"Intensiv und auch laut" seien die ersten Wochen im Bundestagsplenum gewesen, sagt der neue Bundestagsvizepräsident Omid Nouripour. Im Interview mit ntv.de weist der Grünen-Politiker die "Opfergeschichte" der AfD zurück, sie werde bei den Räumlichkeiten benachteiligt. Auch pauschal beim Bundestag zu sparen, wie es die neue Bundesregierung plant, lehnt der im Iran geborene Parlamentsveteran ab - und erklärt, warum er im Plenum fast immer Krawatte trägt.
ntv.de: Herr Nouripour, Sie sind zwar nicht der erste Bundestagsvizepräsident mit Migrationshintergrund, aber der erste nicht in Deutschland geborene. Ist dieser Aspekt Ihrer Biografie bedeutsam?
Omid Nouripour: Ich bin jetzt der Repräsentant des Hohen Hauses in Vertretung der Präsidentin. Wo ich herkomme, ist dafür nicht entscheidend. Meine Herkunft ist weder ein Grund, mich zu diskriminieren, noch ist sie ein Privileg. Gleichzeitig hat mich meine Herkunft natürlich geprägt - wie bei jedem von uns.
Sie sind in Teheran geboren und mit 13 Jahren nach Deutschland gekommen. Was bedeutet diese Prägung für Ihr Amt?
Ich habe sowohl Krieg als auch Unfreiheit erlebt, das sitzt mir tief in den Knochen. Ähnliche Erfahrungen haben auch andere in unserem Land machen müssen, etwa Menschen aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Freiheit und Frieden nicht für selbstverständlich zu nehmen, hilft, einen realistischen Blick auf das politisch Notwendige zu bewahren. Gerade in diesen Zeiten, in denen die Freiheit massiv unter Druck steht und der Frieden eben nicht mehr selbstverständlich sicher ist.
Sind Sie mit Ihrer Einwanderungsgeschichte Bundestagsvize geworden, wegen oder trotz der Verfasstheit Deutschlands?
Wegen! In vielen Ländern wäre es undenkbar, in ein so hohes Staatsamt zu kommen, wenn man woanders geboren ist. Ich bin Deutschland und meiner Partei dankbar für all die Chancen, die ich hier bekommen habe. Man muss diese Chancen auch ergreifen und sich erarbeiten. Unser Land ist so viel stärker als manche einem weismachen wollen.
Sie gehören dem Bundestag seit bald 20 Jahren an. Haben Sie in Ihrer neuen Funktion noch einmal einen anderen Blick auf das Haus bekommen?
Ich lerne jeden Tag von den vielen Verwaltungsexperten, die das Parlament am Laufen halten. Vieles nimmt man als Abgeordneter gewöhnlich gar nicht ausreichend wahr. Von der Bundestagspolizei über die Technik, die Reinigung, den Einlass, die Zentralverwaltung, den Wissenschaftlichen Dienst bis zum Plenardienst: Was hier überall mit großem Verantwortungsethos geleistet wird, ist inspirierend. Das meine ich sehr ernst. Die Verwaltung sorgt dafür, dass wir hier in der Herzkammer der Demokratie arbeiten können.
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner will äquivalent zu den Sparbemühungen der Bundesregierung auch im Bundestag die Kosten senken. Zugleich ist der Sanierungsbedarf der Gebäude hoch. Ein Widerspruch?
Ich bin immer dafür, effizienter zu werden. Am Anfang jeder Überlegung sollte eine vernünftige Aufgabenkritik stehen: Was müssen wir für die Arbeit der Abgeordneten zur Verfügung stellen? Und auf was müssten die Abgeordneten verzichten können? Gleiches gilt für die Gebäude: Wir haben einen enormen Grundsanierungsbedarf, der sich lange Zeit aufgestaut hat. Die Kosten dafür sind immens, wir werden richtig Geld in die Hand nehmen müssen. Auch bei der Digitalisierung werden wir einen Zahn zulegen. Das ist alles nicht umsonst zu haben. Dem politischen Ziel der Regierungskoalition, aus jedem Haus mit der Sense acht Prozent reinzuholen, kann ich mich so nicht anschließen.
Eine Gruppe von Abgeordneten muss schon jetzt den Gürtel enger schnallen: Die auf 151 Abgeordnete gewachsene AfD-Bundestagsfraktion beklagt zu enge Sitzungsräume, während sich die nach der Wahl halbierte SPD-Fraktion weiter im großzügigen Otto-Wels-Saal trifft. Verstehen Sie die Empörung der AfD?
Jede Fraktion muss ordentlich arbeiten können. Das ist keine Frage. Die SPD argumentiert, dass sie als Regierungsfraktion zusätzlich regelmäßig Vertreter der Ministerien im Saal zulassen muss. Das Argument ist nachvollziehbar. Wahlergebnisse schaffen an sich keine Rechtsansprüche auf bestimmte Räumlichkeiten.
Die AfD klagt, sie könne in der Enge nicht vernünftig als Fraktion zusammenkommen.
Wir Grünen haben in der vorherigen Legislaturperiode mit 118 Abgeordneten in einem Raum getagt, in dem die FDP zuvor mit 80 Abgeordneten saß. Also, man muss nicht aus jedem Problem eine Opfergeschichte kreieren. Für mich ist aber klar: Sollte eine Fraktion tatsächlich Schwierigkeiten mit einem Raum haben, werde ich als Vorsitzender der Bau- und Raumkommission selbstverständlich Lösungen anbieten.
Bleiben wir bei der AfD: Ihr steht mehr Redezeit zu und die erste Replik auf jede Regierungserklärung. Wie verändert das den Bundestag?
Das Recht zur ersten Replik hatte sie schon 2017. Mein Eindruck nach den ersten Sitzungen ist: Es ist deutlich lauter geworden im Plenum. Mein Job als Teil des Präsidiums ist, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Lautstärke kein Ersatz für Argumente sein kann. Die ersten Debatten waren schon intensiv und auch laut, doch bis auf die Sache mit der Mütze …
Darauf kommen wir noch!
… hatte das Präsidium noch keinen Anlass zu größeren Ordnungsmaßnahmen. Möge es so bleiben.
AfD-Chefin Weidel behauptete in ihrer Replik auf Friedrich Merz, der Bundesverfassungsschutz habe die Einstufung der AfD als "gesichert rechtsextrem" zurücknehmen müssen - obwohl das nicht stimmt. Muss das Präsidium bei Unwahrheiten stärker intervenieren?
Das Bundestagspräsidium ist nicht das Wahrheitsministerium. Wir können keinen Faktencheck machen, schon gar nicht in Echtzeit. Unsere Aufgabe ist, für die Ordnung und Würde des Hauses zu sorgen. Ich habe daher zum Beispiel einen Abgeordneten gerügt, der sinngemäß behauptete, die Bundesregierung arbeite Tag und Nacht an der Aushöhlung der Demokratie. Für Faktenchecks gibt es Medien und andere Formate.
Auch Medien können nicht jede einzelne Rede auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen und müssten - wenn doch - den größten Lügnern die meiste Aufmerksamkeit schenken. Sind der Bundestag und seine Debattenkultur nicht gefährlich leicht zur Selbstinszenierung zu missbrauchen?
Keine Frage: Mit der Zuspitzung in den Sozialen Netzwerken haben sich auch die Reden im Plenum verändert. Und ja, einige missbrauchen auch das Rednerpult als Show-Bühne. Zugleich gilt: Das Rederecht und die Redefreiheit im Hohen Haus sind ein hohes Gut. Das dürfen wir nicht einschränken. Es gibt kein Verbot von Lügen, auch nicht im Bundestag. Da müssen die Abgeordneten in den Parlamentsdebatten selbst aufmerksam sein, dagegenhalten und für Aufklärung sorgen. Ich würde mir ohnehin wünschen, dass unsere Debatten noch aufmerksamer verfolgt werden, im Zweifel: weniger aufs Handy schauen, mehr Zwischenrufe. Sachlich und fair, nicht polemisch oder gar beleidigend.
Sowohl Bundestagspräsidentin Julia Klöckner von der CDU als auch ihre Stellvertreterin Andrea Lindholz von der CSU haben bereits ermahnt und gerügt, wenn Abgeordnete im Zusammenhang mit der AfD von "Faschisten" sprachen. Was für eine Grenze wird da gezogen?
Es gibt Gerichtsurteile, wonach man AfDler als "Nazi" bezeichnen darf. Wir würden das im Plenum dennoch nicht zulassen, weil wir historische Vergleiche zu vermeiden suchen - insbesondere, wenn eine Person gemeint ist und nicht eine politische Ideologie. Wir haben im Präsidium Ermessensspielräume, die immer auch kontextabhängig sind. Ich möchte nicht über Einzelfälle sprechen, wir wollen im Präsidium im Rahmen der Auslegung dieser Spielräume so nah wie möglich beieinanderbleiben. Dass einer oder eine von uns solche Fälle lockerer oder strenger handhabt: Dieser Eindruck sollte nicht entstehen. Da sind wir aber gemeinsam auf einem guten Weg.
Frau Lindholz ermahnte Linken-Chefin Ines Schwerdtner, weil diese gesagt hatte, Unionsfraktionschef Jens Spahn habe "Blödsinn" geredet. So empfindlich ging es doch sonst nicht zu im Bundestag.
Wie gesagt: Ich möchte keine Einzelfälle bewerten. Ich finde es an sich richtig, konsequenter einzuschreiten als vielleicht im vorigen Deutschen Bundestag. Diese Gangart darf aber die lebendige Debatte nicht abwürgen. Also: gern hart in der Sache, aber nie unter der Gürtellinie.
Für den ersten Eklat der neuen Legislatur sorgte auch nicht die AfD, sondern der Linke-Abgeordnete Marcel Bauer. Der wurde des Saales verwiesen, weil er seine Baskenmütze partout nicht absetzen wollte.
Hier gilt das Gleiche wie beim Gesprochenen: Nicht alles, was man außerhalb anziehen kann, ist auch im Plenum erwünscht oder gern gesehen. Dazu gehört die modische Kopfbedeckung. Auch ich habe eine Zeit lang gerne Baskenmütze getragen. Aber das gehört nicht ins Hohe Haus und sieht unsere Hausordnung nicht vor. Als Abgeordneter sollte man umsetzen, was verordnet wird. Der Abgeordnete wurde vor dem Ausschluss übrigens ja nicht nur durchs Präsidium, sondern auch vom eigenen Parlamentarischen Geschäftsführer mehrfach aufgefordert, das Ding abzusetzen.
Die Grünen-Fraktion stimmte dann auch mit SPD und Union gegen Bauers Beschwerde. Ausgerechnet die Partei, die einst mit Strickpullis und Turnschuhen die Kleiderordnungen sprengte!
Das ist genau der Unterschied: Strickpullis und Turnschuhe waren nicht verboten und die Abgeordneten könnten gern auch modische Kopfbedeckungen im Plenum per Mehrheitsbeschluss zulassen: Es geht doch nicht um die vermaledeite Mütze: Vereinbarte Regeln sind einzuhalten - von allen.
Trotzdem stand Ihre Partei früher selbst für den Bruch mit Konventionen: 2014 etwa waren die Grünen daran beteiligt, die Krawattenpflicht für die Schriftführer im Bundestag abzuschaffen.
Wenn ich mich recht entsinne, war ich in 19 Jahren im Bundestag höchstens eine Handvoll Male ohne Krawatte im Plenum zu sehen. Das Plenum ist für mich ein, ja, heiliger Ort. Das muss aber nicht jeder so sehen und andere drücken ihre Würdigung des Plenarsaals vielleicht in anderer Form aus. Aber Sie sagen es ja: Die Regeln sind geändert worden. Und gelten dann in der geänderten Form.
Gemein ist AfD und Linken, dass sie die Debatten erfolgreich in die sozialen Medien tragen und so Menschen erreichen, die sich seit Jahren oder Jahrzehnten keine Diskussion im Bundestag anschauen. Steckt da eine Lehre drin?
Die AfD hat doch nicht wegen der Debatten im Bundestag zugelegt. Die demokratischen Parteien haben es nicht geschafft, ausreichend überzeugende Antworten zu geben. Wir müssen auf unsere eigenen Fehler schauen und konkrete Lösungen für die Probleme im Land liefern. Und ja, die demokratischen Parteien müssen die Demokratie auch online im Netz besser verteidigen.
Sie sprechen sich dafür aus, den Prüfantrag für ein AfD-Verbot beim Bundesverfassungsgericht zu stellen. Sollte der Bundestag die Verfassungsnorm weiter ignorieren, wonach verfassungsfeindliche Parteien verboten gehören: Wäre es dann nicht ehrlicher, das Instrument Parteienverbot gleich ganz aus dem Grundgesetz zu streichen?
Das ist ganz wichtig: Nicht der Deutsche Bundestag, sondern einzig das Bundesverfassungsgericht kann über ein Parteienverbot entscheiden. Ich bin sehr irritiert über diejenigen, die die Debatte politisieren und etwa mit den Wahlergebnissen der AfD argumentieren. Ob eine Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgt oder nicht, hat nichts damit zu tun, ob sie 0,2 Prozent oder 20 Prozent Zustimmung hat. Deshalb ist der Prüfauftrag die einzig folgerichtige Maßnahme aus dem, was das Bundesamt für Verfassungsschutz vorgelegt hat. Ich wundere mich, warum ausgerechnet die Konservativen den Sicherheitsorganen in diesem Land misstrauen.
Mit Omid Nouripour sprach Sebastian Huld
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