Bis zu 41 russische Kampfjets zerstört - durch Drohnen, die aus drei Kilometern Entfernung gestartet sind. Diesen Angriff der Ukrainer hält auch Oberst Reisner für spektakulär. Wie KI die Drohnen ins Ziel lenkte, und was sie beim Freilichtmuseum Poltawa über russische Bomber gelernt hat, erklärt der Experte ntv.de.
ntv.de: Herr Reisner, schon häufiger hat die ukrainische Armee mit spektakulären Manövern gegen die Russen für Aufsehen gesorgt - die Überraschungsoffensive in Kursk gehört dazu, das Versenken des Kreml-Flaggschiffs Moskwa ebenso. Bloß hatten diese Attacken letztlich kaum Folgen auf der strategischen Ebene, also für den weiteren Kriegsverlauf. Ist das dieses Mal anders?
Markus Reisner: Die strategischen Bomber fliegen ja fast jeden Monat schwere Angriffe auf die Industrie, vor allem aber auch auf die kritische Infrastruktur und viele zivile Ziele. Das Problem für die ukrainischen Verteidiger ist: Diese Bomber lösen die Marschflugkörper aus sicherer Entfernung ab, sie sind kaum selbst zu bekämpfen. Erst die abgeschossenen Marschflugkörper können von der ukrainischen Fliegerabwehr ins Visier genommen werden.
Wenn die Ukrainer ihre Fliegerabwehrsysteme gegen jeden einzelnen Marschflugkörper richten müssen, verbrauchen sie viel Munition, von der sie wenig haben, oder?
Deshalb haben die Ukrainer immer darauf abgezielt, die Bomber selbst schon früher zu treffen. In der Vergangenheit gab es immer wieder Versuche. Aber der Angriff von gestern hat erstmals tatsächlich einen saturierenden Effekt ausgelöst. Er hat also Folgen für die russischen Fähigkeiten, die man wirklich wird messen können.
Noch gibt es nur wenig Satellitenbilder von den attackierten Flugplätzen. Lässt sich trotzdem schon einschätzen, ob die Ukrainer mit ihrer Bilanz von bis zu 41 zerstörten Flugzeugen richtig liegen?
Tatsächlich müssen wir erst warten, bis Bildmaterial von den anderen Plätzen hereinkommt, um diesen Angriff abschließend bewerten zu können. Was wir schon jetzt wissen: Auf ersten Satellitenaufnahmen des Flugplatzes Belaja sieht man eindeutig, dass bis zu vier Langstreckenbomber vom Typ Tupolew TU-95 und bis zu vier Mittelstreckenbomber des Typs TU-22 zerstört wurden. Allein auf diesem Flugplatz also acht strategische Bomber. Wenn nun aber bis zu fünf Flugplätze angegriffen wurden, dann erscheint die ukrainische Schätzung nicht aus der Luft gegriffen. Es könnte 30 Prozent der russischen Langstreckenluftwaffe getroffen haben. Das hätte tatsächlich einen saturierenden Effekt.
Wie errechnen Sie den?
Man nimmt an, dass die Russen vor dem Angriff noch um die 100 verfügbare strategische Bomber hatten. Von denen wird ungefähr die Hälfte einsatzbereit gewesen sein. Wenn von 50 bis 60 einsatzbereiten Bombern eine signifikante Zahl zerstört wurde, hat das unmittelbaren Einfluss. In den nächsten Wochen und Monaten müssen wir genau hinsehen: Lassen die strategischen Luftangriffe auf Infrastruktur und zivile Ziele merklich nach? Vor allem der Einsatz von Marschflugkörpern? Falls das der Fall ist, sieht man das Ergebnis eindeutig. Aber schon allein mit Blick auf die Durchführung dieses Angriffs hat die Ukraine mit dieser Aktion aus meiner Sicht Geschichte geschrieben.
Die erscheint nicht nur aus Laiensicht spektakulär, sondern auch für Sie als Experten?
Ja. Diese Art der Vorausschau mit anderthalb Jahren Planung, die schlussendlich zur Anwendung kommt - das ist mehr als bemerkenswert. Hinzu kommt als Effekt wahrscheinlich eine signifikante Zahl zerstörter Flugzeuge auf der russischen Seite.
Nun wird spekuliert, ob die Ukrainer diesen Zeitpunkt gewählt haben, um vor der nächsten Verhandlungsrunde in Istanbul noch einen Pflock einzuhauen. Wie sehen Sie das?
Die Russen haben in den letzten 14 Tagen auf einigen Plätzen massiv schwere Bomber zusammengezogen. Es kamen auch Transportmaschinen an, die offensichtlich mit Marschflugkörpern beladen waren. Es schien also ein größerer Angriff in Planung zu sein - vermutlich, um wieder enormen Druck auf die Ukraine auszuüben im Hinblick auf die Verhandlungen. Dem sind die Ukrainer mit dieser Operation zuvorgekommen.
