Für viele reicht der gesetzliche Mindestlohn vorne und hinten nicht. Um wenigstens die höheren Kosten in Ballungszentren auszugleichen, fordern Ökonomen eine regionale Staffelung. Könnte das funktionieren?

Etwas traurig schaut Fabienne Marquardt auf das Schokoladen-Regal im Discounter im hübschen Münchener Wohnviertel Schwabing-West. Zu gerne würde sie ihrer zehnjährigen Tochter ein paar Schokoriegel einer bekannten italienischen Marke kaufen. Doch der Preis ist schon wieder gestiegen. "Schokolade ist so teuer geworden", sagt die 39-Jährige, "alles ist so teuer geworden. Ich muss wirklich rechnen, sonst funktioniert es nicht."

Fabienne Marquardt ist alleinerziehende Mutter. Sie arbeitet als Friseurin. Der Beruf macht ihr Spaß, aber er ist schlecht bezahlt. Zwar sei der Laden immer voll, "denn Friseuren geht eigentlich nie die Kundschaft aus". Doch mehr als den Mindestlohn gibt es nicht.  

Ein Drittel der Bevölkerung lebt von Hand in den Mund

Knapp 2.300 Euro brutto verdient Fabienne pro Monat - wenn sie voll durcharbeitet und Überstunden macht, was nicht immer geht. Denn sie muss sich oft um ihre Tochter kümmern. Davon gehen rund 600 Euro an Steuern und Sozialabgaben runter, bleiben 1.700 Euro. Die Miete für die Zwei-Zimmer-Wohnung verschlingt kalt rund 1.000 Euro, denn München ist ein teures Pflaster.

Hinzu kommen Strom, Wasser und Heizung, Kosten für das ÖPNV-Ticket, Gebühren für den Sportverein und so weiter. Am Ende bleibt nichts übrig. "Wenn ich meine Eltern nicht hätte, die mir hin und wieder etwas zustecken, wüsste ich nicht, wie es gehen soll", sagt Fabienne. Eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns wünscht sie sich daher schon lange.  

Die Friseurin ist kein Einzelfall. Rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung "lebt nur von der Hand in den Mund", sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. "Hier hat die Inflationsentwicklung der vergangenen Jahre tiefe Spuren hinterlassen." Knapp 21 Prozent der Deutschen sind von Armut bedroht, rund 15 Prozent liegen unterhalb der Armutsgrenze, die in Deutschland bei unter 1.400 Euro netto pro Monat für einen Ein-Personen-Haushalt liegt, sagt der Paritätische Wohlfahrtsverband.

Mindestlohn reicht nicht überall

Für viele war es eine Erleichterung als der Mindestlohn im Jahr 2015 mit damals 8,50 Euro eingeführt wurde. Doch angesichts des massiven Inflationsschubs der vergangenen Jahre, in denen sich allein die Lebensmittelpreise in nur fünf Jahren um rund 30 Prozent erhöht haben, reicht auch der aktuelle Mindestlohn von 12,82 Euro bei vielen vorne und hinten nicht aus. Jedenfalls dann nicht, wenn sie in Großstädten wie München, Düsseldorf oder Hamburg leben, wo die Mietkosten in den vergangenen Jahren trotz der Mietpreisbremse geradezu explodiert sind.  

Etwas anders sieht das in ländlichen Gebieten aus. Während Fabienne mit ihren rund 1.700 Euro netto in München kaum über die Runden kommt, könnte sie in abgelegenen Regionen, zum Beispiel in Ostdeutschland, ein besseres Auskommen haben. Hier sind etwa die Mieten deutlich niedriger. Doch ein Umzug kommt für sie schon "aus familiären Gründen" nicht infrage.

Volkswirte fordern regionale Staffelung

Angesichts der ungleichen Behandlung, die ein einheitlicher Mindestlohn mit sich bringt, fordern viele Volkswirte schon seit Langem einen regional gestaffelten gesetzlichen Mindestlohn, wie es ihn zum Beispiel in den USA oder Kanada gibt. In den Vereinigten Staaten bekommt man zum Beispiel im ländlich geprägten Bundesstaat Arizona derzeit 14,70 Dollar pro Arbeitsstunde. In Großstädten wie New York, San Francisco oder Los Angeles sind es hingegen 16,50, also fast zwei Dollar mehr. Den höchsten Satz gibt es im District of Columbia mit 17,50 Dollar - in der Region rund um die Hauptstadt Washington.  

