140'000 protestierten gestern Sonntag in Belgrad und forderten Rechtsstaatlichkeit und ein Ende der Korruption. Die Demonstrationen dauern seit letztem November an, doch diesmal kam es zu Gewalt: Feuerwerkskörper, Flaschen, Steine flogen, sechs verletzte Polizisten, zwei verletzte Demonstranten und viele Festnahmen. Die Hintergründe dazu kennt Florian Bieber, Professor für Geschichte und Politik Südosteuropas an der Universität Graz.

SRF News: Es heisst, es sei zur Gewalt gekommen wegen Provokateuren, die von der Regierung eingeschleust worden seien. Wie wahrscheinlich ist das?

Florian Bieber: Das halte ich für durchaus vorstellbar. Wir kennen das bereits aus vergangenen Protesten, bei denen die Regierung versucht hat, die Proteste zu einer Eskalation zu führen, um dann eine Rechtfertigung zu haben, Gewalt einzusetzen. Das war beispielsweise bereits bei den letzten grossen Protesten in Belgrad am 15. März der Fall. Damals wurde eine Schallkanone eingesetzt, um Panik zu verursachen.

Die Repression gegen die streikenden Studierenden hat zugenommen. Mehrere sind verhaftet worden. Verliert Präsident Vucic langsam an Rückhalt?

Seit Monaten ist klar, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Proteste unterstützt. Vucic hat nicht mehr denselben Rückhalt in der Bevölkerung wie vor den Protesten. Er setzt zunehmend auf Repression, geht jedoch auch sehr vorsichtig vor. Denn Vucic weiss auch, dass zu viele Verhaftungen die Proteste eher anfeuern würden.

Legende: Die Proteste in Serbien, auf dem Bild Belgrad, halten an und die Fronten zwischen den Demonstrierenden und dem «System Vucic» verhärten sich. (28.6.2025) Reuters / Marko Djurica

Die Demonstrierenden verlangen vorgezogene Neuwahlen. Wie gross ist die Chance, dass sie Gehör finden?

Bisher sehr gering. Der Präsident hat das ganz kategorisch abgelehnt. In den letzten Jahren, seitdem er an der Macht ist, haben nur einmal reguläre Wahlen stattgefunden. Bei allen anderen Wahlen waren es vorgezogene Neuwahlen, die der Präsident selber ausgelöst hat, um seine eigene Macht zu konsolidieren. Jetzt, wo seine Macht infrage gestellt wird, sagte er, dass Neuwahlen nicht notwendig seien. Ein Risiko wird er sicherlich versuchen zu vermeiden.

Wieso macht die EU nicht mehr?
                
Die EU macht einerseits nicht mehr, weil sich viele Mitgliedsstaaten sehr gut mit Vucic arrangiert haben. Es gibt sehr attraktive Wirtschaftsgeschäfte, vom Lithium-Abbau für Deutschland bis zum Verkauf von Kampfflugzeugen durch Frankreich. Sehr viele profitieren eben von Vucics System. Andererseits ist die EU generell auch im Moment mit zu vielen anderen Themen beschäftigt.

Wenn die Demonstrierenden so weiter machen wie bisher, wird ihnen irgendwann die Energie ausgehen. Darauf setzt Vucic gerade jetzt im Sommer.

Präsident Vucic scheint die Bürgerbewegung und die Proteste aussitzen zu wollen. Wird er das schaffen?

Er wird es nur schaffen, wenn die Demonstrierenden bei den jetzigen Mitteln bleiben. Denn wenn sie so weiter machen wie bisher, wird ihnen irgendwann die Energie ausgehen. Darauf setzt Vucic gerade jetzt im Sommer, wo Urlaub oder eben etwas anderes auf der Tagesordnung stehen könnte. Aber eines ist klar: Vucic wird sich nicht so leicht von dieser Protestwelle erholen können, auch wenn er an der Macht bleibt.

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