Nach der monatelangen Blockade von Hilfslieferungen für den Gaza-Streifen sollte ein neuer Mechanismus zur Verteilung von Lebensmitteln helfen. Doch tödliche Tumulte und Zweifel an der Führung der verantwortlichen und von den USA unterstützten Hilfsorganisation Gaza Humanitarian Foundation (GHF) überschatten den Anlauf des neuen Systems – und werfen Fragen auf.
Die ersten beiden Verteilungsstellen der GHF in Tal al-Sultan und im Morag-Korridor bei Rafah hatten am Dienstagmittag den Betrieb aufgenommen. Laut israelischen Angaben wurden bis Mittwoch in der Zwei-Millionen-Enklave 14.550 Lebensmittelpakete verteilt. Jedes Paket kann fünf bis sechs Menschen für dreieinhalb Tage ernähren.
Noch am selben Tag kam es jedoch zu Tumulten bei der Verteilungsstelle in Tal al-Sultan. Laut dem UN-Menschenrechtsbüro kam dabei eine Person ums Leben, 47 weitere wurden verletzt.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu sprach am Dienstagabend von einem „momentanen Kontrollverlust“. Der israelische Oberst Oliver Rafowicz sagte der Nachrichtenagentur AFP, israelische Soldaten hätten die Situation mit Warnschüssen in die Luft wieder unter Kontrolle gebracht.
Im Verlauf der Woche spitzte sich die Lage aber weiter zu. Bei einem Sturm auf ein Lagerhaus des Welternährungsprogramms (WFP) im Zentrum des Gaza-Streifens am Mittwoch kamen nach Angaben der UN-Organisation mindestens zwei Menschen ums Leben, viele weitere seien verletzt worden. „Horden hungriger Menschen“ seien in das Lagerhaus eingedrungen, um an „zur Verteilung bereitgestellte Lebensmittel“ zu gelangen, hieß es in einer Mitteilung.
Nach Angaben von Augenzeugen war es am Haupttor des Lagerhauses zu großem Gedränge gekommen. Einige Menschen hätten Teile der Metallwände eingerissen, um sich Zugang zum Lager zu verschaffen. Auf Videos in den sozialen Medien war zu sehen, wie zahlreiche Menschen unter lautem Geschrei das Lagerhaus stürmen und plündern. Aus medizinischen Kreisen im Al-Aksa-Krankenhaus in Deir al-Balah hieß es, zwei Menschen seien erdrückt, zwei weitere durch Schüsse getötet worden.
Zu den chaotischen Szenen kommen Zweifel an den Aktivitäten der privaten GHF-Stiftung, deren Gründung das US-Außenministerium Anfang Mai verkündet hatte. Laut eigenen Aussagen plant die Gaza Humanitarian Foundation insgesamt acht bis zehn Zentren im Küstenstreifen, von denen jedes 300.000 Menschen versorgen soll.
Die israelische Regierung hatte erklärt, durch das neue Modell zur Verteilung verhindern zu wollen, dass die Hamas Zugriff auf die Hilfsgüter hat. Kritiker werfen der Stiftung jedoch unter anderem vor, humanitäre Hilfe für politische Zwecke zu instrumentalisieren und die Ziele Jerusalems zu unterstützen.
Israel wird vorgeworfen, die Bevölkerung aus dem Gaza-Streifen umsiedeln zu wollen. Vergangene Woche hatte Premierminister Benjamin Netanjahu bekräftigt, dass er den Krieg in Gaza beenden werde, sobald der Vorstoß von US-Präsident Donald Trump zur „Umsiedlung“ der Palästinenser aus dem Küstengebiet umgesetzt sei. „Ein Plan, der so richtig und so revolutionär ist“, sagte Netanjahu auf einer Pressekonferenz in Jerusalem.
In der Schweiz hat die Nichtregierungssituation Trial International inzwischen Klage gegen die GHF eingereicht. „Wir wollen sicherstellen, dass keine Hilfsorganisation oder Pseudo-Hilfsorganisation gegen die Verpflichtungen der Genfer Konventionen verstößt“, sagte Geschäftsführer Philip Grant im Gespräch mit WELT. Es gehe um die „Gefahr der Beteiligung an der Zwangsumsiedlung von Menschen, was einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Genfer Konventionen darstellt. Ein Kriegsverbrechen.“
Zwar ist die GHF-Stiftung in den USA registriert, in der Schweiz gibt es jedoch einen Verein mit demselben Namen. Und diesen hat die NGO von Grant im Visier. „Wir wollen die Intransparenz-Mauer durchbrechen“, sagt er. In der Schweiz laufen nun Vorermittlungen gegen die Stiftung. Es werde geprüft, ob eine rechtliche Untersuchung der Aktivitäten der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) eingeleitet werden müsse, teilte die zuständige Schweizer Aufsichtsbehörde am Sonntag mit.
