Es könnte Zufall sein, dass das Gipfeltreffen der nordischen Staaten im Beisein von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) an diesem Montag in der historischen Burg im finnischen Turku stattfindet – oder aber ein Sinnbild für den Ernst der sicherheitspolitischen Lage. Das Ende des 13. Jahrhunderts erbaute Gebäude war 1941 im Krieg zwischen der Sowjetunion und Finnland durch einen Bombenangriff schwer beschädigt worden. Die Burg wurde später restauriert, sie gilt das älteste erhaltene mittelalterliche Gebäude des Landes.
Das Trauma des Krieges aber, in dessen Folge Finnland größere Teile seines Gebiets abtreten musste, blieb über Generationen erhalten – und prägt bis heute die Verteidigungspolitik des Landes. Umso sensibler ist man dort für Nachrichten wie jene, die in den vergangenen Monaten in verschiedenen Medien kursierten, zuletzt in einer Recherche der „New York Times“: Russland baut seine Militärpräsenz an der mehr als 1300 Kilometer langen Grenze zu Finnland sichtbar aus. Experten halten die Aktivitäten für Vorbereitungen für die Zeit nach dem Krieg in der Ukraine, in der sich Russland stärker dem Konflikt mit der Nato widmen könnte.
Vor diesem Hintergrund ist kaum verwunderlich, dass beim Treffen der nordischen Regierungschefs, bei dem Merz als Gast geladen ist, das Thema Sicherheit ganz oben auf der Agenda steht. Auch wenn in Finnland derzeit kaum jemand von einer direkten militärischen Bedrohung durch Russland spricht, will man auf jedes noch so pessimistische Szenario vorbereitet sein. Sowohl auf nationaler Ebene als auch im Rahmen der Nato rüsten die nordischen Länder darum so massiv auf wie wenige andere – und hoffen dabei auch auf Unterstützung aus Berlin.
„Wir beobachten genau, was an unserer eigenen Grenze zu Russland geschieht“, sagte der finnische Generalleutnant Vesa Virtanen kürzlich WELT. „Jetzt sehen wir, dass Russland neue Infrastruktur aufbaut und – sobald es möglich ist – mehr Truppen in die Region bringen wird.“
Der dafür notwendige Ausbau der Infrastruktur ist auf den von der „New York Times“ ausgewerteten Satellitenbildern deutlich zu erkennen. Im etwa 60 Kilometer südlich der finnischen Grenze gelegenen Kamenka wurden etwa 140 dauerhaft aufgebaute Zelte für rund 2000 Soldaten ausgemacht. Unweit von Petrosawodsk östlich der finnischen Grenze sowie in Alakurtti weiter nördlich wurden riesige Lagerhallen für das Militär gebaut, mit Platz für schweres Gerät wie Panzer oder Helikopter.
Zudem werden zuvor aufgegebene militärische Anlagen reaktiviert: auf dem Flugplatz nahe Murmansk, dem Stützpunkt der russischen nuklear bestückten U-Boote, sind nun Kampfhubschrauber stationiert. Der Luftwaffenstützpunkt Olenegorsk beherbergt nun mehr strategische Bomber vom Typ Tu-95, die aus Engels an der Wolga verlegt wurden, wo sie für ukrainische Drohnenangriffe anfällig sind. Die Flugplätze im hohen Norden liegen außerhalb der Reichweite ukrainischer Drohnen und Marschflugkörper.
Moskaus Vorbereitungen auf Krieg mit Nato
Die jüngsten militärischen Aktivitäten Russlands in Grenznähe zu Finnland sind im Kontext einer Reform zu sehen, die sich noch vor der Großinvasion der Ukraine abzeichnete und vor etwa einem Jahr vollzogen wurde. Früher gehörte der Nordwesten Russlands zu einem vereinheitlichten westlichen Militärbezirk – also jener Verwaltungseinheit des Verteidigungsministeriums, die in Friedenszeiten für Ressourcen und Infrastruktur in einer bestimmten Region zuständig ist, und im Kriegsfall die Koordination von Operationen vor Ort übernimmt.
Im Jahr 2024 strukturierte Russland die Bezirke neu: Aus dem westlichen Militärbezirk wurde der Leningrader Militärbezirk herausgelöst, der unter anderem die russischen Regionen Leningrad, Nowgorod sowie die Teilrepublik Karelien und das Gebiet Murmansk umfasst – und somit alle Regionen, die direkt an die Nato-Länder Estland, Lettland, Finnland und Norwegen angrenzen. Dazu kommt die Exklave Kaliningrad mit den Grenzen zu Polen und Litauen.
