Der Morgen des Mittwochs, 28. Mai, beginnt wie jeder andere im Hafen von La Restinga auf der kanarischen Insel El Hierro. Das Meer ist ruhig, der kleine Hafen spult seine tägliche Routine ab, und die Rettungsteams bereiten sich auf die Ankunft eines neuen Cayucos vor. Es ist das erste der wackeligen Holzboote, das die Insel nach fast zwei Wochen Pause auf der Atlantikroute erreicht. An Bord mehr als 150 Menschen: Männer, Frauen, Kinder, Babys. Nur eines von vielen Booten, die jedes Jahr den Atlantik überqueren, um Europa zu erreichen.
Doch dieses Mal endet die Ankunft in einer Tragödie. Wie ein Überlebender berichtet, war das Boot am 18. Mai in Conakry, der Hauptstadt von Guinea, einem Land an der westafrikanischen Küste, gestartet. Zehn Tage später wird es vom Radar des kanarischen Küstenüberwachungssystems SIVE erfasst, und die Boote der Seenotrettung werden mobilisiert.
Kaum fünf Meter vom Pier entfernt, während der letzten Anlegemanöver des Seenotrettungsbootes, das das Boot längsseit führe, kentert der Cayuco. Nach Angaben von Zeugen am Pier war eine Mischung aus Überladung, Nervosität und der prekären Struktur des Bootes die Ursache. In Sekunden füllt sich das Hafenbecken mit Schreien, treibenden Körpern, Rettungskräften, die ins Wasser springen. Es herrschen Chaos und Panik.
Sieben Menschen sterben bei dem Unglück: vier Frauen und drei Mädchen. Ein Baby wird noch vermisst. Die Behörden setzen die Suche im Hafen fort. Das kanarische Regionalfernsehen ist live, die Tragödie spielt sich in Echtzeit vor den Augen der Zuschauer ab, begleitet von den entsetzten Schreien der Kamerafrau, die sich zusammen mit dem Reporter 50 Meter vom Boot entfernt befindet.
Die Teams der Seenotrettung, spanische Gendarmerie, örtliche Nationalpolizei, das Rote Kreuz, medizinisches Personal, freiwillige Taucher und Hafenarbeiter greifen sofort ein. Einige springen vom Pier ins Wasser, andere von den Begleitbooten aus, während an Land ein Feldhospital eingerichtet wird, um die Überlebenden zu versorgen. Ein Hubschrauber bringt die Schwerverletzten ins Universitätskrankenhaus von Teneriffa.
Der Präsident der Kanarischen Inseln, Fernando Clavijo Batlle, der sich gerade auf El Hierro aufhält, eilt zum Hafen. Gegenüber den Medien bezeichnet er die Tragödie als „das härteste Gesicht der Migration“.
„Hier sprechen wir von Kindern, Mädchen, Müttern, Menschen, die erschöpft ankommen und eine Zukunft suchen. Und was passiert, ist, dass ihre Leben enden, wenn sie kurz davor sind, festen Boden zu erreichen“, so der Politiker. „Wir sagen es immer wieder: Wir brauchen eine dringende Reaktion Europas. So kann es nicht weitergehen. Diejenigen, die in ihren Büros weit entfernt sitzen, verstehen nicht, was hier passiert. Man muss hier sein, die Babys sehen, die intubierten Mädchen in einem Krankenwagen, um die Dimension des Dramas zu begreifen.“
Nach der Bergung übernehmen forensische Teams die Identifizierung der Leichen der verstorbenen Frauen und Mädchen. Die Untersuchung findet im Institut für Rechtsmedizin von Teneriffa statt, zu dessen Gerichtsbezirk El Hierro gehört. Menschenrechtsorganisationen fordern die Justiz auf, die Vorfälle zu untersuchen und festzustellen, ob es bei der Rettung zu Fahrlässigkeiten kam.
In einer am Mittwochnachmittag veröffentlichten Mitteilung erklärt die Seenotrettung, dass das Boot „aufgrund einer Überladung und einer Bewegung der Insassen im Inneren“ gekentert sei. Die Rettungskräfte hätten „gemäß den Sicherheitsprotokollen“ gehandelt. Aktivisten, die von WELT befragt wurden, halten es für unwahrscheinlich, dass jemand Verantwortung für die Tragödie übernehmen wird.
Bevölkerung und Behörden fühlen sich im Stich gelassen
Die Rettungsteams betonen, dass der kritischste Moment jeder Rettung der finale Kontakt mit dem Boot ist: wenn die Insassen nach Tagen der Überfahrt versuchen, aufzustehen, sich zu bewegen und sich auf das Anlegen vorzubereiten. In diesem Moment gibt die Struktur nach, das Gewicht verlagert sich, und das Boot wird instabil. Selbst wenn das Meer ruhig ist, wie an diesem Mittwoch, bleibt das Risiko extrem hoch.
Die Tragödie ereignete sich nur einen Tag nach dem Besuch einer Delegation von EU-Abgeordneten auf den Kanarischen Inseln, die von einer „angespannten Ruhe“ sprachen und eine Fortsetzung der Migrationsströme in den kommenden Monaten voraussagten. Und sie erinnert an ein weiteres Schiffsunglück, das sich vor acht Monaten ebenfalls auf El Hierro abspielte, als ein Cayuco mit mindestens 84 Personen während der Rettung kenterte und mindestens neun Tote sowie mehrere Vermisste hinterließ.
El Hierro, eine Insel mit nur etwa 11.000 Einwohnern, hat in diesem Jahr bereits mehr als 6000 Migranten aufgenommen, das entspricht mehr als der Hälfte der gesamten Ankünfte auf den Kanarischen Inseln. Laut offiziellen Daten des spanischen Innenministeriums haben bis zum 27. Mai 2025 insgesamt 10.882 Menschen die kanarischen Küsten über das Meer erreicht, was die Atlantikroute zu einer der tödlichsten und komplexesten der Welt macht. Der Druck auf die Rettungsdienste, die Aufnahmeeinrichtungen und die lokalen Ressourcen nimmt weiter zu. Bevölkerung und Behörden fühlen sich im Stich gelassen.
Der Bürgermeister von El Pinar, der Gemeinde, zu der der Hafen von La Restinga gehört, sprach von El Hierros Trauer angesichts der Tragödie und kündigte eine Beerdigung an, „die der Würde dieser Menschen gerecht wird, die hier für immer bleiben“. Auf dem Friedhof des kleinen Ortes wurden 80 neue Gräber angelegt.
Der Bürgermeister weiß, dass dies nicht die letzten Todesopfer in diesem Jahr sein werden. Auf El Hierro spiegeln die Gesichter der Retter, Sanitäter, Freiwilligen und Migranten eine Realität wider, die keinen Aufschub duldet: Der Atlantik fordert weiterhin Leben, und die südliche Grenze Europas bleibt eine Linie der Tragödie.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke