Der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk warnt vor übertriebenen Erwartungen an Bundeskanzler Merz, hofft aber doch auf ein verstärktes deutsches Engagement. Von den Gesprächen mit Russland erwartet er nicht viel: "Mit Blick auf die Waffenruhe wird vieles von den Ergebnissen der russischen Sommerkampagne abhängen", sagt Melnyk im Interview mit ntv.de. "Bis Herbst ist daher damit nicht zu rechnen."
ntv.de: Herr Melnyk, seit Donald Trump wieder im Weißen Haus ist, wird viel über Verhandlungen zur Beendigung des Krieges gesprochen. Die wichtigsten Entscheidungen fallen aber nach wie vor auf dem Schlachtfeld. Jetzt steht die russische Sommeroffensive bevor - vielleicht hat sie auch bereits begonnen. Wie schätzen Sie die militärische Lage ein?
Oleksij Melnyk: In der Tat ist es so, dass Russland schon mit der Sommerkampagne begonnen hat. Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass die russische Offensive bereits seit Oktober 2023 ununterbrochen läuft - gerade in der Region Donezk. Dass sie zwischen Februar und Ende April langsamer als sonst verlief, hat unter anderem wetterbedingte Gründe. Dass sich die Kämpfe nun bei insgesamt trockenerem Wetter intensivieren, ist natürlich. Bisher bleibt festzustellen: Die Russen haben in diesen anderthalb Jahren taktische Fortschritte erzielt, konnten aber unverändert keinen operativen Durchbruch erreichen. Klar setzen sie größere Hoffnungen auf diese Sommerkampagne, nicht zuletzt wegen der sinkenden Unterstützung der Ukraine aus den USA.
In letzter Zeit passiert viel in der nördlichen Region Sumy, die an den russischen Bezirk Kursk grenzt. In Kursk hatten die Ukrainer im letzten August ihre überraschende Offensive gestartet. Gegenwärtig besetzt die russische Armee einige ukrainische Ortschaften in der Grenznähe. Was ist der Sinn hinter dem russischen Vorgehen, wenn das Hauptziel der russischen Offensive die Region Donezk ist?
Es gibt hier zunächst einmal eine politische Dimension. Wladimir Putin hat mehrfach angekündigt, eine sogenannte "Pufferzone" in der Grenznähe erschaffen zu wollen. Dieses Vorhaben hat er in den letzten Tagen wiederholt. Es bezieht sich nicht nur auf Sumy, auch auf andere Regionen wie Charkiw oder Tschernihiw. Offenbar haben russische Verhandler neulich in Istanbul auch mit der Besetzung der Bezirke Charkiw und Sumy gedroht, sollte die Ukraine den inakzeptablen russischen Bedingungen für einen Waffenstillstand nicht zustimmen. Doch der militärische Sinn ist eigentlich ein anderer und ähnelt im Kern der ukrainischen Operation in der russischen Kursk-Region. Was auch immer man von deren Ergebnissen hält, ein Ziel hat sie erreicht: In einer Lage, in der die Situation rund um die strategisch und logistisch wichtige Stadt Pokrowsk immer kritischer wurde, hat sie die Kräfte der Russen woanders gebunden. Insofern handelt es sich beim Vorgehen der Russen im Norden sehr wahrscheinlich um ein Ablenkungsmanöver, damit die Ukrainer einige der Einheiten aus der Oblast Donezk abziehen müssen.
Wie sehen Sie die Chancen, dass die Russen in Donezk einen strategischen Durchbruch erzielen?
Strategisch geht es um die Agglomeration im Norden des Bezirks um die Städte Kostjantyniwka, Slowjansk und Kramatorsk. Das ist seit Oktober 2023 eigentlich unverändert. Aus politischer Perspektive ist es für Russland unschön, dass die Region Donezk, deren "Schutz" einer der Vorwände für den vollumfänglichen Krieg war, fast dreieinhalb Jahre später nicht mal annähernd vollständig besetzt werden konnte. Unter anderem hängt das mit den gut ausgebauten Verteidigungslinien der Ukrainer zusammen. Ein anderer Faktor ist der massive Einsatz von Drohnen, der die Verteidigung etwas leichter macht. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich die Tendenz des langsamen Vorankommens [der Russen] bald verändert. Selbst im modernen Krieg mit Satellitenbildern und Drohnen gibt es aber überraschende Wenden, wie es ja auch bei der ukrainischen Kursk-Operation der Fall war.
Über die Front hinaus eskaliert gerade wieder der Luftkrieg. Am vergangenen Wochenende hat die Ukraine einige der massivsten russischen Angriffe erlebt. Geht es Russland vor allem um die Zermürbung der ukrainischen Zivilbevölkerung?
Ich glaube, das ist tatsächlich das Hauptziel. Russland greift systematisch zivile Ziele an, wobei es natürlich ab und zu Objekte trifft, die militärisch genutzt werden können. Ich denke aber, es geht weniger darum, was genau getroffen wird, sondern vor allem darum, die ukrainische Gesellschaft zu beeinflussen, und damit die Forderung nach einem Frieden um jeden Preis artikuliert wird. Bisher gelingt das nicht.
Wie effektiv sind dagegen die ukrainischen Drohnenangriffe auf Moskau, die zuletzt ebenfalls verstärkt wurden?