Der große Vorteil regionaler Mindestlöhne für die Bezieher ist, dass sie in ihrer Kaufkraft gleichgestellt werden. Auch für Unternehmen in ländlichen Regionen ist das ein Vorteil. Sie können die Kosten eines einheitlichen Mindestlohns oft weniger stark weitergeben, als Betriebe in den Ballungszentren.

Umgekehrt besteht "in Regionen mit hohen Lebenshaltungskosten ein höherer Spielraum für eine Anhebung des Mindestlohns", erklärt Wolfgang Dauth vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. "Regional gestaffelte Mindestlöhne wären daher nur konsequent", sagt auch Joachim Ragnitz vom ifo-Institut. 

 

Branchen fordern unterschiedliche Mindestlöhne

Aber es gibt auch Nachteile: Ein gestaffelter regionaler Mindestlohn wäre politisch nur schwer durchzusetzen, weil sich vor allem Ostdeutschland abgehängt fühlen könnte. Auch der Bürokratie-Aufwand steigt, und es könnte Probleme bei der Abgrenzung der Regionen geben. Im schlimmsten Fall würden auch Unternehmen in Regionen abwandern, in denen nur ein niedriger Mindestlohn zu zahlen ist, warnt Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.   

Mit dieser Debatte verbunden ist auch die Frage, ob es Sinn macht, unterschiedliche Mindestlöhne je nach Branche zu zahlen. Vor allem dort, wo die Löhne ohnehin niedrig sind oder es wirtschaftlich nicht so rund läuft, haben Unternehmen durchaus Gefallen an dieser Idee - etwa in der Hotellerie, bei Friseuren oder im Reinigungsgewerbe.

Weniger Geld für Saisonarbeiter?

Besonders lautstark fordert diese Differenzierung aber vor allem die Landwirtschaft. Ginge es nach dem Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied, dann würden saisonale Arbeitskräfte nur noch 80 Prozent des Mindestlohns erhalten. Der Grund: Wegen der steigenden Personalkosten seien viele Landwirte hierzulande im europäischen und internationalen Vergleich nicht mehr wettbewerbsfähig.

Während vor allem die Union Gefallen an dem Vorschlag findet, wird er von der SPD strikt abgelehnt. Denn er konterkariert letztendlich die Grundidee des Mindestlohns: eine angemessene Bezahlung für geleistete Arbeit - unabhängig davon, welcher Branche man angehört. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) sieht in einer Herabsetzung des Mindestlohns für bestimmte Branchen daher "sowohl nach nationalem als auch europäischem Recht eine unzulässige Diskriminierung."  

Ausnahmeregeln bereits für Jüngere

Für Rukwieds Forderung gibt es allerdings schon Beispiele aus der Praxis: In bestimmten, klar definierten Fällen dürfen Ausnahmeregelungen beim Mindestlohn angewendet werden, die auch im Mindestlohngesetz festgeschrieben sind. So sind zum Beispiel Auszubildende ausgenommen, ebenso verpflichtende Praktika im Rahmen der schulischen, hochschulischen oder beruflichen Ausbildung und freiwillige Praktika bis zu einer Dauer von drei Monaten. Auch in Großbritannien und den Niederlanden wird der gesetzliche Mindestlohn gestaffelt: hier spielt ebenso das Alter der Bezieher eine Rolle. 

Für die meisten Empfänger des gesetzlichen Mindestlohns ist die Diskussion aber eher müßig. Denn ob mit oder ohne Mindestlohn - es reicht für viele ohnehin vorne und hinten nicht. Auch für Fabienne Marquardt. "Ich bin froh, dass meine Tochter nicht dabei ist", sagt sie im Supermarkt sichtlich erleichtert, aber zugleich auch enttäuscht. Und legt die Schokoriegel wieder zurück ins Regal. 

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke