Stellenabbau, stagnierende Investitionen und wenig Innovation: Deutschland braucht eine Politik, die auf Erneuerung setzt, mahnt Arbeitsmarktforscher Enzo Weber im Interview. Das Land habe das Know-how und auch die Fachkräfte dafür.
tagesschau24: Die Transformation, die wir gerade sehen, betrifft jede Branche - vor allem aber die Autosparte. Wir sehen, dass Zulieferer sich neu orientieren. Wie kann so eine Transformation funktionieren?
Enzo Weber: Gerade kam vom Statistischen Bundesamt die Meldung, dass die Industrieproduktion so niedrig ist wie seit Corona nicht mehr. Im Grunde sogar so niedrig, wie seit der Weltfinanzkrise nicht mehr. Das heißt, dass das Wirtschaftswunder endgültig vorbei ist und wir die Industrie neu erfinden müssen. Im Spiel sind verschiedene Transformationsthemen wie die Verkehrswende, die Energiewende und Wasserstoff, aber auch Rüstung.
Rüstung ist ein klassisches Industriethema. Die Berufe, die dort eine Rolle spielen - Maschinenbau, Metall, Produktionsplanung, Fahrzeugtechnik, Werkzeugtechnik und allgemeine Unternehmensjobs - sind alles klassische Industriejobs. Von daher ist da definitiv das Potenzial drin, dass einiges von den Verlusten, die die Industrie jetzt in den Jahren erleidet, von der Rüstung wettgemacht wird. Bei weitem aber nicht alles.

tagesschau24: Die Zulieferer sind diejenigen, die am meisten gelitten haben. Zuletzt durch die Transformation in der Autoindustrie hin zu Elektroautos. Sind sie auch in der Lage, auf den neuen Zug Rüstung aufzuspringen?
Weber: Das ist genau der Punkt. Wir lesen jeden Tag Meldungen, dass große Konzerne massenweise Stellen abbauen wollen. Wenn man aber mal auf die tatsächliche Entwicklung schaut, dann haben die großen Unternehmen bis zuletzt sogar noch aufgebaut. Die kleinen Firmen in der Industrie verlieren jedoch Beschäftigung seit Jahren - im Moment mehr als 10.000 Jobs pro Monat. Das heißt, dass das der entscheidende Hebel ist.
Zulieferer in der Automobilindustrie sind ein klassisches Beispiel. Sie haben den Nachteil, dass sie natürlich unter ihrem Dach nicht mehrere Sparten aufmachen können - anders als Konzerne. Aber sie haben den Vorteil, dass sie in bestimmten technischen Kompetenzen eine sehr gute Spezialisierung haben und gerade die Überlappung zwischen Fahrzeugtechnik und Rüstung sehr groß ist.
Wenn man sich auf den Weg macht und schaut, wie man die eigenen Kompetenzen einbringen und die Fähigkeiten weiterentwickeln kann, gibt es da durchaus Möglichkeiten. Wir müssen aber auch sehen, dass wir uns an der Rüstung nicht gesund stoßen werden. Diese Ausgaben kann man nur einmal tätigen und sie werden auch eine erhebliche Belastung für den deutschen Haushalt werden. Man hätte sie auch anders investieren können. Das Entscheidende ist, dass wir dieses Geld jetzt so einsetzen, dass wir den maximalen Innovationseffekt bekommen.
tagesschau24: Es gibt viele andere Felder, wo sich die deutsche Wirtschaft umstellen muss. Reicht das aus, um damit Arbeitsplätze zu sichern?
Weber: Es reicht vom Potenzial her definitiv. Denn all diese Themen sind für die deutsche Wirtschaft eigentlich kein Science-Fiction, sondern das sind klassische Industriethemen und technische Themen. Ich würde sogar sagen: Deutschland ist für all diese Bereiche so gut aufgestellt, wie kaum ein anderes Land auf der Welt.
Die Investitionen sinken seit Jahren, die Neugründungen in der Industrie liegen mitten in einer Transformation so niedrig wie noch nie und die Angebote von neuen Stellen sind so niedrig wie noch nie. Das heißt, wir sind im Moment in einer Erneuerungskrise. Das Potenzial wäre da, aber wir müssen mit dem Abstiegskampf aufhören. Wir brauchen Erneuerungspolitik: in die Infrastruktur der Zukunft investieren, staatliche Beschaffung für Innovation nutzen, Gründungen fördern und skalieren sowie Wettbewerb nach vorne bringen.
Also eine klare Industriepolitik mit Zielsetzungen, transparenten Prozessen, Evaluation, Kapital und Abbau alter Subventionen. All das heißt Erneuerungspolitik. Das Entwickeln der technisch guten Leute auf dem Arbeitsmarkt hin zu den aufstrebenden Bereichen der Zukunft. Wenn wir das machen, dann ist Deindustrialisierung kein Automatismus in Deutschland.
tagesschau24: Woran hakt es denn? Liegt es tatsächlich einfach nur daran, dass die Politik nicht aus dem Knick kommt?
Weber: Über die letzten Jahre kann man das salopp formuliert vielleicht sogar sagen. Die wirtschaftspolitische Unsicherheit ist immens. Die liegt meilenweit über allem, was wir jemals vorher gesehen haben. Was ist die Transformationslinie in Deutschland? Ist jetzt Windkraft hässlich oder nicht? Wollen wir jetzt E-Mobilität fördern oder nicht?
Lauter solche Fragen stellen sich. Kann man jetzt in die USA investieren oder nicht? In welche Heizungstechnik soll es eigentlich in Zukunft gehen? Momentan kauft ja gar keiner mehr irgendeine Heizung. Diese ganzen Fragen müssen wir klären und dann mit klaren Investitionen hinterlegen. Wenn das gelingt, dann geht es auch. Aber über die vergangenen Jahre sind wir leider ins Hintertreffen geraten.
tagesschau24: Wir haben zwar die Leute, umgeschult werden müssten sie aber trotzdem. Haben wir die Kapazitäten dafür?
Weber: Die Möglichkeiten haben wir dafür und zwar, weil man eigentlich nicht grundsätzlich umschulen muss. Eigentlich haben wir die richtigen Berufe und auch die richtigen Kompetenzen, aber es geht um andere Anwendungsfelder. Die gute Nachricht: nicht umschulen, sondern weiterentwickeln. Dafür müssen wir in der Tat noch nachlegen, für die Transformation brauchen wir die Arbeitsmarktpolitik.
Wir müssen Pakete schnüren, um Interesse für Qualifizierung, Vermittlung, Beratung und vielleicht auch zeitweise für eine Entgeltsicherung zu wecken. Bevor Konzerne massenweise Geld in die Hand nehmen, um die Leute in die Frührente loszuwerden, sollen sie lieber die Hälfte des Geldes in die Hand nehmen, um damit solche Pakete für die Weiterentwicklung in die nächsten Jobs zu finanzieren. Das hilft nämlich allen Seiten am allermeisten.
Das Interview führte Samir Ibrahim, ARD-Finanzredaktion. Das Interview wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redaktionell bearbeitet.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke