Es sind große Schritte, die Großbritannien und die EU in diesen Wochen aufeinander zu gehen. Erst nahm Keir Starmer im Februar als erster britischer Premier seit dem Brexit an einer EU-Ratssitzung in Brüssel teil, nun findet am Montag ein europäisch-britisches Gipfeltreffen auf höchster Ebene in London statt.
Ein gemeinsames Abkommen steht kurz vor dem Abschluss: Großbritannien und die EU wollen unter anderem ihre Handelsbeziehungen stärken, in erster Linie soll es aber um sicherheitspolitische Themen gehen. Das plötzliche Interesse Großbritanniens an einer solchen Zusammenarbeit – gegen die es sich als Mitgliedstaat noch gesträubt hatte – macht deutlich, wie sehr sich die Rolle der EU zuletzt verändert hat.
Traditionell ist die EU kein Verteidigungsbündnis; die Hoheit über militärische Themen liegt bei den Mitgliedstaaten, die übergreifende sicherheitspolitische Zusammenarbeit ist eigentlich in der Nato organisiert. Doch unter dem Eindruck der russischen Invasion der Ukraine und eines erratisch agierenden US-Präsidenten tritt Brüssel zunehmend selbst als sicherheitspolitischer Akteur auf. Erstmals wurde etwa ein EU-Kommissar für Verteidigung ernannt und eine Strategie vorgelegt, wie die europäischen Verteidigungsfähigkeiten bis 2030 aufgebaut werden sollen.
Im März stellte die Kommission die Rearm-Europe-Offensive vor, die insgesamt 800 Milliarden Euro für den Aufbau der europäischen Verteidigungsfähigkeiten und die Unterstützung der Ukraine vorsieht. Der mittlerweile in „Readiness 2030“ umbenannte Plan soll Investitionen in Höhe von 650 Milliarden auf nationaler Ebene über eine Lockerung der EU-Schuldenregeln ermöglichen, die restlichen 150 Milliarden sollen über einen Verteidigungsfonds kommen, der durch den EU-Haushalt abgesichert ist.
Als Nichtmitglied ist Großbritannien – und die britische Rüstungsindustrie – bei den Aufrüstungsplänen bisher außen vor – auch deshalb sucht London so nachdrücklich den Schulterschluss mit der Union. Aber auch in anderen Staaten, in denen die EU bisher eher skeptisch beäugt wurde, hat die Union mit ihrer neuen Entschlossenheit im Hinblick auf Verteidigung an Anziehungskraft gewonnen.
So ist in Norwegen, das sich in Volksabstimmungen bereits zwei Mal gegen einen EU-Beitritt entschieden hatte, gar die Debatte über eine Mitgliedschaft neu entbrannt. Anders als in der Vergangenheit stehen dabei nicht mehr wirtschaftliche Argumente im Vordergrund, sondern verteidigungspolitische. Die Äußerungen von US-Präsident Donald Trump haben Zweifel an der Verlässlichkeit des wichtigsten Bündnispartners aufkommen lassen – und den Gedanken, ob es um die nationale Sicherheit Norwegens als EU-Mitglied nicht besser bestellt wäre.
Auch in Island, dessen Beitrittsanfrage seit 2015 auf Eis liegt, steigt die Zustimmung in der Bevölkerung für eine Mitgliedschaft deutlich. In einer Umfrage aus dem Januar sprachen sich 45 Prozent der Befragten dafür aus – etwa fünf Prozentpunkte mehr als zuvor. Dabei geht es neben wirtschaftlichen Erwägungen auch um Sicherheitsfragen. Als arktischer Staat ist Island direkt von den Machtkämpfen zwischen den USA, China und Russland in der Region betroffen. Trumps Drohungen gegenüber Grönland haben auch in dem kleinen Inselstaat das Vertrauen angekratzt.
Selbst Kanada, traditionell der engste Verbündete der USA, wendet sich nach den Provokationen durch Trump – Stichwort: Zölle, 51. Bundesstaat – demonstrativ der EU zu. Entgegen den Gepflogenheiten ging die erste Auslandsreise des neuen Premiers Mark Carney nicht nach Washington, sondern nach Paris. Kanada sei „das europäischste aller außereuropäischen Länder“, sagte Carney dort. Und auch die kanadische Bevölkerung fühlt sich offenbar zur EU hingezogen: Laut einer Umfrage aus dem Frühjahr würden knapp die Hälfte der Kanadier einen Beitritt befürworten.
Hohe Zustimmung zur EU
Nun mögen solche Überlegungen, vor allem im Fall Kanadas, allenfalls hypothetisch sein. Doch auch ohne Beitritt könnte die EU von einer engeren Zusammenarbeit mit gleich gesinnten Staaten politisch wie wirtschaftlich stark profitieren. Europa kommt dabei zugute, dass es derzeit, wo sich die internationale Ordnung neu zu sortieren scheint, als vergleichsweise verlässlicher und zukunftsfähiger Partner wahrgenommen wird – und das nicht nur im Ausland, sondern auch unter den EU-Bürgern.
In der neuesten Eurobarometer-Umfrage gaben 74 Prozent der Befragten an, ihr Land profitiere unter dem Strich von der EU-Mitgliedschaft – so viele wie nie zuvor seit Beginn der Erhebung 1983. Der meistgenannte Grund: die gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.
Die neue Positionierung als Sicherheitsakteur, so scheint es, hat in der Wahrnehmung viele andere Themen in den Hintergrund rücken lassen. Doch der momentane Höhenflug der EU kann nur vorübergehend darüber hinwegtäuschen, dass eine ganze Reihe an Problemen – von der verkorksten Asylpolitik bis hin zur hinkenden Wettbewerbsfähigkeit – noch immer ungelöst ist und Quertreiber wie Ungarn bisweilen Einigungen verhindern.
Selbst das neue Aushängeschild Sicherheit steht noch auf wackeligen Beinen: Die Finanzierung der Milliardenpläne ist umstritten, auch das Verhältnis zur Nato, die weiter das zentrale Verteidigungsbündnis bleiben soll, muss noch austariert werden.
Ist die erste Euphorie verklungen, wird die EU beweisen müssen, ob sie die Chance, die sich ihr durch den Rückzug der USA als Anker der westlichen Welt eröffnet, tatsächlich nutzen und als glaubwürdiger sicherheitspolitischer Akteur auftreten kann. Ob das gelingt, wird für die Zukunft Europas entscheidend sein – denn trotz aller Bemühungen ist die EU verteidigungspolitische weiter in hohem Maße abhängig von amerikanischer Unterstützung. Eine engere Zusammenarbeit mit Partnern außerhalb der Union käme da gerade recht.
Eine erste Bewährungsprobe wird sich am Montag bieten: Auch zwischen London und Brüssel gibt es entgegen aller Harmoniebeteuerungen noch diverse Konfliktherde. Einige EU-Mitgliedsstaaten wollen etwa den Verteidigungspakt mit Großbritannien an die Neuverhandlung der Fischfangquoten koppeln, zudem gab es im Vorfeld Streit über eine Mobilitätsvereinbarung für Studenten und junge Berufstätige. Ob das geplante Abkommen beschlossen wird, ist keineswegs sicher.
Lara Jäkel ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik. Für WELT berichtet sie unter anderem über Nordeuropa und die USA.
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