Es ist schwierig bis unmöglich, hier eine symmetrische Antwort zu geben, obwohl Wolodymyr Selenskyj dies verspricht. Zum einen verfügt die Ukraine kaum über schwer abfangbare ballistische Raketen. Russland hat hier völlig andere Kapazitäten. Zum anderen ist Russland viel zu groß - und der Großteil des Landes ist nur marginal, wenn überhaupt, vom Krieg betroffen. Es ist aber richtig, dies zu tun, zumal man die unterschiedliche Auswahl der Ziele zwischen der Ukraine und Russland sehr deutlich sieht. Sogenannte Kollateralschäden gibt es immer, doch es ist wirklich deutlich zu sehen, dass die Ukraine viel verantwortungsvoller mit diesem Risiko umgeht. Wie groß der wirtschaftliche Schaden ist, wenn in Moskau stets der Flugverkehr unterbrochen wird, kann ich nicht abschätzen. So etwas betrifft dann eher nicht die Normalbevölkerung, sondern wohlhabende Menschen, denen Putin eigentlich versprochen hat, dass dieser Krieg an ihrem Leben nicht so viel ändern wird. Unwichtig ist das aber auch nicht.
Stichwort ballistische Raketen: Die Ukraine verfügt lediglich über zwei Waffenarten, die diese abfangen können, das US-amerikanische Patriot-System und die italienisch-französischen SAMP/T-Systeme. Für Letztere sind der Ukraine Medienberichten zufolge bereits die Munition ausgegangen. Die Situation mit den US-Lieferungen ist aktuell bekanntlich schwierig.
Solche Systeme machen 30 bis 40 Prozent der ukrainischen Luftverteidigung aus, weil sie Ziele abfangen können, die sonst definitiv durchkommen würden. Deswegen ist essenziell, dass die USA zumindest Raketen für Patriot über die Europäer verkaufen. Die Einstellung der Lieferungen wäre zwar keine völlige Katastrophe, das Ergebnis wäre aber klar: noch viel mehr tote Zivilisten in der Ukraine. Darauf muss meines Erachtens auch ganz klar der Akzent in den Gesprächen mit den Amerikanern gesetzt werden.
Wenn wir die Flugabwehr, wo die USA teils unersetzlich sind, mal außen vor lassen: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass die Europäer es tatsächlich ernst meinen und die Unterstützung der Ukraine hochfahren?
Ich kann leider keine Namen nennen. Ein ukrainischer Militär hat es aber schön beschrieben: "Europa ist aufgewacht, trägt aber noch den Pyjama und trinkt Kaffee." Eine Alternative dazu haben aktuell weder die Ukraine noch die Europäer. Dass das Hochfahren der Militärproduktion nicht unproblematisch verläuft, auch weil man sich zu lange auf die USA verlassen hat, ist aber nicht sonderlich überraschend. Hier wären direkte Investitionen in die inzwischen breit aufgestellte ukrainische Produktion Gold wert. Genau das hat die deutsche Bundesregierung angedeutet.
Bundeskanzler Friedrich Merz will in der Kommunikation einen anderen Weg als sein Vorgänger finden. Es soll mehr strategische Ambiguität geben, über Lieferungen von konkreten Waffensystemen soll im Voraus weniger öffentlich geredet werden. Wie finden Sie das?
Ich habe Angst vor übertriebenen Erwartungen. Aber so gut wie alles, was Kanzler Merz zum russisch-ukrainischen Krieg gesagt hat, trifft direkt ins Ziel. Ich habe es immer gesagt und wiederhole es hier: Wenn wir über Taurus-Marschflugkörper reden, wäre es mir aus militärisch-strategischer Perspektive lieber, wenn Russland über die Lieferungen erst nach dem ersten Einsatz erfährt.
Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland haben bisher so gut wie nichts gebracht. Gibt es aus Ihrer Sicht überhaupt eine Hoffnung auf einen baldigen Waffenstillstand?
Eigentlich ist es nicht unüblich, dass sich militärische Handlungen am Rande von Verhandlungen eher intensiveren als umgekehrt. Dabei geht es darum, eigene Positionen zu verstärken. In diesem Fall gibt es aber Grund zur Annahme, dass Russland Verhandlungen vorerst nur imitieren möchte. Mit Blick auf die Waffenruhe wird vieles von den Ergebnissen der russischen Sommerkampagne abhängen. Bis Herbst ist daher damit nicht zu rechnen.
Sie haben gesagt, dass Drohnen die Verteidigung etwas leichter machen. Sind Drohnen eine der Hoffnungen für die Ukraine für diesen Sommer?
Der ehemalige ukrainische Befehlshaber Walerij Saluschnyj sagt ja stets, dass diese Technologie in diesem Krieg eine derart große Rolle spielt, dass sie auch das Fehlen von anderen Ressourcen zumindest weniger schmerzhaft machen kann. Das stimmt. Was aber ebenfalls stimmt: Was in einem solchen Krieg am Morgen funktioniert, kann am Abend schon nicht mehr funktionieren, weil der Feind eine Gegenmaßnahme gefunden hat. In Sachen Drohnenbekämpfung hat man zum Beispiel lange an Mitteln der elektronischen Kampfführung gearbeitet, um diese effektiver zu stören. Nun gibt es aber Glasfaser-Drohnen, die gegen elektronische Kriegsführung immun sind. Aber ja, die Seite, die sich in der Defensive befindet, hat dadurch einen leichten Vorteil.
Mit Oleksij Melnyk sprach Denis Trubetskoy
Das Interview wurde am Mittwoch geführt, parallel zum Besuch des ukrainischen Präsidenten in Berlin.
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