Das Vorgehen von Trial International könnte allerdings daran scheitern, dass die GHF ihre Niederlassung in der Schweiz schließt. Am Sonntag war der Rücktritt eines der drei Vorstandsmitglieder der Niederlassung in Genf durch Recherchen des Nachrichtenportals „Shomrim“ bekannt geworden. Er war das einzige bekannte Schweizer Vorstandsmitglied. Ohne ihn darf der Verein unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht operieren.
„Es gibt also Bestrebungen, die Genfer Niederlassung zu schließen“, so Grant. „Hat das etwas mit unseren Eingaben zu tun? Ich weiß es nicht. Aber ich denke, die Behörden werden es womöglich schwer haben, jemanden zu finden, der ihre Auskunftsersuchen beantwortet. Die Kommunikation mit der Stiftung ist sehr undurchsichtig.“ Die GHF unterhält weder eine offizielle Website noch ist sie in den sozialen Medien präsent.
Fragwürdige personelle Verstrickungen
Nicht nur die Schweizer Niederlassung, sondern auch die Struktur der amerikanischen Stiftung wirft Fragen auf. Eigentlich soll sie die Verteilung von Hilfslieferungen organisieren, während externe Partner die Operationen im Gaza-Streifen absichern. Eine Recherche der „New York Times“ weist jedoch auf undurchsichtige Verflechtungen der Stiftung mit einem der beiden Sicherheitspartner hin.
Dem Bericht zufolge hatte die Stiftung bis zu diesem Monat denselben Sprecher wie die amerikanische Sicherheitsfirma Safe Reach Solutions. Sowohl die Stiftung als auch die Sicherheitsfirma wurden demnach von demselben Anwalt registriert. Der israelische Oppositionsführer Yair Lapid griff die Kritik am Montag in der Knesset auf und fragte, ob Israel die Stiftung über „Briefkastenfirmen“ intransparent finanziere. Die GHF gibt an, 100 Millionen Dollar von einem „westlichen Staat“ erhalten zu haben, nennt diesen jedoch nicht. Sowohl Premierminister Netanjahu als auch Finanzminister Bezalel Smotrich weisen die Vorwürfe zurück.
Auch der Leiter des GHF habe erkannt, „dass er manipuliert wurde“, sagte Lapid mit Blick auf den Rücktritt von Jake Wood. Der GHF-Geschäftsführer hatte am Sonntag seinen Rückzug aus der Stiftung bekannt gegeben und seinen Schritt mit Zweifeln an der Unabhängigkeit des Vorhabens begründet. „Ich bin stolz auf die Arbeit, die ich angeführt habe, darunter die Entwicklung eines pragmatischen Plans, um hungernde Menschen zu ernähren, Sicherheitsbedenken hinsichtlich der Zweckentfremdung auszuräumen und die Arbeit langjähriger Nichtregierungsorganisationen in Gaza zu ergänzen“, so Wood. Es sei jedoch nicht möglich, „diesen Plan umzusetzen und gleichzeitig strikt an den humanitären Prinzipien von Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit festzuhalten“.
Die israelische Regierung wies die Kritik entschieden zurück. Am Dienstagabend erklärte Premierminister Netanjahu, das Ziel des neuen Mechanismus bestehe darin, Hilfslieferungen vor Plünderungen durch die Hamas zu schützen und „eine sterile Zone im Süden Gazas zu haben, in der die gesamte Bevölkerung sich zu ihrem eigenen Schutz bewegen kann“. Die israelische Armee kündigte am Sonntag an, drei Viertel des Gaza-Streifens unter ihre Kontrolle bringen zu wollen. Aktuell besetzt Israel 40 Prozent der Palästinenser-Enklave.
Trial-Chef Grant sieht dagegen das Risiko einer Militarisierung humanitärer Hilfe. „Dieser spezifische Fall könnte ein Modell dafür sein, wie in Zukunft in anderen Konfliktregionen humanitäre Hilfe geleistet wird“, sagt er. „Es ist ein äußerst riskantes Vorgehen, das nicht einfach unkontrolliert laufen sollte, wie es momentan der Fall ist. Die Gefahr, dass humanitäre Hilfe militarisiert wird, ist groß.“
Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Für WELT schreibt er unter anderem über Syrien und den Nahost-Konflikt.
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