen Gesellschaft an, die weit über das seit 20 Jahren die polnische politische Szene bestimmende Duopol Kaczynski–Tusk hinausgehen und infolge eines Generationswechsels das Parteiengefüge erschüttern werden.
Die Koalition hat also immerhin noch zweieinhalb Jahre lang die Chance, den neuen Präsidenten herauszufordern. Dieser wird sich insofern in einer Zwickmühle befinden, als mögliche Blockaden nun wiederum ihm den Schwarzen Peter zuschieben könnte. Nawrocki ist nämlich weniger aufgrund seines Programms gewählt worden, als vielmehr wegen des trotzigen Stinkefingers vieler, meist männlicher, Jungwähler, die 2023 noch für die Oppositionsgruppierungen stimmten.
Sie hatten nichts gegen Trzaskowski, sondern griffen quasi nach dem Baseballschläger, der gerade an der Wand hing, um Tusk eins auszuwischen. „Die polnische Alt-Right (Strömung der radikalen Rechten, d. Red.) profitiert nun vom freundlichen Interesse junger Menschen, so wie es die Anti-PiS-Koalition im Oktober 2023 tat“, brachte es die Chefredaktion der Warschauer „Polityka“ auf den Punkt.
Diese Bonmots überdecken einen düsteren Befund – nämlich dass dem Land zweieinhalb Jahre albtraumhafter Kohabitation bevorstehen. Während Duda noch Anzeichen demokratischen Anstands wahrte, neigt Nawrocki, seinem politischen Lager und seinem kämpferischen Habitus nach zu urteilen, zu harten Konfrontationen – was er am Wahlabend auch prompt ankündigte.
Kommentatoren befürchten, dass sich nichts an dem von der PiS verursachten Chaos in Justiz und den nur provisorisch funktionierenden öffentlichen Medien ändern wird. Es kann erneut zu einem Tauziehen um die Nominierung von Botschaftern und Generälen kommen. Und in der Außenpolitik zu einer ideologischen Konfrontation zwischen der Trump- und der EU-Option.
In der Deutschland-Politik werden wieder historische Forderungen und Vorwürfe auf den Plan kommen. Auch gegenüber der Ukraine zeigte Nawrocki harte Kante, indem er sich von deren angestrebtem EU und Nato-Beitritt distanzierte. Außenpolitisch profilierte sich Nawrocki mit Trump. Er erhielt einen Foto-Termin im Weißen Haus. Sein aus einfachen Rezepten bestehender Wahlkampf ahmte den Stil des US-Präsidenten nach.
Wobei der Vergleich insofern hinkt, als der US-Präsident zwar die niedrigsten sozialen Instinkte ansprach, aber dennoch sein eigenes Projekt anvisierte, während Nawrocki nichts Eigenes angedeutet hat. Dagegen hängt die Frage, ob Tusks zweite Amtszeit (die erste war in den Jahren 2007-2015) mit dem Joe Biden-Intervall zwischen den beiden Trump-Präsidentschaften zu vergleichen sein wird, vor allem von den zu erwartenden tektonischen Verschiebungen in der Gesellschaft ab.
Emanzipation des Ziehsohns
Kaczynski triumphiert, muss sich aber dessen bewusst sein, dass sein Zauberlehrling sich bald emanzipieren könnte. Es wird gemunkelt, dass Nawrocki nach dem Sieg einige seiner Personalempfehlungen für den Präsidentenpalast nicht auf Anhieb akzeptiert hat. Schon im Wahlkampf deuteten sich Konflikte an, etwa als Nawrocki den smarten Chef der libertär-konservativen und europaskeptischen „Konfederacja“ umwarb.
Slawomir Mentzen erhielt im ersten Wahlgang 14,8 Prozent und hatte in der Vergangenheit die PiS scharf kritisiert. Eine nationalkonservative Koalition bedürfte jedoch noch des Seitenwechsels der Bauernpartei, der unter der jetzigen Führung kaum denkbar ist. Sollte es aber dazu kommen, dann wohl nur an der zum Teil diskreditierten Umgebung Kaczynskis vorbei.
Es wird eine neue Politikergeneration hervortreten, konservativ und auf Macht erpicht. Sie müsste sich allerdings erst selbst finden und ein funktionierendes Europa als eine Notwendigkeit für ihre Länder verinnerlichen. All das ist nichts rein Polnisches. Diese Turbulenzen sind überall im Westen, in Amerika, in Europa und darüber hinaus zu beobachten.
Bei aller Ungleichzeitigkeit sind die Herausforderungen identisch: der russische Revisionismus, die partielle amerikanische Abwendung von Europa, die Klimakrise, die Völkerwanderung, die erschwerten Aufstiegschancen für die junge Generation, die Verwahrlosung der Medienwelt, künstliche Intelligenz. Und das damit einhergehende wachsende Verlangen nach einfachen, schnellen Lösungen – nach dem „Baseballschläger“.
Zukunftsangst, vermischt mit rückwärtsgewandter Sehnsucht nach einer vergangenen, vermeintlich „heilen Welt“ der traditionellen Familie, den „Zeiten der Größe“, der eingehegten Heimat. Dieser neue Wettlauf der nationalen Egoismen kann letztendlich nur in eine Sackgasse führen, was hoffentlich auch die europäische Rechte demnächst erkennt.
Adam Krzemiński ist einer der bekanntesten Publizisten Polens und ein ausgewiesener Deutschlandexperte. Dem deutschen Publikum ist er seit seinem Essay „Polen im 20. Jahrhundert“ bekannt.
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