Schauen wir kurz darauf, mit wieviel Aufwand diese Operation vorbereitet wurde: anderthalb Jahre Planung. Kleine Drohnen, die aus der Nähe auf die Flugplätze ausgerichtet wurden, weit entfernt von der ukrainischen Grenze auf russischem Boden. Wie ist das gelungen?
Offenbar sind die Drohnen noch in Teilsegmenten über Kasachstan nach Russland gelangt. Es kam zu keiner Kontrolle an der Grenze, wo die Drohnen als solche zu erkennen gewesen wären. Erst hinter der Grenze auf russischem Grund, in einer alten Werkstatt in Tscheljabinsk wurden die Drohnen schließlich zusammengebaut, und das liegt vermutlich noch nicht sehr lange zurück. Man hat sie dann mit Sprengstoff bestückt, in Holzcontainern auf Lastwagen verladen und zeitlich synchronisiert in Position gebracht. Per Fernsteuerung haben die Ukrainer das jeweilige Dach der Container geöffnet und eine Drohne nach der anderen starten lassen.
Auch das ferngesteuert?
Nein, diese Drohnen dürften zu einem hohen Anteil autonom geflogen sein, mittels des russischen GSM-Netzes. Die Ukrainer haben die Koordinaten des Flugplatzes eingegeben, über Funknetz gesteuert ist die Drohne dorthin in der Homing-Funktion geflogen. Das bedeutet, sie fliegt zu einem definierten Ausgangspunkt oder einer bekannten Referenzposition hin oder kehrt von dort zurück. Ihr Ziel - und jetzt kommt das Spannende - hat sie dort am Flugplatz mit Hilfe künstlicher Intelligenz erkannt. Wir wissen, dass auf ukrainischem Territorium, in einem Freilichtmuseum in Poltawa, noch russische TU-95, TU-22 und TU-160 aus alten Zeiten herumstehen. An diesen alten Maschinen hat man die Software trainiert, die dann auf die Drohnen aufgespielt wurde. Aufgrund der Umrisse haben die Drohnen auf den Flugplätzen die russischen Maschinen wiedererkannt und sich dann hinabgestürzt. Das ganze mit Direktübertragung über das GSM-Netz, der ukrainische Geheimdienst hat das also live mitverfolgt.
Lässt sich sagen, welche Größe diese Operation hatte? Wie viele Drohnen waren im Einsatz?
Nach ukrainischen Angaben wurden 150 Drohnen verbaut. Man hat demnach in etwa 30 Stück pro Flugplatz eingesetzt, und die wurden in zwei Containern auf je einem Lastwagen transportiert. Nach dem Entlassen der Drohnen ist offenbar ein Selbstzerstörungsmechanismus aktiviert worden, so dass die Container sich selbst vernichtet haben.
Wie nah standen die LKW an den Flugplätzen?
Auf einigen Bildern der Lastwagen steigen im Hintergrund bereits Rauchsäulen der brennenden Flugzeuge auf. Es dürften maximal zwei oder drei Kilometer Distanz gewesen sein. Einige kursierende Videos zeigen die Angriffe aus verschiedenen Perspektiven plus Bemerkungen der zuschauenden ukrainischen Geheimdienstler. Das Bildmaterial umfasst auch Karten, deren Georeferenzierung ebenfalls dafür spricht, dass die Laster in unmittelbarer Nähe zu den Flugplätzen standen.
Zeigt der Erfolg dieses Angriffs eigentlich mit Blick auf russische Fliegerabwehr eine eklatante Fähigkeitslücke?
Die Russen haben um diese Flugplätze herum Fliegerabwehr positioniert, aber vor allem Systeme mittlerer und hoher Reichweite. Sie haben mit den üblichen ukrainischen Versuchen gerechnet, die Plätze durch Angriffsdrohnen mittlerer Reichweite anzugreifen. Kleinstdrohnen hatte man nicht im Blick. Obwohl es in der Vergangenheit immer wieder Einflüge kleiner Drohnen gegen russische Bomber oder Kommunikationsflugzeuge gab. Daraus hätte man eigentlich bereits lernen müssen. Zu Beginn des vierten Kriegsjahres ist ein derartiger Erfolg der Ukraine eine klare Blamage für die russische Seite.
Sie hat die Fähigkeiten der Ukrainer unterschätzt?
Das zum einen. Zum anderen sitzen in den Führungsebenen noch immer Kommandeure, die nicht verstanden haben, welche Fähigkeiten aufgrund des Einsatzes von Drohnen heute möglich sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Eines der Videos zeigt eine Drohne über mehrere TU-95 Bomber hinwegfliegen, um sich dann auf einen anderen Kampfflieger zu stürzen. Auf den Tragflächen des Flugzeugs liegen Autoreifen, um die Maschine zu schützen, indem man etwas Abstand zwischen die Tragfläche und ein einschlagendes Projektil bringt. Das ist ein sehr halbherziger Versuch, etwas zum Schutz vor Drohneneinschlägen zu unternehmen. Die Russen werden erst jetzt, durch das Ereignis aufwachen und sich anpassen. Die Ukraine hat im permanenten Katz-und-Maus-Spiel dieses Krieges einfach schneller und schlauer agiert.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
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