"Was ist nun mit Taurus?", fragt die ukrainische Reporterin den deutschen Kanzler. Seine Antwort bleibt vage im Pressestatement mit Selenskyj, doch an anderer Stelle stimmt Merz einen Ton an, den man zwischen Berlin und Kiew so noch nicht hörte.

Wenn der Kreml sich aufregt, hat man schon mal einiges richtig gemacht. Die Abmachung zwischen Friedrich Merz und Wolodymyr Selenskyj, gemeinsam in Deutschland und in der Ukraine weitreichende Waffen zu produzieren, ist noch keine zwei Stunden in der Welt, da poltert es aus Moskau schon: Provokation! Der Plan zur militärischen Zusammenarbeit sei "unverantwortlich", lässt der Kreml wissen. Der deutsche Kanzler und der ukrainische Präsident können an ihr Projekt den ersten Haken machen.

Ob es aus Sicht der ukrainischen Frontsoldaten weitere Haken verdient, ist am heutigen Tag schwer einzuschätzen. Denn so sinnvoll es aus militärischer Perspektive ist, bei Fragen von Waffenlieferungen und Unterstützung nicht zu detailliert an die Öffentlichkeit zu gehen - die Beurteilung der deutschen Ukrainepolitik erschwert dieses Gebahren.

Merz bleibt vage

Einen "ersten Schritt" sieht Kanzler Friedrich Merz, hin zu einer Zusammenarbeit bei der Produktion weitreichender Waffen zwischen Deutschland und der Ukraine. Doch wer bei weitreichenden Waffen sofort an den Marschflugkörper Taurus denkt, ist ziemlich sicher auf der falschen Fährte.

"Was ist nun mit Taurus?", fragt eine Kollegin der ukrainischen Presse erfrischend direkt den deutschen Kanzler. "Sie haben sich doch so dafür eingesetzt in der Opposition. Wir als ukrainische Presse in Berlin dachten tatsächlich, es sei nur eine Frage der Zeit." Merz bleibt in seiner Antwort vage. Deutschland wolle weitreichende Waffen ermöglichen. "Wir werden über Details nicht öffentlich sprechen, sondern wir werden die Zusammenarbeit intensivieren."

Kurz nach der Pressekonferenz im Kanzleramt gibt das Bundesverteidigungsministerium weitere Informationen zum Waffenprojekt. Es könne "noch in diesem Jahr eine erhebliche Stückzahl von weitreichenden Waffen produziert werden", heißt es aus dem Wehr-Ressort. "Die ersten dieser Systeme können in den ukrainischen Streitkräften bereits in wenigen Wochen zum Einsatz kommen." Sie seien bereits in den ukrainischen Streitkräften eingeführt.

All das klingt ebenfalls nicht nach Taurus, zumal Selenskyj im Exklusiv-Interview mit RTL Direkt sagt, er sei zuversichtlich, dass Deutschland Marschflugkörper vom Typ Taurus an sein Land liefern werde. "Wir arbeiten in diese Richtung." Das klingt nach Gesprächen, nicht nach einer Vereinbarung.

Für den Unionspolitiker Roderich Kiesewetter eine enttäuschende Erkenntnis. "Der Taurus wäre schnell verfügbar und man könnte ihn zu einer politischen Waffe machen", sagt der CDU-Verteidigungsexperte. Wenn etwa Ukrainer am Taurus ausgebildet würden, hätte man ein Druckmittel gegen Putin in der Hand. "Wenn Putin weiter bombardiert, dann liefern wir auch Taurus." Doch daraus, so scheint es, wird erstmal nichts.

Statt Taurus plötzlich Neptun?

Tatsächlich könnte mit der heute genannten Vereinbarung der Marschflugkörper Neptun gemeint sein. Das System ist bereits in der Ukraine im Einsatz und wurde auch dort entwickelt. Bislang schafft die angetriebene Rakete etwa 1000 Kilometer, bevor sie aufs Ziel einschwenkt. Es heißt jedoch, die Ukraine arbeite an einer neuen Version, die noch deutlich weiter fliegen könnte. Während der Neptun dem deutschen Taurus schon jetzt in der Reichweite überlegen ist, reicht er in der Durchschlagskraft im Ziel bei weitem nicht an den Taurus heran. Immerhin soll der Neptun vor drei Jahren eine Rolle gespielt haben, als die Ukrainer die russische "Moskwa" im Schwarzen Meer versenkten. Das technische Wissen im Land ist vorhanden, um den Marschflugkörper noch besser zu machen. Es mangelt allerdings am Geld, vor allem auch für die Massenproduktion.

Falls Deutschland hier unterstützt, könnte die Ukraine den neuen Neptun gezielt und in weit größerer Zahl als bislang gegen russische Infrastruktur einsetzen. Denn gegen die massenhaften Luftangriffe der Russen mit Drohnen, Marschflugkörpern und Gleitbomben gibt es mehrere Abwehrmöglichkeiten: Jedes einzelne Geschoss mit einer Abwehrwaffe zu attackieren ist die eine. Russische Waffendepots anzugreifen sowie Flugplätze, von denen aus etwa Kampfjets mit Gleitbomben oder Marschflugkörpern starten, die andere - deutlich effizientere.

Wollte Deutschland sich bei der Entwicklung und Produktion des Neptun umfassend engagieren, dann würde mit der Aufhebung der Reichweitenbeschränkung plötzlich ein Schuh draus. Bislang hatte man allgemein gerätselt, warum der Bundeskanzler mit reichlich Verve unlängst erklärte, aus Deutschland gebe es keine Reichweitenbeschränkung für Waffen, die die Ukraine gegen Infrastruktur auf russischem Grund einsetzen wolle. Deutschland liefert bislang keine weitreichenden Waffen. Das soll sich offenbar bald ändern. Und manch anderer Faktor hat sich schon verändert.

Zuweilen sagt eine Technikpanne mehr als 1000 Worte. Als Selenskyj im Anschluss an das Kanzler-Statement seine eigene kurze Rede beginnt, suchen nicht nur die Journalistinnen und Journalisten hektisch nach dem richtigen Kanal ihres Übersetzungsgerätes. Auch Friedrich Merz kann seinen Besucher nicht per Knopf im Ohr verstehen. Statt seine Ansprache zu unterbrechen, legt er ihm dezent die rechte Hand auf den Arm. "Just give us a second. The translation is not working." - Sekunde, die Übersetzung funktioniert nicht.

"Oh, you have no translation?", fragt Selenskyj. Immer noch nicht? Und jetzt? Selenskyj plaudert belustigt ins Publikum, während Merz noch immer die Hand auf seinem Arm hat. "German technology", kommentiert der Kanzler trocken, rüttelt an Selenskyjs Arm und gibt ihn schließlich lachend frei. Vertrautheit und Sympathie werden hier nach außen gezeigt, die zwischen dem Ukrainer und Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz zu keinem Zeitpunkt der vergangenen drei Jahre bestanden. Ein Zeichen, das aus Sicht des Ukrainers kaum hoch genug bewertet werden kann. Und womöglich mit dafür sorgt, dass schon bald auch die ukrainischen Frontsoldaten einen ersten kleinen Haken an das Ergebnis des heutigen Tages machen.

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