Der dem estnischen Verteidigungsministerium unterstellte Auslandsgeheimdienst geht in seinem jüngsten Bericht davon aus, dass diese Veränderungen darauf zurückzuführen sind, dass Russland in den nächsten zehn Jahren mit einem militärischen Konflikt mit der Nato rechnet. In jedem Fall zeigt der neue Fokus, dass Moskau der Nato-Nord- und -Ostflanke wieder mehr Bedeutung beimisst. Der Nato-Beitritt Schwedens im vergangenen Jahr und Finnlands 2023 wurde von der russischen Regierung und Militärführung explizit als Grund dafür genannt.
Mit der Aufgabe der Neutralität der beiden Länder seien „Jahrzehnte von guter Nachbarschaft“ mit Russland nun „verloren gegangen“, behauptete Außenminister Sergej Lawrow. Dass diese „gute Nachbarschaft“ gerade im Fall Finnlands das Leben unter ständiger militärischer Bedrohung durch Russland bedeutete, unterschlägt er dabei. Schon jetzt ist das Land regelmäßig von hybriden Angriffen betroffen, die allen Anzeichen nach aus dem Kreml gesteuert werden – und sich in Schäden an wichtigen Datenkabeln in der Ostsee über Cyberattacken bis hin zu an die Grenze geschleusten Migranten äußern, die das Land destabilisieren sollen.
„Frieden durch Stärke“
Finnland reagiert auf die veränderte Bedrohungslage nach dem Prinzip „Frieden durch Stärke“. In Mikkeli im Südosten des Landes, etwa 100 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, entsteht derzeit ein neues Nato-Kommando; zudem soll ein neuer Kampfverband zum Schutz der Nato-Außengrenze in Finnland stationiert und möglicherweise ein zweiter Nato-Drohnenstützpunkt im Norden Lapplands eingerichtet werden. Auch finden regelmäßig gemeinsame Manöver in Finnland statt, zuletzt etwa die dreiwöchige Übung „Mighty Arrow“ nahe der Stadt Tampere. Simuliert wurde ein Angriff auf die Allianz, zu dem Russland laut Nato-Experten theoretisch schon in fünf Jahren bereit sein könnte.
Auch auf nationaler Ebene verstärkt Finnland darum die Verteidigungsfähigkeiten im Eiltempo weiter – ohnehin wurden sie anders als in den meisten anderen Ländern nach dem Kalten Krieg kaum zurückgefahren. Die Verteidigungsausgaben sollen bis 2029 auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen, auch die Rüstungsproduktion wurde deutlich hochgefahren. Zudem kann Finnland dank einer kontinuierlichen Wehrpflicht auf eine große Armee und knapp 900.000 Reservisten zurückgreifen, ebenso auf einen flächendeckend ausgebauten Zivilschutz.
Darauf ausruhen will sich die Regierung allerdings nicht. Berichten zufolge arbeitet Finnland gemeinsam mit der Ukraine an der Entwicklung eigener Drohnen, um die Grenze besser überwachen zu können. Bisweilen greift Helsinki auch auf umstrittene Mittel zurück: Laut EU-Recht verbotene Pushbacks an der Grenze etwa – oder die Beschaffung von Antipersonenminen.
Im April gab Premierminister Petteri Orpo bekannt, dass Finnland aus dem Ottawa-Abkommen austreten werde, das den Gebrauch der als besonders gefährlich geltenden Minen untersagt. Finnland folgt damit dem Beispiel der baltischen Staaten und Polens, weil es die Abschreckung durch Antipersonenminen in der aktuellen Sicherheitslage für notwendig hält.
Auch die anderen nordischen Staaten haben in den vergangenen Jahren enorm aufgerüstet – und erwarten künftig eine stärkere Kooperation mit der neuen Bundesregierung, vor allem im Bereich der maritimen Sicherheit, aber auch bei der Rüstungsindustrie. „Eine starke Führungsrolle in Europa“ wünsche sie sich von Deutschland, sagte Außenministerin Elina Valtonen vor Antritt der neue Bundesregierung WELT AM SONNTAG. „Stärker als bisher, viel stärker.“
Kanzler Merz ist mit demonstrativ entschlossener Rhetorik angetreten, diese Erwartungen zu erfüllen – in Turku hat er Gelegenheit, zu beweisen, dass er seine Worte in Taten umsetzt.
Lara Jäkel ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik. Für WELT berichtet sie unter anderem über Nordeuropa und die USA.
Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.
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